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Preis für Angela MerkelKaltes Erbe

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Die frühere Kanzlerin Angela Merkel wird mit einem Preis des UNHCR für ihre Flüchtlingspolitik ausgezeichnet. Sie hätte einen Unterschied machen können.

Budapest, am 4. September 2015: ein Geflüchteter am Bahnhof Keleti mit Merkel-Foto Foto: Martin Fejer/ EST&OST

A m Montag verleiht der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNCHR) in Genf den Fridtjof-Nansen-Preis an Angela Merkel. Sie habe mit der Aufnahme von mehr als 1,2 Millionen Menschen 2015 und 2016 mit „großem moralischen und politischen Mut gezeigt, was erreicht werden kann, wenn Politiker den richtigen Weg einschlagen und sich um Lösungen für die Herausforderungen der Welt bemühen, statt Verantwortung auf andere abzuwälzen“, so die Begründung.

Das ist etwa so, als würde man Merkel heute einen Preis für Sicherheit in der Energieversorgung Deutschlands verleihen, weil vor ein paar Jahren niemand im Winter frieren musste.

Die Parallelen zu ihren Versäumnissen sind dabei weitgehender, als es scheint. Die dysfunktionale Trümmerlandschaft der Asylpolitik Europas ist heute bestimmt vom Einfluss extrem rechter Kräfte – ein Zustand, den zu verhüten Deutschland noch vor wenigen Jahren ebenso gute Chancen gehabt hätte wie das heutige Desaster anhaltender Abhängigkeit von fossiler Energie aus Russland.

Es war Angela Merkel, die dafür einst die nötige Mühe, die Auseinandersetzungen scheute. Ihren Anteil daran, dass Flüchtlinge heute in Europa mit einem Zustand völliger rechtlicher Erosion und Gewalt konfrontiert sind, lässt der UNHCR außen vor.

Eine humanitäre Großtat

Dabei war die Entscheidung, die Grenzen Deutschlands 2015 nicht zu schließen, verbunden mit dem Entschluss, den Menschen hier eine Perspektive zu bieten, zweifellos eine humanitäre Großtat. Merkel hätte auch anders handeln und so viele Menschen anhaltendem Leid aussetzen können. Doch die langen Linien ihrer Amtszeit in diesem Bereich sind andere.

Zentral ist dabei die Frage nach europäischer Lastenteilung. Lange hielt Deutschland eisern am Dublin-System fest, das dem Land der ersten Einreise alle Verantwortung für die Ankommenden aufbürdet.

So entfielen auf Deutschland lange nur relativ wenige der Asylanträge in der EU. Auch nach der Schiffskatastrophe von Lampedusa 2013 sagte Merkels Innenminister Friedrich, das System habe sich „bewährt“ und bleibe „selbstverständlich erhalten“. Nur ein Jahr später war das plötzlich anders. „Wir müssen uns verständigen auf Aufnahmequoten“, sagte sein Nachfolger de Maizière.

Das hätte damals bedeutet, dass Deutschland höchstens 21 Prozent aller Ankommenden aufnehmen müsste. Quoten hatten Außengrenzen-Staaten seit Jahren verlangt – sie waren stets auch am Widerstand aus Berlin gescheitert. Was war in der Zwischenzeit geschehen?

Bis 2009 wurde nur jeder neunte Asylantrag in Deutschland gestellt, 2012 jeder vierte, 2014 jeder dritte. Die Länder an den Außengrenzen hatten damals begonnen, das Dublin-System zu unterlaufen, und immer mehr Flüchtlinge einfach weitergeschickt.

Merkel hätte, als dies viel leichter möglich war als heute, der Entwicklung eine andere Richtung geben können

Lange hatte Deutschland von der Dublin-Regelung profitiert. Justament als sich das änderte, entdeckt es die Nachteile an dem „bewährten“ System. Seither setzt sich Deutschland offiziell für Lastenteilung und menschenrechtskonforme Asylpolitik ein – handelt aber vielfach nicht entsprechend.

Die Entrechtung von Flüchtlingen vorangetrieben

Beim EU-internen Umverteilungsprogramm aus Südeuropa ab 2015, der freiwilligen Aufnahme aus den Ägäis-Lagern ab 2020 oder jener im Mittelmeer aus Seenot Geretteten ab 2018 ließ Innenminister Seehofer jeweils nur wenige Menschen einreisen. Die Rechtfertigung: Andere Länder nähmen noch weniger auf, außerdem erreichten weiterhin viele irregulär, also auf eigene Faust, Deutschland.

