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Kommentar EU-FlüchtlingspolitikVöllige moralische Verkommenheit

Daniél Kretschmar
Kommentar von Daniél Kretschmar

Es ist Aufgabe der EU, die Flüchtlingskrise humanitär zu lösen. Viel mehr als unterlassene Hilfeleistung ist bisher allerdings nicht passiert.

Solange die EU ihren Pflichten nicht nachkommt, muss es eben eine junge Kapitänin tun Foto: dpa

D as vorläufige Ende der neuerlichen Odyssee der „Sea-Watch 3“ am Samstag im Hafen von Lampedusa, inklusive Verhaftung der Kapitänin Carola Rackete, ist ein weiterer trauriger Beleg der völligen moralischen Verkommenheit der Friedensnobelpreisträgerin EU. Die blauen Fahnen der Freiheit, Demokratie und Menschenrechte werden gern geschwenkt in Wahlkämpfen und natürlich in Abgrenzung zum Rest der Welt, beherrscht von brutalen Despoten und irren Präsidenten. An der eigenen Südgrenze aber weht der Hauch des Todes übers Mittelmeer. Seit 2014 sind dort mehr als 17.000 Menschen bei dem Versuch ertrunken, Europa in Booten zu erreichen.

Statt diese Menschen zu retten, versucht die EU, sie bereits in Afrika abzufangen. Wenn nötig, werden dabei Sklaverei und Folter vor Ort billigend in Kauf genommen. Auf dem Meer überwacht Frontex die Fluchtrouten, jedoch nicht um der Menschenleben willen. Dass in dieser Situation private Organisationen die zivilisatorisch vornehme Aufgabe der Seenotrettung übernehmen, nein, übernehmen müssen, ist ein Skandal allererster Güte. Die wiederholte Kriminalisierung der Retter*innen unterstreicht nur das absichtsvolle, menschenverachtende Kalkül hinter der über Jahre unterlassenen Hilfeleistung der EU-Staaten.

Nun solidarisieren sich deutsche Politiker wie Außenminister Heiko Maas (SPD) oder Cem Özdemir (Grüne) auf Twitter und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im ZDF-Sommerinterview mit der verhafteten Sea-Watch-Kapitänin. Das ist nett. Besser wäre es, würden sie nur einen Gedanken daran verschwenden, dass die auch von ihren Parteien getragene Politik der Abschottung (Dublin-Regeln, Abschiebungen, Asylbewerberleistungsgesetz) ihren Anteil am Erstarken der europäischen Rechten haben.

Die Verantwortung für die Menschenleben im Mittelmeer lässt sich nicht einfach abschieben, nicht nach Libyen, nicht nach Italien – und schon gar nicht auf die mutige private Rettungsflotte. Die humanitäre und demokratische Lösung der sogenannten Flüchtlingskrise ist eine Aufgabe der gesamten EU.

Solange diese Aufgabe nicht angegangen wird in Berlin und Brüssel, Rom und Paris, so lange wird eben eine junge Kapitänin vor Lampedusa Menschen retten und den Finger auf diese gewaltig klaffende und sehr europäische Wunde legen. Immerhin der Unterstützung einer starken Zivilgesellschaft kann sie sich dabei sicher sein.

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Daniél Kretschmar
Autor
Jahrgang 1976, Redakteur für die tageszeitung 2006-2020, unter anderem im Berlinteil, dem Onlineressort und bei taz zwei. Newsletter unter: https://buttondown.email/abgelegt
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27 Kommentare

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  • Sea Watch hält nicht nur Regierungen den Spiegel vor dem Kopf!

    Die „völlige moralische Verkommenheit“ ist das Markenzeichen Der Industrieländern schon seit Jahrhunderten. Sie heißen Krieg, Kolonialismus, Sklaverei, millionenfacher Hungertot, Klimawandel, Artensterben.

    Die moralische Empörung darüber spielt sich dabei auf höchsten Niveau ab und geht im wesentlichen darum, wer beim humanistischen Schneckenrennen die Nase vorn hat.

    Gegen Open Borders gibt es eine fette breite Mehrheit, die vom rechten Ende bis zum linken Ende reicht. Maßnahmen gegen Hungertot steht dabei nicht auf Tagesordnung.

  • Wie unterscheidet sich die EU eigentlich von einer kriminellen Vereinigung, wenn Menschenleben keine Rolle spielen und Lebensretter kriminalisiert werden?

  • taz: "Die humanitäre und demokratische Lösung der sogenannten Flüchtlingskrise ist eine Aufgabe der gesamten EU."

