Ökobilanz und Einkommen: Öko ist (k)ein Luxusproblem
Die Dielmanns leben relativ nachhaltig, aber sie fliegen zu viel. Charlotte Wilkens ist Umweltschutz egal, aber ihre Klima-Bilanz ist viel besser.
Ansonsten lebt die vierköpfige Familie so ökologisch und nachhaltig, wie das eine Familie heute tun kann: Alle essen kaum Fleisch, die 16-jährige Tochter ist Vegetarierin. Lebensmittel werden nicht weggeworfen, sondern bei der nächsten Mahlzeit verarbeitet. Beim Duschen achten die vier auf den Wasserverbrauch, die Heizung ist nie voll aufgedreht, sie trennen ihren Müll. Kleidung kaufen sie in Second-Hand-Läden und fahren viel Fahrrad. Das Auto nehmen sie nur für Touren, die anders nicht zu machen sind.
Normalerweise läge der CO2-Fußabdruck der Dielmanns weit unter dem Durchschnitt der Bundesbürger*innen, neun Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Jahr. Aber: Die Flugreisen der Familie, die haben es in sich. Dazu muss man wissen, dass Grit und Christoph Dielmann und ihre Kinder seit Ende 2015 in Melbourne, Australien, leben. Er, 51, Pfarrer, leitet dort die Dreifaltigkeitskirche, noch bis Ende 2022 wird die Familie auf dem Kontinent bleiben. Sie, 52, arbeitet als Lehrerin, die Kinder gehen zur Schule. Allein ein Flug von Düsseldorf, wo sie vorher lebten, nach Melbourne produziert pro Person laut dem Ausgleichsanbieter Atmosfair über 8 Tonnen C02. Das klimaverträgliche Jahresbudget eines Menschen beträgt nur 2,3 Tonnen. Zum Vergleich: Der weltweite Schnitt liegt bei etwa 4,8 Tonnen.
„Uns ist das bewusst“, sagt Dielmann: „Aber was sollen wir machen?“ Nach Australien geht es eben (fast) nur per Flug. Mit dem Schiff von der Südspitze Spaniens aus, oder von Sri Lanka, der Insel Mauritius oder von Mittelamerika aus hätte es zu lange gedauert und wäre noch teurer als der Flug gewesen. Auch einmal in Melbourne angekommen, wollte die Familie nicht auf weitere Flüge verzichten. Das Land ist größer als Europa. Um von Melbourne nach Sydney, der größten Stadt Australiens, zu gelangen, fliegen die meisten Menschen, Australier*innen wie Tourist*innen. Auch die Dielmanns tun das.
Acht Flüge pro Person
Seit sie in Australien leben, waren sie drei Mal in Sydney. Sie waren in Tasmanien, in Nordaustralien und im Süden des Landes. In diesem Sommer haben sie Urlaub in Amerika gemacht, mit Zwischenhalt auf Hawaii. Um bei der Inselkette im Pazifischen Ozean von einer Insel zur nächsten zu kommen, sind sie meist geflogen. Grit Dielmann hat es ausgerechnet: acht Flüge pro Person. „Das tut weh“, sagt sie. Und: „Das ist nicht zu entschuldigen.“ Flugscham heißt das wohl heutzutage.
Charlotte Wilkens, Hartz IV-Empfängerin
Die Dielmanns sind politisch im linksliberalen Spektrum anzusiedeln, sie wählen „progressiv“, wie sie sagen. Sie sind politisch wie ökologisch gut informiert, finanziell gehören sie in Deutschland zu den Gut- bis Besserverdienenden. In Australien indes, wo die Lebenshaltungskosten höher sind, müssen sie rechnen. Brot, Milch und Käse sind etwa doppelt so teuer wie hierzulande, Obst und Fleisch kostet etwa anderthalb mal so viel. Und doch zählen die Interims-Melbourner zu jenen Menschen, die – weil sie es sich finanziell leisten können – mehr Energie und Ressourcen verbrauchen als sozial Schwächere und Abgehängte.
Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Einkommen und Ökobilanz, das hat das Umweltbundesamt (UBA) 2017 in einer repräsentativen Studie herausgefunden. Der Zusammenhang existiert unabhängig davon, ob sich jemand als umweltbewusst einschätzt oder nicht. Zusammengefasst lässt die Studie folgendes Ergebnis zu: Wer mehr Geld hat, kauft sich umweltschonende Hausgeräte wie Kühlschrank und Waschmaschine, aber auch ein größeres Auto. Steckt Geld in die Wärmedämmung, wohnt aber auch in einer größeren Wohnung. Fährt Rad, fliegt aber öfter.
Manche müssen lernen zu verzichten
Charlotte Wilkens gehört nicht zu denen mit mehr Geld. Die gelernte Setzerin ist seit Jahren arbeitslos. Als die Zeitungs- und Buchproduktion digitalisiert wurde, wurde sie gekündigt. Nicht sofort, aber als sie sich weigerte, Arbeiten zu übernehmen, für die sie nicht ausgebildet war. Heute lebt die inzwischen 54-Jährige von Hartz IV. Umschulungen hat sie abgelehnt, sie sagt: „Ich will weder Köchin noch Altenpflegerin sein“, Jobs, die ihr zum Quereinstieg angeboten wurden. Wilkens will wenigstens „etwas Artverwandtes“ machen.
