Obdachlosigkeit in New York: Eine moralische Verletzung
Housing First sollte den Umgang mit Obdachlosen revolutionieren. Nun gilt das Konzept in seiner Heimat als gescheitert.
A uf dem Gehsteig liegt ein Mann. Oder eine Frau? Ein Mensch jedenfalls. Körper und Gesicht in einem grauen Schlafsack verborgen. Dieser Mensch fällt auf. Selbst denen, die sich in New York gewöhnt haben an die vielen, die in Schlafsäcke oder Decken gehüllt auf den Wegen liegen. Denn er liegt quer zu den Fußgänger*innen, die halb an ihm vorbei und halb über ihn hasten. Es sind sehr viele Fußgänger*innen, das hier ist Lower Manhattan an einem Vormittag, nahe der Wall Street. Sie alle müssen irgendwohin, irgendwo sein. Und dieser Mensch liegt ihnen quer.
Es fällt mir schwer, einfach weiterzugehen. Hier in New York und auch in Berlin, wo ich seit einigen Jahren lebe. Wie fühlt es sich an, zu den Füßen der anderen zu liegen? Wie hält ein Mensch das aus, ohne vor Angst zu vergehen? „Nur mit Drogen“, sagt ein Bekannter, der selbst obdachlos war. „Mit viel Alkohol und anderem, was dich betäubt.“
Obdachlosigkeit gehört zum Bild von New York City. Am einen Ende Karrieren, Bankkonten, Lebensstile und Häuser, die am Himmel kratzen. Und am anderen Ende Menschen, die, als solche kaum mehr erkannt, am Boden leben; von dem, was ihnen als Almosen zugebilligt wird. Vielleicht sind sich die Extreme nirgends so nah wie in Manhattan. Als ob sich das obere und das untere Ende des American Dream hier berühren.
An diesem Ort wurde Anfang der Neunziger ein Konzept geboren, das die Obdachlosenhilfe auf den Kopf – oder besser gesagt zurück auf die Füße – stellt. Housing First: Zuerst ein Zuhause. Ein revolutionäres Konzept, das die Bedürfnisse und Möglichkeiten obdachloser, psychisch erkrankter und drogensüchtiger Menschen in den Fokus stellt.
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Eine chronische Krankheit der Metropolen
Doch ausgerechnet in New York, wo Housing First herkommt, gibt es das Projekt jetzt nicht mehr. In Lower Manhattan und anderswo lässt es sich kaum einen Block gehen, ohne einem Menschen zu begegnen, der ganz offensichtlich kein Zuhause hat. Nahe dem Empire State Building liegen sie in den frühen Morgenstunden zu Dutzenden auf den Gehwegen. „Unsheltered“ nennen das die Amerikaner*innen. Oder „rough sleeping“ – raues Schlafen.
Obdachlosigkeit ist die chronische Krankheit dieser und fast aller Metropolen. Als Redakteurin für Soziales habe ich schon einiges darüber geschrieben, vor allem über die Zustände in Berlin. Auch weil es mir schwerfällt, vorbeizugehen.
In Berlin, in Deutschland, in halb Europa gilt Housing First inzwischen als zentral, um Obdachlosigkeit zu überwinden. Dies bis 2030 in aller Ernsthaftigkeit zu versuchen, haben die Länder der Europäischen Union einander 2021 in der Lissabonner Erklärung versprochen. Vielleicht, so dachte ich, lässt sich am Ort des Beginns und des Scheiterns und mit den Leuten, mit denen alles anfing, ergründen, wie Housing First wirklich gelingen kann und ob es der Schlüssel zur Genesung ist.
Sam Tsemberis ist der erste, mit dem ich spreche. Vor einigen Monaten hat das Time Magazine den griechisch-kanadischen Psychologen zu einem der 100 einflussreichsten Menschen der Welt gekürt. Sam Tsemberis ist der Erfinder von Housing First.
Diese Recherche wurde durch das Daniel-Haufler-Stipendium der taz Panter Stiftung ermöglicht.
„Es geht nicht nur um die Obdachlosen, es geht um uns.“ Das ist einer der ersten Sätze, die Tsemberis zu mir sagt. In den Achtzigern arbeitete er in der Psychiatrie des New Yorker Bellevue Hospitals, einem der größten Krankenhäuser der USA, mit Menschen, die als schwer krank gelten. Er wohnte nur ein paar Blöcke von der Klinik in Midtown Manhattan entfernt; auf dem Weg traf er seine Patient*innen in zunehmender Verwahrlosung auf der Straße wieder. „Sie trugen zum Teil noch ihren blauen Krankenhauspyjama, absolut verstörend“, sagt Tsemberis. Er verließ das Krankenhaus, um mit obdachlosen Menschen zu arbeiten. In einem Van besuchten er und zwei Kollegen die Menschen auf der Straße.
