Versammlungsfreiheit wird eingeschränkt: Fatale Polizeistaatsräson
Repressionen gegen Klima- und Pro-Palästina-Proteste bedrohen die Versammlungsfreiheit in Europa. Das ist auch ein Einfallstor für die AfD.
F reiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden – das hat Rosa Luxemburg einmal gesagt, es ist wohl ihr berühmtestes Zitat. Wer die Andersdenkenden jeweils sind, das unterscheidet sich je nach Epoche und von Land zu Land. Aber grundsätzlich gilt: der Umgang mit Menschen, die eine andere Meinung vertreten als die Regierung oder die Mehrheit in ihrem Land, zeigt, wie es um die Freiheit dort insgesamt steht. Das gilt um so mehr, wenn diese Menschen ohnehin schon diskriminierten Minderheiten angehören.
Diese Freiheit ist in Europa bedroht. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat untersucht, wie in 21 europäischen Ländern mit dem Recht auf friedlichen Protest umgegangen wird. Ihr Fazit: die Versammlungsfreiheit wird immer stärker eingeschränkt, abweichende Meinungen werden immer häufiger durch Verbote und Gewalt, Überwachung oder Einschüchterung unterdrückt.
In Polen und der Türkei richtet sich das gegen die LGBTQ-Community, die sich in den vergangenen Jahren vermehrten Schikanen ausgesetzt sah. In anderen Ländern trifft das auch Klimaaktivist:innen, die zuweilen in die Nähe von Terroristen gerückt und kriminalisiert werden. Europaweit waren davon aber vor allem pro-palästinensische Proteste betroffen. Die Maßnahmen der Behörden gegen sie seien oft unverhältnismäßig und führten dazu, rassistische Vorurteile zu bestärken, so die Menschenrechtsorganisation.
Der Amnesty-Bericht untersucht Fälle bis Ende 2023 – also überwiegend noch vor dem Angriff der Hamas und dem Beginn des aktuellen Gaza-Kriegs am 7. Oktober. Schon davor waren, etwa in Berlin in den Jahren 2022 und 2023, Kundgebungen am palästinensischen Nakba-Gedenktag am 15. Mai vorab verboten worden. Seither hat sich die Lage deutlich verschärft: Europaweit wurden Proteste gegen den Krieg in Gaza teilweise komplett verboten oder eingeschränkt, bestimmte Parolen und Symbole verboten und in Deutschland die vermeintliche „Staatsräson“ durch die Polizei mit Gewalt durchgesetzt.
„Fortschrittskoalition“ greift zu Repression
Die Repression erreichte in diesem Jahr einen Höhepunkt. Zum „Palästina-Kongress“ mit weniger als 250 Teilnehmer:innen in Berlin wurden 2.500 Polizeibeamte abkommandiert, prominente Teilnehmer per Verbot an der Einreise gehindert und der Kongress nach nur zwei Stunden beendet. Dass deutsche Gerichte solche präventiven Einreiseverbote oder das pauschale Verbot bestimmter Parolen inzwischen für rechtswidrig erklärt haben, scheint Politiker hierzulande nicht zu beirren. Sie setzen sich darüber hinweg. Mehrere Pro-Palästina-Camps an Hochschulen wurden seitdem mit Gewalt aufgelöst, die Teilnehmer mit fragwürdigen Strafanzeigen überzogen. Das hat einen „Chilling Effect“, es schreckt andere von Protesten ab.
Nach der Räumung eines Pro-Palästina-Camps an der Freien Universität in Berlin im Mai 2024 verteidigten über 1.000 Lehrende in einem offenen Brief das Recht auf friedlichen Protest an ihren Hochschulen. Dass sie dafür von der Bildungsministerin diffamiert wurden und in ihrem Ministerium geprüft werden sollte, ob man den Unterzeichnern Fördermittel entziehen könnte, passt in das autoritäre Bild. Dass die Bundesregierung beschlossen hat, Ausländer künftig schon für ein „Like“ in den Sozialen Medien ausweisen zu können, macht es nicht besser.
Dass ausgerechnet eine Ampel-Regierung, die mal als liberale „Fortschrittskoalition“ angetreten ist, so stark auf Repression setzt, ist fatal. Die ersten Versammlungsverbote in Berlin wurden sogar unter einem rot-rot-grünen Senat verfügt. Der Union geht das alles noch nicht weit genug. Und sollte die AfD jemals an die Macht kommen, muss sie sich nur noch ins gemachte Nest setzen. Sie muss nur neue Gesinnungsstraftatbestände schaffen, um ihre Gegner zu verfolgen – zum Beispiel „Deutschenfeindlichkeit“. Die Methoden sind bereits alle da – und bereits erprobt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen