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Nach dem Rückzug von Joe Biden setzen die Demokraten ganz auf Kamala Harris. Und die macht innerhalb weniger Tage eine erstaunliche Wandlung durch

Bisher noch auf dem Weg zur Air Force Two: Kamala Harris auf dem Flughafen von Indianapolis Foto: Jon Cherry/reuters

Von Stefan Schaaf

Sie hat nicht lange gewartet, um ihren Gegner ins Visier zu nehmen. Joe Bidens Rückzug war keine 24 Stunden her, da griff Kamala Harris Donald Trump schon frontal an: „Bevor ich Vizepräsidentin wurde, war ich Staatsanwältin in Kalifornien. Ich habe Gesetzesbrecher jeglicher Art verfolgt. Sexualstraftäter, die Frauen missbrauchen, Betrüger, die Konsumenten ausplündern, Leute, die Regeln zu ihrem eigenen Nutzen verdrehen. Hört also gut hin, wenn ich sage: Ich kenne Typen wie Donald Trump!“

Im Hauptquartier der Präsidentschaftskampagne der Demokratischen Partei in Delaware brach Jubel aus – genau so wie 24 Stunden später, als Harris diese Sätze vor An­hän­ge­r:in­nen in Milwaukee wiederholte.

Dort, wo noch wenige Tage zuvor die Republikaner ihre Krönungsmesse für Trump abgehalten hatten, versprach Harris am Dienstag, sie wolle als Präsidentin „den Blick nach vorn“ richten. „Wir werden nicht zurückgehen“, rief sie. Nicht zurück in eine dunkle Vergangenheit, in die Trump das Land führen wolle.

Sie wolle den Menschen ermöglichen, ihr Leben zu verbessern – auch dank bezahlbarer Gesundheitsversorgung für alle. Kinder sollten nicht in Armut aufwachsen müssen. Und die Mittelschicht wolle sie stärken, anders als Donald Trump und sein Project 2025 mit den geplanten Sozialkürzungen und Steuergeschenken für Superreiche. „Wir wollen Sturmgewehre verbieten, sie verbieten Bücher“, rief Harris am Donnerstag dann vor einer Lehrergewerkschaft in Houston.

Nach dieser Woche gibt es keine ernsthaften Zweifel mehr, dass Harris die neue Kandidatin der Demokraten für die Präsidentschaftswahl am 5. November sein wird. Am 7. August soll sie in einer Onlineabstimmung offi­ziell gekürt werden, also noch vor dem Parteitag der Demokraten in Chicago, der vom 19. bis 22. August stattfindet.

Eine Welle der Begeisterung und kreativen Energie hat seit Bidens Rück­zugs­ankündigung große Teile der demokratischen Wählerschaft erfasst. Harris hat sie schlagartig aus einer apathischen Lähmung erlöst.

Die Fronten für die kommenden Wochen zeichnen sich nun ab: die Strafverfolgerin gegen den verurteilten Gesetzesbrecher. Die Tochter von Einwanderern aus Indien und Jamaika gegen den Verfechter eines weißen, evangelikalen, männlich dominierten Amerikas. Die Verteidigerin des Rechts von Frauen auf Selbstbestimmung gegen den Mann, der den Supreme Court auf rechts gedreht hat. Die fröhlich lachende 59-Jährige gegen den missmutigen 78-Jährigen. Plötzlich ist Trump der einzige alte Mann im Ring, der gern Unsinn redet.

Es läuft jetzt wieder für die Präsidentschaftskampagne der Demokraten. George Clooney? Check. Pop-Superstar Beyoncé? Stellt mit „Freedom“ einen ihrer Hits als Kamala-Hymne zur Verfügung. Mehrere Gewerkschaftsverbände, die über 15 Millionen Beschäftigte vertreten, stützen ihre Kandidatur. 44.000 schwarze Frauen wählten sich am Sonntagabend in eine Telefonkonferenz der Kampagne „Win with Black Women“ ein. Die Kampagne „March for our Lives“, die 2018 Hunderttausende für strengere Waffengesetze mobilisierte, will für ihre Wahl werben.

Auch die Parteigrößen haben sich im Laufe der Woche nach und nach hinter sie gestellt. Am Freitag sprachen sich nach einigem Abwarten dann auch Barack und Michelle Obama für die Wahl von Kamala Harris aus.

78.000 Freiwillige haben sich in nur zwei Tagen verpflichtet, den Wahlkampf aktiv zu unterstützen. Die Kasse ist nun prall gefüllt: Innerhalb von 24 Stunden sammelte Harris die historische Rekordsumme von 81 Millionen Dollar ein. Sie sei, so ihre Kampagne auf X, ein „Femininomenon“. Andere sprechen vom „Kamalanomenon“.

Es wirkt, als würden hier die erfolgreichsten Elemente der Wahlkämpfe von Hillary Clinton und Barack Obama neu verschmolzen: die Betonung, wie wichtig die Rolle der Frauen in der Gesellschaft ist, und die Aufbruchstimmung – nicht nur unter Schwarzen –, die 2008 Obamas Wahlkampf auslöste. Befeuert wird das von dem anhaltenden Ärger über Verbote von Schwangerschaftsabbrüchen.