Was brauchen Menschen auf der Straße?
Viel anzubieten hatten sie nicht: Die Psychiatrie oder eine der Massenunterkünfte für Obdachlose, mit hunderten von Betten. Kaum auszuhalten für einen stabilen Menschen, unvorstellbar für jene mit Ängsten, Panikattacken, Wahnvorstellungen. Ich muss an Berlin denken, als Tsemberis das erzählt. Auch hier harren viele obdachlose Menschen noch in der bittersten Kälte aus: Bloß nicht in die Notunterkunft.
Die bisherigen Ansätze seien einfach nicht gut gewesen, sagt Tsemberis. Herumzulaufen, mit den Leuten zu reden und zu entscheiden, welche Hilfen gut für sie sind. In einem Hilfesystem, in dem Obdachlose sich erst beweisen mussten: Therapie machen, Medikamente regelmäßig nehmen, „clean werden“, dann vielleicht irgendwann eine Wohnung. „Wir mussten anders arbeiten, also haben wir die Leute einfach gefragt, was sie brauchen.“
Das klingt so unerhört simpel. Ist es nicht das, was Sozialarbeiter*innen immer tun? Und ist es nicht so, dass manche Menschen, gerade die psychisch erkrankten, diese Frage nicht mehr beantworten können? Tsemberis sagt: „Wenn man obdachlose Menschen ernsthaft fragt, was sie brauchen, dann kommt eine Antwort fast immer zuerst“ – egal, ob diese Menschen Stimmen hören, suchtkrank sind oder völlig verwahrlost aussehen. „Eine Wohnung.“ Housing First. So simpel ist das. Dieses Bedürfnis erfüllte nur niemand.
In einem Tagestreff in Midtown Manhattan, in dem obdachlose Menschen sich aufwärmen, etwas essen, ihre Wäsche waschen konnten, begann 1992 die Arbeit der Organisation Pathways to Housing, die Geburtsstunde von Housing First. Die Menschen brauchten Wohnungen, und Sam Tsemberis und sein Team waren gewillt, sie ihnen zu beschaffen. So wie zuvor eine Decke oder eine warme Mahlzeit.
Nun glaube bitte keine*r, man drückt einem drogenabhängigen Menschen, der seit Jahren auf der Straße lebt, einfach einen Schlüssel in die Hand. Diese Mieter*innen sind zum Teil schwierig, unbeliebt bei Vermieter*innen. Dass überhaupt so viele von ihnen auf der Straße gelandet sind, liegt daran, dass im aufstrebenden New York der Siebziger und Achtziger die lausigen, heruntergekommenen Appartements verschwanden, die für wenig Geld jede*n aufnahmen. Die Vermieter*innen fanden schlicht lukrativere Wege der Vermarktung – und das würde sich in den kommenden Jahrzehnten nie mehr ändern, nur verschärfen.
Eine einfache Rechnung
Parallel hatte die Reagan-Regierung in den Achtzigern dem Bau von Sozialwohnungen eine radikale Absage erteilt und Bundesmittel gestrichen. Und die Psychiatrien, die noch in den Sechziger Jahren Menschen mit psychischen Erkrankungen dauerverwahrten, reformierten sich dank der Antipsychiatriebewegung. Ohne Lebensort übrig blieben allerdings die, die kein soziales Netz aus Familie und Freund*innen auffing.
‚Housing First‘ sei nicht ‚Housing Only‘, sagt Tsemberis. Die Menschen, die mit Pathways to Housing eine Wohnung fanden, wurden auf unbestimmte Zeit begleitet. Das Geld für die Miete und für die sozialpsychologische Betreuung kam von der Stadt. Tsemberis macht eine einfache Rechnung auf, die auch in Europa gern bemüht wird: Ein Platz in einer Psychiatrie kostet rund 300.000 US-Dollar im Jahr und bringt meist keine nachhaltige Veränderung. „Für das gleiche Geld können zehn Menschen mit Unterstützung in ihrer eigenen Wohnung leben“, sagt Tsemberis. Das ließ sich von der kommunalen bis zur nationalen Ebene sowohl demokratischen als auch republikanischen Politiker*innen verkaufen.
New York, diese Stadt mit tausenden obdachlosen Menschen – wie viele davon kann Housing First in Wohnungen bringen? Es sei nie um Zahlen gegangen, sagt Tsemberis. Jedenfalls nicht für ihn. „Ich wollte wissen, ob und wie der Ansatz funktioniert.“ Von Anfang an wurde das Projekt wissenschaftlich begleitet. Eine der langjährigen Forscher*innen ist Ana Stefančić von der Columbia University.
Es sei fast ironisch, sagt Stefančić. Eine Art Missverständnis. Wenn es heute um Housing First gehe, dann vor allem um die Wohnungen und um die Beendigung von Obdachlosigkeit. Dabei sei das doch der einfachste Teil. „Wenn wir Obdachlosigkeit beenden wollten, dann könnten wir das einfach tun“, sagt Stefančić. Eine Frage von politischen Entscheidungen, eine reine Abwägung in wohlhabenden Gesellschaften. Ich muss an Finnland denken. Bis 2027 sollen dort alle Langzeitwohnungslosen mit Wohnungen versorgt sein, die Finnen sind schon jetzt sehr nah dran. Auch sie nennen das Housing First und sind damit so erfolgreich, dass manche denken, da käme das Konzept her.
Die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben
Die Finnen haben über alle politischen Lager hinweg entschieden, keine Wohnungslosigkeit mehr hinzunehmen. Sie schließen die Wohnungslosenunterkünfte und bieten den Menschen stattdessen Appartements an. Absolut bemerkenswert ist das. Anders als im New Yorker Modell ist aber der Ausgangspunkt die Versorgung Wohnungsloser mit Wohnungen, nicht die sozialpsychologische Begleitung obdachloser Menschen. Gerade mit der Gruppe der psychisch schwer Erkrankten haben sie in Finnland ihre Probleme.
In New York und in ihrer Forschung, erzählt Stefančić, sei es immer darum gegangen, ob und wie Housing First für diese Menschen die Chancen auf ein erfüllteres Leben erhöhen kann. Die fehlende Wohnung ist das Offensichtlichste, was dem im Wege steht. Aber bei weitem nicht das einzige. 242 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und Drogenkonsum hatten in den ersten fünf Jahren über Pathways to Housing eine Wohnung in New York gefunden.
Über 80 Prozent lebten auch noch ein Jahr später darin. Das Projekt war deutlich erfolgreicher als vergleichbare Initiativen. Es war der Beweis, der inzwischen noch viele Male erbracht wurde: Dass die Menschen, denen man es am wenigsten zutraut, an denen wir auf der Straße vorbeigehen und allzu selten in deren Gesichter schauen, die meist schon als Kinder nicht viel anderes als Vernachlässigung erlebt haben, dass es für diese Menschen mit der richtigen Unterstützung Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben gibt.
Warum das so wichtig ist – für uns genauso wie für diese Menschen – ergründe ich mit Kim Hopper. Hopper ist Anthropologe, an der Columbia University forscht und lehrt er zu dem, was den Menschen zum Menschen macht. Mit ihm, so hörte ich immer wieder bei meiner Recherche, müsse ich unbedingt sprechen, wenn es um Obdachlosigkeit in New York geht.
„Weil ich einer der Dinosaurier bin“, sagt Hopper. Bereits Ende der Siebziger, noch als Student, war er in das legendäre Gerichtsverfahren verwickelt, das 1981 zu New Yorks „right to shelter“ – dem Recht obdachloser Menschen auf Unterbringung – führte. Dieses Recht wurde zwar kürzlich für erwachsene Migrant*innen beschränkt, aber es bleibt bis heute bemerkenswert in einem Land, in dem anderswo ganze Zeltstädte voller obdachloser Menschen existieren.
Das bittere Ende des American Dream
„Aber schon zehn Jahre später waren wir frustriert“, sagt Hopper. Zwar gab es in der ganzen Stadt Notunterkünfte, aber ein „shelter“ ist kein Zuhause. Es blieb ein Verharren in Notlösungen, die aus Obdachlosigkeit nur Wohnungslosigkeit machten. Und mit der eben die Menschen, für die Notunterkünfte nicht in Frage kamen, auf den Straßen verwahrlosten. Als junger Mann, frisch in New York, erzählt Hopper, sei er erst entsetzt gewesen über die Zustände und dann auch abgestumpft. Vielleicht ist Obdachlosigkeit doch ein unvermeidbares Großstadtphänomen? Als Wissenschaftler, der mit obdachlosen Menschen und psychisch Erkrankten arbeitet, habe er dann begriffen, dass der Fehler nicht bei diesen Menschen liegt, sondern in deren Behandlung.
Bis heute denken viele anders, und vielleicht ist das der wahre Grund, warum wir Obdachlosigkeit überhaupt hinnehmen können. In den Vereinigten Staaten ist es eben das bittere Ende des American Dream. Diese Menschen hätten es einfach nicht geschafft, sich nicht genug angestrengt, seien faul oder schwach. Auch in Berlin habe ich ähnliche Argumente gehört, die uns die Verantwortung vom Leib halten. Als hätten alle die gleichen Möglichkeiten, es „zu schaffen“. Menschen, die in Heimen aufwuchsen, Missbrauch erfahren haben, als junge Erwachsene trotz aller Traumatisierung sich selbst überlassen sind.
Nicht alle werden psychisch krank. Und nicht alle landen auf der Straße. Aber es sind fast immer die mit den wenigsten Chancen von Kindheit an. Die, für die die Gesellschaft schon in frühen Jahren nicht die passende Hilfe gefunden hat. Die aus unaushaltbaren Zuständen fliehen, um irgendwie zu überleben. Obdachlosigkeit ist wie eine Störungsmeldung, sagt Hopper. Eine verlässliche Anzeige für soziale Probleme in einer Gesellschaft.
„Jedes Mal, wenn wir an einem Menschen, der ganz offensichtlich Hilfe braucht, vorbeigehen, ohne zu helfen, passiert etwas in unserem Körper“, sagt Hopper. Eine schmerzvolle, unbewusste Botschaft, selbst wenn wir Obdachlosigkeit ablehnen. Eine „moralische Verletzung“, nennt es Hopper. Als in den Siebzigern und Achtzigern in New York Obdachlosigkeit immer sichtbarer wurde, hätten die Menschen noch aufgestöhnt – unmöglich könne eine zivilisierte Gesellschaft auf diese Weise leben! „Und 40 Jahre später leben wir noch immer damit“, sagt Hopper. Wie das sein kann und welchen Preis wir dafür zahlen, diskutiert der Anthropologe in einem seiner nächsten Seminare.
Keine bezahlbaren Wohnungen
Housing First in New York verfolgte erfolgreich eine andere, eine menschliche Perspektive. Es hatte seine Blütezeit zwischen Mitte der Neunziger und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Dann begannen die Probleme. Er habe die Organisation in die Hände der falschen Leute gelegt, sagt Tsemberis. Die bezahlten die Mieten nicht rechtzeitig, die Vermieter*innen kündigten die Verträge auf, die staatlichen Zuschüsse blieben aus. 2015 meldete Pathways to Housing New York Insolvenz an. Der Organisation sei es nicht gelungen, das New Yorker System zu ändern, sagt Tsemberis. Heute gibt es zwar noch Projekte, die mit Housing First werben. Aber das ganze System der Obdachlosenhilfe müsse sich an die Idee von Housing First anpassen, um nachhaltig zu sein, sagt auch Wissenschaftlerin Stefančić. „Das ist in New York nie passiert.“
Kim Hopper sagt, das Modell könne nur mit vier Erfolgsfaktoren überleben: Eine verlässliche sozialpsychologische Betreuung für die Klient*innen, zuverlässige Mietzahlungen, Rückendeckung für die Mieter*innen bei den Vermieter*innen. Und vor allem: Ausreichend kleine und bezahlbare Wohnungen. Das, sagt Hopper, sei der wesentliche Punkt, an dem New York und andere US-amerikanische Städte inzwischen scheiterten. „Angesichts des allgemeinen Zustands des Wohnungswesens in den USA könnte die große Zeit für Housing First hier vorbei sein.“ Selbst wenn noch ein paar Wohnungen für die Ärmsten der Armen aus dem System gewrungen werden: Ohne tiefgreifende Veränderungen im Wohnungswesen, sagt Hopper, würden immer wieder Obdachlose nachkommen.
Immerhin hat das Konzept Housing First schon früh Ableger, den ersten in der Hauptstadt Washington D.C., wo Pathways to Housing bis heute existiert und seit 2004 rund 900 Menschen auf ihrem Weg aus der Obdachlosigkeit unterstützt. Im Laden einer Fastfoodkette treffe ich hier auf den 46-jährigen Jamal. In der blauen Pathways-Jacke sitzt er an einem der hinteren Tische und wartet. Mit rund 20 Obdachlosen kommt er so jede Woche ins Gespräch. Sie wissen, dass er hier sein wird.
Jamal lebte vor 12 Jahren noch selbst auf der Straße. „Drogen und all das Zeugs“, sagt er. Jamal hat einen langen Weg hinter sich, nichts davon war einfach. Aber er hat Unterstützung gehabt. Seit drei Jahren arbeitet er für Pathways. Auch das halte ihn aufrecht, sagt er. Immer wieder besucht Jamal Menschen in ihrem Zuhause nach Jahren der Obdachlosigkeit. „Schau, das ist mein Bett, das ist meine Dusche“, sagen sie dann.