In diesen Tagen dreht sich alles ums Klima. Aus dem einsamen Protest von Greta Thunberg in Stockholm ist eine globale Bewegung geworden. Sie ruft zum weltweiten Streik auf. Am 20. September protestiert „Fridays For Future“ in 400 deutschen Städten, weltweit soll es 2.000 Aktionen in 120 Ländern geben. Gleichzeitig stellt die Bundesregierung die Weichen für eine strengere Klimapolitik.
Die taz ist Teil der Kampagne „Covering Climate Now“. Mehr als 200 Medien weltweit setzen bis zum UN-Klimagipfel vom 21. bis 23. September in New York gemeinsam genau ein Thema: Klima, Klima, Klima.
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Sie hat 424 Euro im Monat zu Verfügung, den üblichen Hartz-IV-Satz. „Das reicht gerade so“, sagt sie. Wilkens lebt allein, hat keine Kinder, zur Zeit auch keinen Freund. Sie brauche nicht viel, sagt sie: „Ich habe gelernt zu verzichten.“ Aber ein neuer Kühlschrank könnte es schon mal sein. Der in ihrer Küche ist über 20 Jahre alt und rostet an der oberen linken Ecke. „Die Ökobilanz des Gerätes ist grauenhaft“, sagt die Frau. Wilkens heißt anders, ihr richtiger Namen soll nicht in der Zeitung stehen – um ihr nicht die letzten Chancen auf einen neuen Job zu verbauen. So hofft sie jedenfalls.
Urlaub? „Ist nicht drin.“ Das letzte Mal war sie vor acht Jahren länger außerhalb Berlins: zwei Wochen Campingurlaub mit Freunden. Sie fährt höchstens mal ein Wochenende nach Leipzig zu einer Freundin, mit dem Flixbus. Oder mit der S-Bahn nach Rüdersdorf, einem Berliner Vorort, zu Verwandten.
Aus Protest CDU gewählt
Bei der letzten Bundestagswahl 2017 hat Wilkens CDU gewählt. „Das erste Mal“, sagt sie: „Aus Protest.“ Sonst habe sie ihr Kreuz immer bei der SPD gesetzt. „Aber die macht nichts für Menschen wie mich.“ Hartz IV ist immer noch da, obwohl „die Sozen“ das längst wieder abgeschafft haben wollten. Wilkens sagt: „Mein Frust ist groß.“ Die Grünen empfindet sie als „Ökoschwätzer“ und „Spinner“, die „satt in großen, schicken Wohnungen hocken und sich um die Zukunft keine Gedanken machen müssten“. Umweltschutz interessiert Wilkens nicht. Sie sagt wörtlich: „Im Winter ist mir mein warmer Arsch wichtiger als saubere Luft.“
Wilkens kauft im Discounter ein. „Mehr kann ich mir nicht leisten“. Dort greift sie eher selten zu Gemüse und Obst und noch seltener zu Bio-Gemüse, dafür öfter zu Fertigprodukten. „Meistens habe ich keine Lust zu kochen“, sagt sie: „Und wenn ich Hunger habe, muss es schnell gehen.“ Ein Fahrrad besitzt sie nicht, das wurde ihr vor drei Jahren geklaut. Dafür fährt sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln: S-Bahn, U-Bahn, Bus, Straßenbahn. Wenn sie die 27,50 Euro für das Sozialticket nicht hat, läuft sie. Oder bleibt zu Hause. Wilkens ökologischer Fußabdruck, den sie mit der taz errechnet, liegt nicht nur weit unter dem deutschen, sondern auch knapp unter dem weltweiten Durchschnitt.
Dem Umweltbundesamt zufolge produzieren Menschen wie Wilkens, die mit dem Fernbus fahren, pro Kilometer 32 Gramm CO2. Dagegen erzeugt ein Flugkilometer, wie ihn Familie Dielmann mehrfach wegschrubbt, rund 201 Gramm. Es ist verrückt: Das gehobene und kritisch-kreative Milieu, zu dem sich die Dielmanns rechnen, verstärkt die Klimakatastrophe um ein Vielfaches mehr als Wilkens, der Umweltschutz egal ist. In der UBA-Studie heißt es: „Der Einfluss des Einkommens ist dabei besonders groß: Die Befragten in der untersten Einkommensgruppe haben im Mittel einen Gesamtenergieverbrauch von rund 10.000 Kilowattstunden pro Jahr (kWh/a), bei Befragten mit hohen Einkommen liegt er mit knapp 20.000 kWh/a fast doppelt so hoch.“ Angehörige der prekären Milieus haben also den geringsten Energieverbrauch.
Orte des Klimawandels
Grit Dielmann ist ratlos, wie sie ihr Leben ohne Fliegen organisieren soll. „Australien ist meine zweite Heimat geworden, ich muss da immer wieder hin“, sagt sie. Und Charlotte Wilkens? Sie winkt ab: „Ist doch eh alles egal.“ Dann lächelt sie: „Wenigstens einmal besser sein als diejenigen, die sich für etwas Besseres halten.“
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