Lehrkräftemangel in Sachsen-Anhalt: Darf’s ein Stündchen mehr sein?

Weil in Sachsen-Anhalt so viel Unterricht ausfällt, müssen Leh­re­r:in­nen dort künftig länger unterrichten. Dagegen regt sich Widerstand.

Historische Aufnahme eines Klassenzimmers

Volle Klassenzimmer – heute wie damals: Die erste Klasse einer Grundschule in Coburg 1955 Foto: Horst-Jürgen Schunk/picture alliance

BERLIN taz | Es rumort in Sachsen-Anhalt. Zumindest an den gut 800 Schulen im Land. Weil in den vergangenen Monaten so viel Unterricht ausgefallen ist wie nie, greift die schwarz-rot-gelbe Landesregierung nun zu einem drastischen Mittel.

Ab Mitte Februar, nach den Winterferien, sollen alle Lehrkräfte eine Stunde mehr pro Woche unterrichten. Eine entsprechende Verordnung will die Koalition jetzt auf den Weg bringen. Das kündigte Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) am Dienstagnachmittag nach einer Kabinettssitzung an. Rechtlich verbindlich soll die Maßnahme ab März sein – und für fünf Jahre gelten.

Für Leh­rkräfte unter 62 Jahren heißt das: Wer an einer Grundschule arbeitet, muss bald 28 statt 27 Stunden die Woche ableisten, an Sekundarschulen und Gymnasien sind es 26 statt 25. Die Mehrarbeit soll zwar vergütet oder auf einem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben werden, dennoch lehnen Opposition und Leh­re­r:in­nen­schaft den Beschluss ab. Die Bildungsgewerkschaft GEW hat zu Protesten im Februar in Halle und Magdeburg aufgerufen.

Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) dagegen hält die Maßnahme für unvermeidlich. „Überall fehlen Lehrerinnen und Lehrer, überall fallen Stunden aus“, begründet Haseloff die Aufstockung. Mit ihr glaubt er die Personalnöte der Schulen – dem Land fehlen aktuell 1.000 Lehrkräfte – zur Hälfte kompensieren zu können.

Ziehen die anderen Länder nach?

Sachsen-Anhalt ist damit das erste Bundesland, das seine Lehrkräfte wegen des akuten Personalmangels zu Mehrarbeit verdonnert. Und möglicherweise nicht das letzte. Vergangenen Freitag hat ein Expertengremium aus 16 Bil­dungs­for­sche­r:in­nen – die Ständige Wissenschaftliche Kommission, kurz SWK – den Ländern eine Reihe von zeitlich befristeten „Notmaßnahmen“ empfohlen. Darunter die „maßvolle Aufstockung der Arbeitszeit aller teilzeitbeschäftigten Lehrkräfte“ sowie die Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung. Weil die Hälfte aller Lehrkräfte bundesweit in Teilzeit arbeitet, sieht die SWK hier das größte Potenzial, um den Unterricht bei anhaltendem Fachkräftemangel zu decken.

Auch die Bil­dungs­mi­nis­te­r:in­nen wissen, dass sie mit Quereinsteiger:innen, Studierenden und Pensionären allein nicht mehr weiterkommen. Aktuell bilden die Länder 18 Prozent weniger Lehrkräfte aus, als sie benötigen. Und trotz steigender Studienplätze nimmt die Zahl derer, die auf Lehramt studieren, seit Jahren ab: seit 2013 um ganze 13 Prozent.

Deshalb forderte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Astrid-Sabine Busse (SPD) die Hochschulen auf, mehr Studierende „zu einem erfolgreichen Abschluss“ zu führen. Busse machte aber klar, dass es damit nicht getan sei. Es werde „offensichtlich, dass es nicht das eine Wundermittel gegen den Fachkräftemangel gibt, sondern dass wir an mehreren Stellschrauben drehen müssen“.

Welche das sein werden, prüfen die Ministerien derzeit. Nur die Linkenpolitikerin Simone Oldenburg hat bislang für ihr Bundesland Mecklenburg-Vorpommern eine Mehrarbeit für Leh­re­r:in­nen ausgeschlossen. „Eine Verschlechterung der Unterrichts- und Arbeitsbedingungen führt auf Dauer zu noch größerem Lehrermangel“, teilte Oldenburg am Montag mit.

Scharfe Kritik von der GEW

Diesen Schluss zieht auch die Vorsitzende der GEW Sachsen-Anhalt, Eva Gerth. „Die Landesregierung vergrault mit diesem Zwang alle, die das System trotz hoher Belastung seit Jahren am Laufen halten“, sagt Gerth zur taz. Mit Freiwilligkeit komme man da aus ihrer Sicht weiter. Schon jetzt könnten sich Lehrkräfte pro Woche bis zu vier Vertretungsstunden anrechnen lassen. Tausende bezahlte Überstunden kämen so landesweit im Jahr zusammen. Dieses Engagement sieht Gerth nun gefährdet.

Auch wegen der Art und Weise, wie die Landesregierung mit den Betroffenen umspringe. Auf dem Bildungsgipfel, zu dem Ministerpräsident Haseloff Ende Januar geladen hatte, seien die übrigen Akteure zum Publikum degradiert worden. „Der Ministerpräsident hat uns mit der Entscheidung konfrontiert, einen Dialog gab es dazu nicht“.

Tatsächlich hat Haseloff direkt im Anschluss an das Treffen bereits die Pläne seiner Regierung vorgestellt. Neben der Mehrarbeit für Leh­re­r:in­nen sollen stufenweise auch das Gehalt der Grund­schul­leh­re­r:in­nen angehoben werden und die Schulen Extrabudgets für Aushilfskräfte erhalten. Mit diesen Maßnahmen wolle er den Unterrichtsausfall „in Richtung null schieben“.

Nach Angaben der Landesregierung liegt die Unterrichtsversorgung in Sachsen-Anhalt aktuell bei nur mehr 92 Prozent – ein historischer Tiefstand. An manchen Schulen kann sogar nur mehr die Hälfte des vorgesehenen Unterrichts stattfinden, teilte die Landesregierung im Dezember auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Landtag mit.

Landschulen trifft es hart

Die Zahlen machen Thomas Lippmann fassungslos. „In manchen Regionen wie Börde oder der Altmark liegt die Unterrichtsversorgung bereits unter 90 Prozent“, sagt der bildungspolitische Sprecher der Linksfraktion im Gespräch mit der taz. Vor allem an den Sekundarschulen herrsche wegen des Personalmangels „Endzeitstimmung“. Heute räche sich, dass das Land die Lehramtsausbildung in der Vergangenheit radikal zusammengestrichen habe. 1.000 Lehrkräfte brauche das Land im Jahr – nur etwa 300 bis 350 kommen von den eigenen Hochschulen nach. Laut Lippmann also ein hausgemachtes Problem.

Die nun beschlossene Mehrarbeit sei ein Affront gegen die Lehrkräfte, die schon jetzt die fehlenden Kol­le­g:in­nen auffangen – und sozial ungerecht. In Halle beispielsweise ist die Versorgung an vielen Schulen sichergestellt – auf dem Land hingegen können die Kollegien die Lücken auch mit einer Stunde Mehrarbeit nicht schließen. Laut Bildungsministerin Feußner ist das Ziel, Gym­na­si­al­leh­re­r:in­nen auch an die Schulen abzuordnen, wo der Bedarf besonders hoch ist. Lippmann hingegen kann sich schwer vorstellen, dass die angeordneten Mehrstunden tatsächlich vor der Klasse landen – er tippt eher auf den Krankenschein.

Eine bundesweite Umfrage im Auftrag der Gewerkschaft VBE unter 1.300 Schul­lei­te­r:in­nen unterstützt Lippmanns Vermutung. So berichteten 2021 die Hälfte der Schulen von mehr krankheitsbedingten längeren Ausfällen, deutlich mehr als noch 2019. Gleichzeitig sah sich nicht mal mehr je­de:r vierte Schul­lei­te­r:in in der Lage, für die Gesundheit ihres Kollegiums zu sorgen.

Auch die jährlichen Umfragen des „Schulbarometers“ zeigen, wie stark die Arbeitsbelastung für Lehrkräfte in den vergangenen Jahren gestiegen sind. Die SWK hat in ihren Empfehlungen deshalb auch unterstrichen, dass die Länder die Gesundheitsvorsorge für ihr Personal intensivieren müssen.

Keine Alternative?

Doch wie das alles gleichzeitig funktionieren kann, wenn die überlasteten Lehrkräfte jetzt noch mehr leisten sollen, ist die große Frage. Sachsen-Anhalts Bildungsministerin geht darauf nicht wirklich ein. „Ich weiß, dass unsere Entscheidung vonseiten der Lehrerschaft sehr kritisch gesehen wird“, sagte sie. Allerdings handle es sich nicht um eine Erhöhung der Arbeitszeit.

Die zu viel gearbeiteten Stunden könnten die Lehrkräfte später wieder abbauen. Feußner betonte, dass Sachsen-Anhalt mit den zusätzlichen Stunden im bundesweiten Mittel läge – und dass die sogenannte Vorgriffsstunde nur eine von vielen Maßnahmen gegen den Personalmangel sei.

Gewerkschafterin Gerth bezweifelt dennoch, dass der Landesregierung die Trendwende gelingt. Für zusätzliche Assistenzkräfte seien landesweit gerade mal 50 Stellen ausgeschrieben – bei mehr als 800 Schulen. Und für die Gehaltserhöhung an Grundschulen gebe es noch keinen Zeitplan. Insgesamt denke die Landesregierung zu klein: Ein gutes Beispiel dafür seien die Stipendien für angehende Lehrer:innen, die die Bildungsministerin kurz vor Weihnachten angekündigt hat.

Wer sich verpflichtet, später ein paar Jahre an einer Schule auf dem Land zu unterrichten, erhält während des Studiums 600 Euro pro Monat. Ein Lockmittel, das auch Brandenburg und Sachsen einsetzen. Nur: Reichen 25 solcher Stipendien pro Semester, wenn der Personalmangel im vierstelligen Bereich liegt?

Hohe Abbrecherquoten

Vor allem an der Uni Halle, an der der Löwenanteil der Lehrkräfte ausgebildet wird, schließt nicht mal mehr je­de:r Zweite sein Studium ab – Ziel sind jedoch 75 Prozent. Selbst Uni-­Rektoren fordern, mehr Fächerkombinationen beim Lehramt zuzulassen und den Seiten­einstieg weiter zu öffnen. Zu diesen Schritten hat sich die Koalition bislang noch nicht entschlossen.

„Die Landesregierung“, fasst die bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion Susan Sziborra-Seidlitz zusammen, „scheint nicht zu erkennen, dass die Hauptursache des Lehrkräftemangels die fehlende Attraktivität des Lehrberufs in Sachsen-Anhalt ist“.

Mit einer von oben verordneten Extrastunde, da sind sich viele Be­ob­ach­te­r:in­nen einig, dürfte der Job nicht attraktiver werden.

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