Gaza und der doppelte Boden

Untergrund und Unbewusstes. Was das Tunnelsystem der Hamas über den Tunnelblick der Organisation aussagt

Israelische Soldaten sichern einen Tunnel, den die Hamas für ihren Überfall auf Israel im Norden von Gaza genutzt hat Foto: Noam Galai/getty images

Von Caroline Fetscher

Die islamistische Terrororganisation Hamas kam im Gazastreifen 2007 an die Macht. Gaza erhielt Millionen an Hilfsgeldern. Wenig kam der Bevölkerung zugute. Vieles floss, buchstäblich, in den Untergrund, in eine Parallelstruktur unter der Erde.

Sie hätten in die Höhe bauen können, mit Licht und Luft. Stattdessen haben sie sich in den Erdboden eingegraben. Auch das ist Teil der Tragödie von Gaza.

Dem herrschenden Kopf der Hamas ist das durchaus bewusst. Jahia Sinwar sagte einmal einer italienischen Journalistin, „aus Gaza könnte Singapur werden oder Dubai“, es gebe in der jungen Generation der Palästinenser genug Brillanz und Esprit. Sogar Frieden mit Israel schien ihm damals, 2018, denkbar. Dazu wollte er es dann aber doch nicht kommen lassen.

Jahia Sinwar gilt als der Planer der „Operation Al-Aqsa-Flut“. So lautet der Codename für den Überfall der radikal-islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, als 1139 Männer, Frauen und Kinder massakriert und 240 Menschen nach Gaza verschleppt wurden.

Getrieben waren die Verbrechen von der größenwahnsinnigen Fantasie, Israel auszulöschen, wie das die erste Charta der Hamas beschwor. Der Massenmord wollte eine eliminatorische Fantasie in Realität übersetzen.

Seit dem 7. Oktober wurde Sinwar öffentlich nicht mehr gesehen. Er soll abgetaucht sein in den Untergrund, was wörtlich zu verstehen ist. Offenbar hält er sich in dem weitverzweigten Tunnelsystem auf, das die Hamas unter der Erde des Gazastreifens angelegt hat. Auch „Gaza Metro“ genannt beherbergt es Führungsriegen der Hamas, die selten auf der Erdoberfläche zu sehen sind, und es dient jetzt auch als Kerker für die Geiseln.

Sinwar, der mehr als 20 Jahre in israelischen Haftanstalten verbracht hatte, bis er 2011 durch Geiselnahme und Erpressung freikam, weiß, dass er nicht nochmal freikäme, würde Israels Armee ihn entdecken. Inhaftiert worden war er wegen der Ermordung von Palästinensern. Im Gefängnis hatte er Hebräisch gelernt, Bücher der Feinde studiert und einen palästinensischen Heldenroman verfasst. Daneben soll er weitere Morde an „Verrätern“ im Gazastreifen in Auftrag gegeben haben. Prägend dürfte damals die Erfahrung gewesen sein, dass und wie sich Macht auch aus der Distanz ausüben lässt.

Unter der Erde hat Sinwar seine Autorität auch den Entführten demonstriert. Eine freigekommene, 85 Jahre alte Friedensaktivistin schilderte einer israelischen Zeitung, wie Sinwar wenige Tage nach dem Massaker eine Gruppe der in den Tunnels festgehaltenen Israelis aufgesucht und sich bei den unter Schock stehenden nach ihrem Befinden erkundigt hatte.

Die unterirdische Regierung

Der Bau der Tunnels hatte als Geheimaktion begonnen. Jehad al-Saftawi, Autor eines Fotobands über Gaza, berichtete Anfang 2024 im Time Magazin, wie seine Familie 2013 die Bauphase mitbekam. Ein Tunneleingang lag direkt unter dem Neubau im Norden von Gaza, für den seine Eltern lange gespart hatten. In den Nächten hörte die Nachbarschaft seltsame Geräusche und sah seltsame Dinge. Lastwagen rollten an, maskierte Männer verhängten Baustellen mit Planen, die Erde vibrierte, gedämpfter Baulärm drang aus Schachtöffnungen.

Jehad und sein Bruder Hamza entdeckten eine Stahltür und fragten einen der Maskierten nach dem Zweck der Arbeiten. Keine Sorge, habe der gesagt, es würden bloß Waffenarsenale angelegt und Schutzräume geschaffen, für den Fall einer israelischen Invasion.

Tausende Bewohner des Gazastreifens werden Ähnliches erlebt haben, an Hunderten von Baustellen. Schmugglertunnel hatte es an den Grenzen des Gazastreifens schon lange gegeben. Aber das war neu: die Anlage einer unterirdischen Struktur solchen Ausmaßes, die als militärisches Hauptquartier und Interims-Regierungssitz dient.

500 Kilometer Tunnelnetz

Die Hamas habe den Untergrundkrieg neu erfunden, urteilte die Völkerrechtlerin Daphné Richemond-Barak im Juni in der Zeitschrift Foreign Affairs. Vergleichbar sei das Tunnelsystem weder mit den Schützengräben des Ersten Weltkriegs noch mit den Tunnels, die al-Qaida in Mali oder der IS in Syrien und im Irak nutzten. Am ehesten seien die Gazatunnels vergleichbar mit unterirdischen Kommandozentralen von Staaten. Von nichtstaatlichen Akteuren wie einer Terrororganisation kannte man Ähnliches bisher nicht.

Auf eine Länge von 500 Kilometern wird das Tunnelnetz geschätzt. Allein für den Beton wurden zigtausend Säcke Zement und Sand verbraucht. Gewölbe und Räume sollen stabil und einsturzsicher sein, manche Tunnel breit genug für Jeeps. Zur Infrastruktur gehören Strom und Wasser, Beleuchtung und Belüftung. Kabelstränge laufen die Wände entlang, Kabelbündel hängen von den Decken.

Israels Armee berichtet von mehreren Ebenen, teils bis zu zwanzig Meter tief und verbunden mit Fahrstühlen. Es gibt Internet, Waschräume und Duschen, Küchen, Vorratskammern, Schlafplätze, Konferenzräume, Waffenlager und Waffenfabriken. Einstiegsluken dienen als Abschussrampen.

Der Gazastreifen hat eine physische Parallelstruktur. Auch darum ist es für Israels Armee eine extreme Herausforderung, die Hamas zu entmachten und zu entwaffnen. Das verhältnismäßig kleine Gelände des Gazastreifens ist doppelt vorhanden, oberirdisch und unterirdisch, sichtbar und unsichtbar. Angriffe auf die Tunnelstruktur sind statisch riskant. Und sie könnten noch lebende Geiseln gefährden.

Propagandavideos der Hamas verströmen Partisanenflair. Sie präsentieren das unterirdische Innere als eine Art Bergwerk und Werkstatt des Terrors. Zu sehen sind vermummte Männer mit Munitionsgürteln und Handfeuerwaffen, wie sie Mörser oder Panzerfäuste schleppend durch gewölbte Gänge eilen, in denen Fahnen der Hamas hängen. Eingeblendet ist das Logo des militärischen Arms der Hamas und dessen Netzadresse www.alqassam.net.

In einer Szene drängen sich Terrorkrieger um die Luftaufnahme einer Stadt. In einer anderen hocken Vermummte als Kriegsrat im Kreis, schwer bewaffnet, mit Headcams auf den schwarzen Mützen. Über ihren Köpfen ein Bild der Al-Aqsa-Moschee in Jeru­salem. Israels Armee hat Ausschnitte der Videos auf Youtube eingestellt. [www.youtube.com/watch?v=LSkWt6Hwb_A]

Das Tunnelnetz hat viele Millionen gekostet, die nicht zuletzt aus Hilfsgeldern westlicher wie arabischer Staaten kamen. Bei Schmuggel und Schwarzhandel kassierte man im Untergrund hohe Mautgebühren für die Passage. Ein Direktor der Hilfsorganisation World Vision gestand vor Gericht, dass er an die Hamas rund 45 Millionen Spendendollars weitergeleitet hatte. Auch damit wurden Militärgerät und Baumaterial beschafft.

Unmengen an Ressourcen, die dem zivilen Aufbau über der Erde dienen sollten, wurden zweckentfremdet und versickerten buchstäblich im Boden.

Skulpturenpark einer Diktatur

Bauprojekte, die der Bevölkerung Ressourcen entziehen, sind typisch für Diktaturen. Selten allerdings so flächendeckend und dysfunktional. Albanien ist ein weiteres Beispiel. Das Land war übersät mit kleinen und großen Kuppeln aus grauem Beton, als hätte das Erdinnere Blasen geworfen, die sich verhärtet hatten.

Propagandavideos der Hamas verströmen Partisanenflair

Sie lagen in Hinterhöfen, auf Viehweiden, an Flussufern, in Städten, alle hatten Öffnungen wie Schießscharten. Jedem im Land hatte der kommunistische Diktator Enver Hoxha einen Platz im Bunker versprochen, 700.000 Bunker für die 3 Millionen Einwohner entstanden, teils durch Tunnels verbunden.