Wie sieht es in Deutschland aus?
Nach Städten in den USA wurde das Konzept nach Kanada und Europa exportiert. Gründer Tsemberis reist seitdem durch die ganze Welt, inzwischen bis nach Brasilien, für Gespräche und Vorträge. Das Scheitern in New York sei bis heute traumatisch für ihn. Dass die Idee, die hier geboren wurde, inzwischen Kinder in der ganzen Welt habe, in dutzenden Städten Hoffnung schüre, tröste dagegen. Für obdachlose Menschen in den USA aber sieht auch Tsemberis keine guten Zeiten: „Unter Trump werden wir nur ‚Housing Last‘ bekommen“.
Einen Vorgeschmack lieferte vor wenigen Monaten ein Urteil des Supreme Court: Die (dank Donald Trumps erster Amtszeit als US-Präsident) konservative Mehrheit der obersten Richter*innen entschied, dass obdachlose Menschen für das Campieren auf öffentlichen Plätzen bestraft werden dürfen.
Aber sind die Zeiten für Großstädte in Deutschland und Europa bessere? Kann Housing First hier gelingen und was bedeutet das für das hehre Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden?
Housing First ist ein Konzept für ein lebenswertes Leben, nicht nur für die Versorgung mit Wohnungen. Es ist in der Lage, Lebensperspektiven für die zu eröffnen, die keine mehr zu haben scheinen. Das zeigen die Erfahrungen aus New York. Housing First kann scheitern, wenn es nicht richtig ausgestattet wird, wenn Wohnen und sozialpsychologische Begleitung nicht von Beginn an zusammen gedacht werden, wenn Mieten so teuer werden, dass sie von staatlichen Zuschüssen nicht mehr bezahlbar sind und wenn die Grundidee, dass Empfänger*innen von Hilfen selbst am besten wissen, was sie brauchen, missachtet wird. Auch das zeigen die Erfahrungen aus New York.
Ich denke an Berlin mit den steigenden Mieten und der immer wieder verhandelten Frage, wie viel Mietenregulierung es geben darf, wie viel in den sozialen und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau investiert werden soll. Auch hier verzweifeln Sozialarbeiter*innen daran, dass sie einer wachsenden Zahl psychisch kranker Menschen auf der Straße kaum etwas anzubieten haben. Housing-First-Pionierprojekte haben zwar seit 2018 rund 230 obdachlosen Menschen ein Zuhause ermöglicht. Aber für die „schwierigsten“ Fälle, die es am meisten nötig haben, sind sie nicht ausgestattet.
Es braucht politischen Willen
Ich denke an Berlin, wo es so viele Projekte und Organisationen in der Obdachlosenhilfe gibt, dass kaum eine*r den Überblick behält. Ziehen die wirklich an einem Strang, eint die tatsächlich eine gemeinsame Idee?
Und ich denke an Berlin in Zeiten knapper Kassen, die die Menschen noch mehr spalten, in die da oben und die ganz unten.
Eine Genesung für die chronische Krankheit Obdachlosigkeit, das wird für mich nach meiner Reise nach New York noch klarer, kann es nur mit einem sozialen Wohnungswesen geben. In der Zwischenzeit bewahren wir uns mit ernsthaft betriebenem Housing First ein Stück Menschlichkeit. Indem wir ein Angebot für die Menschen schaffen, die Unterstützung am dringendsten nötig haben. Für beides, ein konsequent soziales Wohnungswesen und ausreichend ausgestattetes Housing First, sind politische Entscheidungen nötig. Die wird es nur geben, wenn genügend Menschen danach verlangen. Immerhin liegen noch keine 40 Jahre der Gewöhnung an eigentlich Unaushaltbares hinter uns. Wie in New York.
Als ich in den frühen Morgenstunden aus den USA zurück nach Berlin komme, tragen die wenigen Leute auf der Straße dicke Mützen. Auf einer Bank nahe der Frankfurter Allee liegt ein Mensch, das Gesicht im Schlafsack verborgen. Sein Rollstuhl steht neben ihm.
Ein Mensch, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, schläft auf der Straße. In der Nacht waren es fast null Grad.
Da ist er, der Schmerz, den Kim Hopper „moralische Verletzung“ nennt. „Wir brauchen mehr Menschen, die das spüren“, hat Hopper gesagt.
Manuela Heim ist taz-Redakteurin für Gesundheit und Soziales. Ihre US-Recherche wurde durch das Daniel-Haufler-Stipendium der taz Panter Stiftung ermöglicht.
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