Doch was in anderen Ländern ankam, war: Deutschland macht uns moralische Vorhalte, nimmt aber selbst niemanden auf, wenn es die Wahl hat. Stattdessen bezahlt es andere dafür, ihm Flüchtlinge vom Hals zu halten. Als etwa Ägyptens Diktator al-Sisi 2018 zu Besuch kam, stellte sich Merkel mit ihm hin und sagte: „Ägypten sichert seine Seegrenzen exzellent, de facto gibt es keine Migration aus Ägypten nach Europa. Das ist uns hohe Anerkennung wert und so unterstützen wir Ägypten mit einem ungebundenen Kredit von 500 Millionen Euro.“

In ihren Äußerungen stellte sich Merkels Regierung zwar gegen die von Populisten verlangte Entrechtung von Flüchtlingen. Tatsächlich trieb sie sie aber selbst mit voran – beim EU-Türkei-Deal, der Grenzschutz-Verlagerung in die Sahara und nach Libyen und vielem mehr.

Heute will die EU-Kommission – auf Initiative der Regierung Merkel – alle Ankommenden zunächst internieren. Dies wird aber nicht beschlossen, weil mittlerweile so viele Staaten von Parteien regiert werden, denen selbst dies noch zu flüchtlingsfreundlich wäre. Die Regierungen des Visegrád-Blocks etwa wollen schlicht überhaupt keine Asylanträge in der EU. Kroatien und Polen sind zu einer derart brutalen Pushback-Politik übergegangen, dass sie nicht mal Frontex ins Land lassen wollen, weil sie fürchten, die könnten dabei stören. Dänemark will Abschiebeknäste im Kosovo, Asylverfahren in Afrika. Spanien lässt Marokko seine Grenzzäune mit tödlicher Gewalt bewachen.

Natürlich ist das alles nicht nur Merkels Schuld. Doch als dies viel leichter möglich war als heute, hätte sie der Entwicklung eine andere Richtung geben können. Der Preis, den sie dafür hätte zahlen müssen, wäre der Kampf mit großen Teilen der CDU, der CSU und der AfD gewesen.

Kein Kanzler zuvor hatte seine Popularität so lange halten können wie Merkel. Zwischen ihrer ersten Wahl 2002 und der letzten 2017 verlor sie nur 2,2 Prozentpunkte an Stimmen. Das hätte sie nutzen können, um sich nicht nur 2015 gegen „diejenigen zu stellen, die Angst und Diskriminierung beschworen“, wie sie der UNHCR heute lobt, sondern in der Asylpolitik auch davor und danach.

Europa wäre heute ein anderes. Es wäre nicht so kalt.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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9 Kommentare

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  • Entschuldigung, ich weiß, es ist nicht das erste Mal, dass ich zu diesem Thema widerspreche. Aber gerade auch als Jurist will es mir einfach nicht in den Kopf, warum die Asyl- & MigrationsPOLITIK, die Angela Merkel geMACHT hat, für die moralische Bewertung ihrer angeblichen Menschlichkeit so gar keine Rolle spielt. Denn sonst müsste ja auffallen, das jedes Gesetz, jede Maßnahme & natürlich sowieso jeder schmutzige Deal ihrer Amtszeit ohne jede Ausnahme nur den drei großen 'A' diente: Abschotten, Ablehnen, Abschieben. Die Geste von 2015 war eine singuläre, "alternativlose" Entscheidung, als ein riesiges Kontingent beim Abschotten durchgeschlüpft war & schon an der Grenze stand. Da galt es "böse Bilder" zu vermeiden, das hat M. auch ausdrücklich zur Begründung gesagt. Eine leere Geste, ein paar warme Worte, dann wurde M. Weise beauftragt die Schlagzahl & die Ablehnungsquote im BAMF nach vorne zu bringen. Und besser kann man Angela Merkel eigentlich sowieso nicht beschreiben, denn so kaltschnäuzig & ausschließlich an 51%+ orientiert war alles, was sie tat.



    Klar: Die Nazis haben Merkel zu ihrer Hassfigur gemacht. Das war auch 2015 schon ein Dilemma für jede/n Linke/n. Aber nicht "Merkel muss weg" sagen, obwohl es der Sache nach zutreffend gewesen wäre & nicht die Wahrheit aussprechen, sind zwei verschiedene Paar Schuhe.



    Diesen Preis hat Frau Dr. Merkel mbMn nicht im Entferntesten verdient. Er hätte den Leuten von "Seawatch" & Co. gebührt.

    • @JulianM:

      Danke für Ihre Einordnung! Als ich die Meldung von der Preisverleihung gestern im Radio hörte, dachte ich spontan „Zumindest da hat sie einiges richtig gemacht“. Das war wohl Wunschdenken von mir. Man lechzt ja förmlich nach guten Nachrichten. Immerhin will Merkel das Preisgeld weitergeben.

