Waffenrecht in Deutschland: Pistolen für die Falschen
Rund eine Million Menschen in Deutschland besitzen legal Waffen. Rechtsextreme sind darunter, auch der Täter aus Hanau war es. Wie kann das sein?
Am 19. Februar 2020 ermordet Tobias R. neun Menschen aus rassistischen Motiven in Hanau. Anschließend erschießt er seine Mutter und sich selbst. Posthum diagnostizierte man bei ihm paranoide Schizophrenie. Zuvor tauchte er mehrmals in polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Akten auf. Die Pistolen, mit denen er die Menschen erschoss, besaß er als Sportschütze legal.
Wer eine Waffe besitzt, entscheidet über Leben und Tod. Wer aber entscheidet darüber, wer diese Waffen bekommt? Die Antwort ist eine sehr deutsche: Sachbearbeiter:innen in rund 550 Waffenbehörden – einer Verwaltung also, die in Städten oder Landkreisen neben der Fahrzeugzulassungsstelle, dem Einwohnermeldeamt oder dem Standesamt angesiedelt ist. In Deutschland besitzen Ende 2020 knapp eine Million Menschen insgesamt 5.013.046 Waffen. Die Zahlen stammen aus dem Nationalen Waffenregister.
Unter diesen Menschen sind 1.203 tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremist:innen und hunderte Reichsbürger. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervor. Diese Zahlen verdeutlichen, dass es einen großen Unterschied macht, ob Sachbearbeiter:innen eine waffenrechtliche Erlaubnis oder ein Fahrzeug zulassen. Doch wie wird diese Entscheidung getroffen?
Ein Anruf in Kassel: Markus Weidauer ist Sachgebietsleiter für Waffen- und Sprengstoffrecht beim Landkreis Kassel und erklärt, wie man in Deutschland eine waffenrechtliche Erlaubnis, in der Regel also eine Waffenbesitzkarte bekommt. Weidauer erklärt: Zunächst einmal müsse die Person ein entsprechendes Bedürfnis für den Besitz einer Waffe nachweisen: In einem Sportverein schießen, beispielsweise, oder jagen zu wollen, dafür müsse sie eine bestimmte Anzahl an Übungsstunden nachweisen. Für die Lagerung, den Transport und auch wie der Schießsport ausgeübt wird, gelten strenge Regeln.
Die Schießfreund:innen geben ihr Okay
Dass sie diese einhalten, müssen die Schützen der Behörde nachweisen. Sie legen gestempelte Formulare vor, Prüfungszertifikate – ausgestellt von ihren Schützenvereinen oder Dachverbänden – den eigenen Schießfreund:innen also.
Nach bestandener Prüfung muss die Waffenbehörde die Besitzer:innen erstmals und dann alle drei Jahre überprüfen. Werden Waffen unsachgemäß gelagert oder liegt eine Verurteilung vor, können sie die Berechtigungen verwehren oder widerrufen. Auch wer alkoholabhängig oder psychisch krank ist, dem kann die Besitzkarte entzogen werden. Doch wie bekommen die Behördenmitarbeiter:innen etwas davon mit?
Auskunft über Gerichtsurteile und Ermittlungen müssen sie beim Bundeszentralregister und beim staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister beantragen sowie eine Stellungnahme der örtlichen Polizeidienststelle einholen. Früher mussten sie auch eine Stellungnahme des Gesundheitsamtes einholen. Seit 2012 ist die durch eine neue Verwaltungsvorschrift entfallen, wegen datenschutzrechtlicher Bedenken.
Bei Zweifeln wegen der persönliche Eignung fordern Waffenbehörden seitdem ein ärztliches oder psychologisches Gutachten von den Antragsteller:innen ein. Die Zweifel müssen ausreichend begründet sein, in den meisten Fällen ergeben sie sich aufgrund von Trunkenheit am Steuer, so Weidauer. Ein solches Gutachten kann bis zu 500 Euro kosten, die antragstellende Person muss es selbst bezahlen.
Kaum Erkenntnisse über Tobias R.
Ein Jahr nach Inkrafttreten der geänderten Verwaltungsvorschrift beantragt der Attentäter von Hanau, Tobias R., seine erste Waffenbesitzkarte. Hat die neue Verwaltungsvorschrift verhindert, dass die Waffenbehörde an relevante Informationen aus R.s Patientenakte kam? „Zu den Inhalten der Akte im Gesundheitsamt liegen heute keine Erkenntnisse mehr vor“, teilt die zuständige Waffenbehörde mit. Lagen ihr andere Erkenntnisse gegen R. vor? Nur eine einzige, schreibt die Waffenbehörde: In den Auskünften aus den Ermittlungsregistern war ein Verfahren hinterlegt, und zwar zur Einfuhr von Betäubungsmitteln. Es wurde eingestellt.
Rund 4.000 Waffenbesitzer:innen leben im Landkreis Kassel. In der Waffenbehörde arbeiten fünf Personen. Sie bearbeiten Anträge und kontrollieren Bestand und Lagerung der Waffen bei den Waffenbesitzer:innen vor Ort. Eine solche Kontrolle dauert bis zu einer Stunde, im Jahr kontrolliert Weidauers Team 250 Waffenbesitzer:innen. „Die meisten Personen sehen uns also einmal in ihrem waffenrechtlichen Leben persönlich“ – und das meist mit Ankündigung. „Ist niemand zu Hause, dann haben wir unsere Leute umsonst rausgeschickt“, sagt Weidauer.
Die Waffenbehörde des Main-Kinzig-Kreises, die Tobias R. seine Waffenbesitzkarte ausgestellt hatte, ist für rund 6.000 Waffenbesitzer:innen zuständig. Vor-Ort-Kontrollen werden lediglich in Stichproben oder anlassbezogen durchgeführt, bei R. zu Hause waren die MitarbeiterInnen nicht, teilt die Waffenbehörde auf Anfrage mit.
Im Jahr 2012 beantragt Markus H. bei der Stadt Kassel eine Waffenbesitzkarte. Die Waffenbehörde weist seinen Antrag mit Hinweis auf seine rechtsextremen Aktivitäten ab. H. gehörte seit Jahren der Kasseler Neonaziszene an. Er klagt gegen die Entscheidung der Stadt, 2015 gibt ihm das Verwaltungsgericht Kassel recht. Es sieht keine Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit im Sinne des Waffengesetzes. Der hessische Verfassungsschutz hatte entsprechende Erkenntnisse zu H. nicht an die Waffenbehörde weitergeleitet. H. durfte legal Waffen besitzen. Später soll er eine Waffe für Stephan E. erworben und mit E. das Schießen geübt haben. In der Nacht zum zweiten Juni 2019 erschießt E. den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Das Problem mit dem Verfassungsschutz
Der Staat gibt sich Mühe, zwischen der Freiheit, Schießsport ausüben zu dürfen, und der Gefahr, Waffen zu missbrauchen, abzuwägen, schließt Schlupfloch um Schlupfloch mit neuen Verordnungen. Zuletzt hat er Waffenbehörden verpflichtet, Antragsteller:innen vom Verfassungsschutz überprüfen zu lassen. Denn laut Gesetz gilt: Wer Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung verfolgt, darf keine Waffe besitzen.
Doch wieso ist der Anteil (mutmaßlich) rechtsextremer Waffenbesitzer:innen 2020 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel gestiegen? Die neue Regelanfrage beim Verfassungsschutz hat diese Zahlen zwar sichtbarer gemacht, den Waffenbesitz aber noch nicht verhindert.
Martina Renner sitzt für die Linken im Bundestag und weiß so gut wie kaum eine andere dort über Nazis Bescheid. Sie kritisiert, dass der Verfassungsschutz Erkenntnisse zu Personen nur dann weitergibt, wenn er sie nicht aus nachrichtendienstlichen Quellen, wie beispielsweise von V-Personen gewonnen hat, sondern aus offenen Quellen, beispielsweise öffentlichen Facebook-Profilen. „Das ist eines der Grundprobleme dieser Konstruktion“, meint Martina Renner. Der Verfassungsschutz generiere zwar in großem Umfang Informationen, gebe diese allerdings nicht weiter.
Stephan Kramer widerspricht Renner. Er ist Präsident des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz. Bei Twitter schreibt er an Martina Renner gerichtet: Nicht alle VS-Informationen seien ein Verfahrenshindernis. Kramers Behörde registriert Extremist:innen, seit einem Jahr nun auch, ob diese eine Waffe kaufen wollen. Mit Erfolg? „Es kann Konstellationen geben, wo wir Erkenntnisse zu Personen haben, diese aber nicht an die Waffenbehörde weitergeben können, ohne unsere Quellen zu verraten“, erklärt Kramer am Telefon. „Wir versuchen dann anhand offener Erkenntnisse zu einer Person zu belegen, dass sie im Sinne des Waffengesetzes unzuverlässig ist.“ Das habe bisher in fast allen Fällen funktioniert.
Das Problem mit den Waffenbehörden
Waffenbehörden könnten genau diese – öffentlich zugänglichen – Informationen selbst einholen. „Dafür braucht es den Verfassungsschutz nicht“, sagt Renner am Telefon, sondern „eine engagierte waffenrechtliche Behörde, die auch über die neuen Erscheinungsformen der extremen Rechten Bescheid weiß und personell dazu in der Lage ist, eigene Überprüfungen in diese Richtung vorzunehmen“, sagt sie der taz. Zahlen dazu, in wie vielen Fällen Waffenbehörden seit Einführung der Regelanfrage auf Basis verfassungsschutzrechtlicher Erkenntnisse tatsächlich eine Erlaubnis versagt oder widerrufen hat, gibt es nicht.
„Als Exekutive können wir nur dann handeln, Erlaubnisse verwehren oder entziehen, wenn wir von den anderen Behörden entsprechende Informationen bekommen“, sagt Markus Weidauer, der Leiter der Waffenbehörde des Landkreis Kassel. „Aber wissen wir beispielsweise vom Verfassungsschutz, dass eine Person auch nur Sympathisant der rechten Szene ist, dann schauen wir uns diese natürlich genauer an und überprüfen noch in derselben Woche, ob sie Waffen und Munition sachgemäß lagern. Das ist oft nicht der Fall.“ Daraufhin entziehe die Behörde die Waffenbesitzkarte.
Im September 2020 findet das LKA Niedersachsen im Rahmen einer Hausdurchsuchung bei einem Mann in Seevetal rund 250 scharfe Schusswaffen sowie Munition. Alle Waffen besaß er legal. Laut LKA handelte es sich bei dem 54-Jährigen um „eine Person mit rechter Gesinnung“, mit „Hang zum Nationalsozialismus“. Das bestätigten in Verwahrung genommene Gegenstände, Bildnisse und sonstige Devotionalien.
War die Waffenbehörde, die ihm seine Waffenerlaubnisse ausstellte, je bei ihm zu Hause? Die Gemeinde Seevetal will sich auf Anfrage nicht äußern. Nur so viel teilt man mit: In der Waffenbehörde arbeitet ein Sachbearbeiter. Er kümmert sich um 808 Waffenbesitzer:innen. Laut Berichten einer Lokalzeitung sollen die beiden Männer befreundet sein.
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