Albanien glich einem gigantischen Skulpturenpark der politischen Paranoia, denn Hoxha fürchtete die Invasion durch Feinde, die niemals kamen. Der wahre Feind war die eigene, bizarre Ideologie, die sich im Wortsinn eingebunkert hatte. Nach der Diktatur besprühten Leute die Bunker mit Graffiti, nutzten sie als Ziegenstall, Weinkeller und Discos, für Brennholz oder Abfall. Inzwischen sind die meisten abgerissen und in Tirana wirbt ein Bunkermuseum mit dem Wahn- und Gruselfaktor auch der Tunnelgänge.

Der Tunnelblick von Gaza

Gazas unterirdische Welt ist real. Zugleich ist sie sinnbildliche Manifestation einer unterirdischen Ideologie, die destruktiv ist und dystopisch, deren politischer Diskurs dominiert ist von Märtyrertum, Morden und Opfern.

Das Wall Street Journal berichtete über vertrauliche Nachrichten, in denen Sinwar zivile Opfer im Gazastreifen begrüßt, sie brächten „frisches Blut in die Adern der Nation“. Als im April 2024 drei Söhne des Hamas-Führers Ismael Hanijeh im Gazakrieg starben, verkündete das Politbüro der Hamas, er „danke Allah für die Ehre, dass sie als Märtyrer sterben durften“.

Schon den Schulkindern in Gaza werden „Märtyrer“ als Helden und Vorbilder präsentiert und auch in den Medien ist die Propaganda der Vernichtung ubiquitär.

Wenn aber zum Selbstverständnis einer Gruppe die Auffassung gehört, der eigene Nachbar habe kein Existenzrecht und dürfe vernichtet werden – was die frühe Charta der Hamas über Israel besagt – dann entwickelt sich Paranoia. Die eigene Absicht wird auf die anderen, die zu Tötenden, projiziert. Permanent vibriert die Furcht, gestraft zu werden.

Dabei werden Wissen und Gewissen verdrängt, dass der Terror unethisch und illegitim ist, Gegner als „Kollaborateure“ denunziert. Gaza ist doppelt vorhanden, oberirdisch und unterirdisch, sichtbar und unsichtbar. Und auf konkretistische Weise bilden die beiden Ebenen ab, wie stark Bewusstsein und Unbewusstes voneinander abgespalten sein sollen.

Hamas-Führer Jahia Sinwar Foto: ap

So führt das Tunnelsystem den Tunnelblick derer vor, die sich freiwillig in die Lichtlosigkeit begeben haben, ins Jenseits der Aufklärung. Ohne es zu wollen zeigen die Tunnel, wie sehr ihre Erbauer in ihre Phantasmen abgetaucht sind, wie massiv sie sich abschotten von Ratio und den Räumen des Diskursiven.

Wie mit den albanischen Bunkern der Paranoia entstand auch mit den Tunneln in Gaza eine antisoziale Mega­skulptur. Sie scheint einer Nekropole nachgeahmt, mit Katakomben für die Lebenden, die unter Tage den Tod beschwören.

Der Weg aus den Tunneln

Jahia Sinwar hat recht. Es gibt enorm viel Potenzial unter Palästinensern. Auch die eindrucksvolle Leistung, das Tunnelsystem zu konstruieren, zeugt davon. Doch das Potenzial wurde in die falsche Richtung gelenkt. Jetzt lebt ein Großteil der Bevölkerung auf Trümmern über Tunneln, die Zivilstruktur wird von der Hamas als Schutzschild verwendet, um Einstiegsluken zu verbergen.

Vermutlich wird die Bevölkerung nur mit internationaler Verwaltung, großen Geberkonferenzen und einer demokratischen Bildungsoffensive aus den Terrortunneln heraus gelangen. Gebraucht wird dafür die internationale Solidarität vieler pro-palästinensischer Demokraten.

Propalästinensisch zu sein ist einfach. Es bedeutet, dafür zu sein, dass Gaza von der unterirdischen Hamas befreit wird. Dafür, dass die Bevölkerung eine demokratische, rechtsstaatliche Regierung oben auf der Erde erhält, mit gleichberechtigten Männern und Frauen, mit Schulen ohne Mordpropaganda. All das ist ohne Zweifel möglich, ob in einem eigenen Staat oder in einer Föderation. Anstatt sich in die Erde zu graben, können auch Palästinenser nach oben bauen, mit Licht und Luft.