  • Eine wenig überzeugende Darstellung einer Sicht…Merkel hat damals in einem deutschen Alleingang ein Zeichen für humanitäre Hilfe gesetzt. Das hat viel Respekt und Anerkennung im Ausland erzeugt, was nicht heißt, dass alle in der EU das Gute auch für richtig gehalten haben.

  • In der Tat.



    Das Deutschland von heute ist ein anderes als das vor 20 Jahren.

    Heute bestimmen hierzulande Ideologen und 100%ige darüber, ob ihre Maximalforderungen eingehalten wurden und dann ggfls die Maximalstrafe verhängt wird.



    Es gibt keine relativierenden Betrachtungen, die zB auch das Umfeld berücksichtigen, aus der bestimmte Entscheidungen getroffen wurden.

    Angesichts der fundamentalen Versagens eben dieser "werteorientieren Politik" der aktuellen Bundesregierung wirkt es ein wenig lächerlich, jetzt im Nachhinein gerade die PolitikerInnen abzuurteilen, die in ihrer Regierungszeit sicherlich sehr vieles falsch gemacht & unterlassen haben.



    Die aber im entscheidenden Augenblick zur Stelle waren und Lösungen herbeigeführt haben.



    Angela Merkel hat damals mit der Grenzöffnung im Gegensatz zu allen anderen europäischen Nachbarn reagiert und eine humanitäre Katastrophe verhindert.

    Trotz ihrer grandiosen Versäumnissen in der Klima- und Sozialpolitik (und die wären wirklich der Rede wert) wäre ich heilfroh, Menschen wie Frau Merkel in der Regierung zu haben.

    Weil die, die jetzt dort sind, nicht einmal Lösungen für die Katastrophen haben, die sie selbst anrichten.

  • > Die Regierungen des Visegrád-Blocks etwa wollen schlicht überhaupt keine Asylanträge in der EU.

    Dafür hätte ich gerne eine Quellenangabe, denn zumindest die aktuelle Regierung von Tschechien unter Fiala hat da bisher m.W. andere Töne angeschlagen.

  • Nach meiner Erinnerung war die Entscheidung, die Grenzen zu öffnen keine "humanitäre Großtat" sondern einfach eine Kapitulation vor den Massen.



    Diese hätte man an den Grenzen (noch ohne Zäune) nicht hätte aufhalten können und deshalb mit Gewalt hätte zurückdrängen - also teilweise auf österreichischem oder tschechischem Boden - öffentlich hätte be-/erschießen müssen.



    Das klang und klingt nicht sehr praktikabel.

    Daher war die Entscheidung, die Grenzen zu öffenen, einfach nur das kleinere Übel und außerdem wurden die Probleme mit den Flüchtlingen in die Zukunft verschoben.



    Eine echte Merkel-Entscheidung also.

    Das hatte - meiner Erinnerung nach - auch die taz damals schon sehr genau aufgeschlüsselt.

  • "Zentral ist dabei die Frage nach europäischer Lastenteilung." - das ist genau richtig, aber genau diese Lastenteilung hat Merkel durch ihren Alleingang in 2015 nun zu Lasten Deutschlands ausgehebelt. Sie hat dem Rest von Europa das Gefühl gegeben, dass Deutschland sich ab jetzt alleine kümmert. Seitdem fühlen sich Ungarn, Österreich und andere nur noch als Durchgangsländer, die so schnell wie möglich alle Bewerber nach Deutschland weiterschleusen. Die völlig zurecht angeprangerte Politik von Kroatien, Polen und Dänemark ist letztlich ebenfalls eine Folge des Merkelschen Alleingangs.

    Wenn man europäische Solidarität nicht aktiv einfordert, dann braucht man sich nicht zu wundern, dass sie ausbleibt.

  • Ein schwieriges Thema angesichts eines immer größer werdenden Rechtsrucks in Europa; und ich spreche nicht von Polen, Ungarn und Kroatien. Italien ist umgefallen, Schweden beinahe, Frankreich fast, Griechenland will die Leute in Lager internieren, was Dänemark mit einer sozialdemokratischen Regierung veranstaltet, ist bekannt. DAS ist eben auch das Erbe von Frau Merkel. Die Integration ist kaum gelungen, es gibt immer wieder gute Beispiele, aber im Gros.... die Linke in Europa hat hier auch versagt. Und ob denn Europa angesichts des russischen Krieges so warmherzig wäre, wie es der Autor schreibt, bezweifle ich auch. Vor allem weiss ich nicht, wie es weitergehen soll. Keine Idee.

  • Es war keine großherzige Hilfe für die Flüchtlinge. Es war eine erzwungene Hilfe für Österreich und Ungarn, die dank der völlig verantwortungslosen Versäumnisse der deutschen Europapolitik die Probleme nicht mehr alleine lösen konnten.