Die Trump-Kampagne scheint von dem Wechsel bei den Demokraten kalt erwischt worden zu sein und greift zum Mittel der Verteufelung. Vize-Kandidat J. D. Vance nannte Harris „eine Million Mal schlimmer als Biden“, Trump beschimpfte sie als „dumm wie ein Stein“ und als „verrückt“. Man spürte die Angst im MAGA-Lager, die auch Rassismus zutage treten lässt: Ein republikanischer Abgeordneter sagte, Harris sei ein „DEI hire“, also nur wegen der Vorschriften für Diversität, Gleichheit und Inklusivität in ihr Amt gelangt.

Kamala Harris stiegt unterdessen zum Internetphänomen auf, das vor allem junge Menschen erreicht: Die Popmusikerin Charli XCX hatte am Montag getwittert „kamala IS brat“ und damit einen Trend losgetreten. „brat“ heißt das derzeit erfolgreiche Album von Charli XCX. Sie erläuterte, der Begriff „brat“ stehe für ein Mädchen, „das ein wenig chaotisch ist, gerne feiert und vielleicht manchmal dumme Sachen sagt“.

Viele junge Wählerinnen werden sich als „brat“ wiedererkennen. Und was auf Tiktok trendet, bewegt die Generation Z mehr, als was die New York Timeskommentiert. Die Charakterisierung passt ja irgendwie auch zu Kamala Harris. Sie hat viele Gesichter, sie kann sich von einer fröhlich tanzenden Menge anstecken lassen – und hat manchmal Sachen gesagt, die sie später lieber zurückgenommen hätte. In dieser Woche hat sie aber klar ausgesprochen, worauf es für sie ankommt: Sie will Präsidentin werden, um eine Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus und einen gesellschaftlichen Backlash zu verhindern.

Man reibt sich ungläubig die Augen, wie sich das öffentliche Bild von Harris in wenigen Tagen um 180 Grad gedreht hat – von der blassen und unpopulären Vizepräsidentin zur Hoffnungsträgerin. Ihre Beliebtheitswerte lagen zuletzt noch hinter denen Bidens, unter 40 Prozent. Die Republikaner warfen ihr immer wieder vor, sie sei von Biden beauftragt worden, die drängende Frage der Migration anzupacken, und sei daran kläglich gescheitert.

In Wirklichkeit sollte sie lediglich mit den zentralamerikanischen Staaten ausloten, welche Hilfe die USA geben­ könnten, um die Menschen jener Länder vor der Wanderung nach Norden abzuhalten. Dass sie ihnen im Juli 2021 bei einer Pressekonferenz in Guatemala nur den Rat gab: „Kommt nicht. Kommt nicht“, hat ihrem Ansehen nicht geholfen.

Und dann waren da noch die groben Fehler ihrer ersten Präsidentschaftskampagne. Die begann im Januar 2019 mit einem bejubelten Auftritt im kalifornischen Oakland und wurde von ihr im Dezember beendet – noch vor den ersten Vorwahlen in Iowa. Als offiziellen Grund nannte Harris, dass der Kampagne das Geld ausging. Aber auch die potenziellen Wäh­le­r:in­nen hatten sich von ihr abgewandt.

Dazu war ihr Team heillos zerstritten: Kelly Mehlenbacher, eine von Harris’ engsten Mitstreiterinnen, hatte im November hingeworfen und in einem Brief erklärt: „Schweren Herzens erkläre ich meinen Rücktritt … Dies ist meine dritte Präsidentschaftskampagne, und ich habe noch keine Organisation erlebt, die ihre Belegschaft so schlecht behandelt.“ Die vielfältigen Talente im Team würden durch Unentschlossenheit vergeudet, weil es keine „Anführer gibt, die anführen wollen“.

Die Energie der ersten Tage aufrecht­zu­erhalten wird entscheidend sein

Weiter schrieb Mehlenbacher im November 2019, sie glaube immer noch, dass Harris die aussichtsreichste Kandidatin für die Wahl im November 2020 sei, aber sie habe das Vertrauen in die Kampagne und ihre Führung verloren. Damit war unter anderem Kamalas Schwester Maya gemeint, die die Kampagne leitete.

Die New York Times analysierte damals, es habe falsche Entscheidungen gegeben, auf welche Bundesstaaten und welche Themen man sich konzentrieren solle. Und Kamala Harris selbst sei in Streitfragen zwischen dem linken und dem moderaten Flügel der Demokraten einen Schlingerkurs gefahren, der am Ende alle verärgert habe.

Die Probleme gingen nach ihrer Vereidigung als Vizepräsidentin im Januar 2021 weiter. Sie hatte Mühe, ihre Rolle zu finden, ihr Stab machte dafür auch Bidens Entourage verantwortlich. Missverständnisse führten zu Frust, schlechter Stimmung und bald auch zu Rücktritten. Ihre Stabschefin, ihre Pressesprecherin und ihre wichtigste Redenschreiberin blieben nicht mal ein Jahr. Inzwischen scheint sich mit dreieinhalb Jahren Erfahrung einiges verbessert zu haben.

„Ihr alle werdet entscheiden können, ob wir in einem Land der Freiheit, des Mitgefühls und der Herrschaft der Gesetze oder in einem Land der Furcht und des Hasses leben“, hatte Harris bei ihrer Rede in Milwaukee am Dienstag kämpferisch betont.

Die Energie dieser ersten Tage aufrechtzuerhalten wird eine existenzielle Voraussetzung für eine erfolgreiche Kampagne sein. Vielleicht bekommt Kamala Harris ja dafür auch noch die Unterstützung einer Frau, die noch viel mehr Fans hat als Harris selbst – Taylor Swift.