    Die EU interessiert sich nicht für 'Humanität'. Einem armen Land nach dem anderen wurden "Freihandelsabkommen" diktiert, die ihre heimische Produktion vernichtet und ihre Märkte zur Beute westlicher Agrarmultis und Industriekonzerne gemacht haben. Da das 'Big Business' ohne weitere "Störungen" aber weitergehen soll, wird den naiven Bürgern die junge Kapitänin jetzt als das Hauptproblem präsentiert. Innenminister Salvini von der rechtsradikalen Lega-Partei twitterte „Verbrecherische Kapitänin festgenommen, Piratenschiff beschlagnahmt, Höchststrafe für die ausländische Nichtregierungsorganisation“. Die Mainstreammedien - auch in Deutschland - machen da natürlich bereitwillig mit, ohne anzusprechen, warum Millionen Menschen überhaupt auf der Flucht sind, denn die Mainstreammedien sind fest in der Hand der Reichen und Mächtigen.

    • @Ricky-13:

      Das mit den Mainstreammediengedüdel ist doch genau das gleiche Lügenpressegedöns, was man vor n den Rechtspopulisten hört.

      • @Rudolf Fissner:

        Die Netiquette scheint für Sie scheinbar nicht zu gelten.

        • @Ricky-13:

          Tja, die taz als Mainstreammedium ist halt in der Hand der Mächtigen und nicht von Populisten :-)

        • @Ricky-13:

          Gemach. Gemach. Gelleweller.



          Die Moddertistas sind schonn - zwar nur mäßig 0/1 - aber doch hinreichend - boterfahren:



          Netiquette nützt jarnischt - kerr.



          Nur - Abschalten hilft. Newahr.



          Normal - Schonn......servìce.

  • Dass von Friedensnobelpreisträgern nicht allzu viel zu erwarten ist, wurde oft genug unter Beweis gestellt. Die EU reiht sich da nahtlos ein.



    „Völlige moralische Verkommenheit“ trifft hier leider den Nagel auf den Kopf. Humanitär handelnde Akteure jetzt wie Kriminelle zu behandeln, ist weder neu, noch originell, sondern weithin sichtbarer Ausdruck dieser Verkommenheit. Hier wird ein Krieg geführt gegen das, was einmal demonstrativ die „europäischen Werte“ in Abgrenzung zu allerlei Barbarei sein sollten, heute in der Praxis aber nur noch die modernere Form von Barbarei darstellt.

  • …anschließe mich. 👹

  • Nein, es ist nicht „Aufgabe der EU, die Flüchtlingskrise humanitär zu lösen“. Die EU ist eine Wirtschaftsorganisation, und wirtschaftliche Fragen sind keine sozialen. Dass die EU sich mit sozialen Fragen nicht beschäftigt, ist so gewollt und bislang auch so akzeptiert. Selbst von der taz.

    Im Übrigen ist Europa nur ein Teil des Problems. Die Herkunftsländer der Flüchtenden sind ein anderes. Wenn überhaupt, sollte es also eine Aufgabe der UN sein, die „Flüchtlingskrise humanitär zu lösen". Nur: Wer ist die UN? Welche Menschen vertreten diese Organisation, welche Motivation haben diese Leute und vor allem: Welche Befugnisse haben sie?

    Momentan sehe ich eher, nun ja, schwarz für eine humanitäre Lösung der „Flüchtlingskrise“. (Vorsicht übrigens mit diesem Wort. Es sind nämlich eher die Europäer, die angesichts der Mittelmeer-Toten die Krise kriegen, nicht die Flüchtenden selber. Die hatten ihre Krise schon im Heimatland, sonst wären sie gar nicht geflüchtet.) Da liegt nämlich keine echte Macht bei der UN.

    Selbst wenn das UN-Personal also Willens und fähig wäre, die Krise zu beheben, würden seine Vorschläge bei den für das Desaster Verantwortlichen höchstens ein müdes Lächeln provozieren.

    Folgerichtig hat sich nicht nur „die EU“ (deren Führungspersonal zu großen Teilen aus überzähligen National-Politikern besteht) vornehm zurückgehalten in der „Flüchtlingsfrage“, sondern auch „die UN“.

    Man muss, um etwas zu bewirken, halt nicht nur wollen und können, man muss auch dürfen. Und in diesem Fall darf – wie in jedem anderen – vor allem der, der drohen kann. Auch, wenn er keine Lösung anzubieten hat, sondern nur die Pumphose voll bis rauf zum Bund.

    Bleiben also vorerst nur Einzelne, die „den Finger auf diese [...] Wunde legen“, ohne sie heilen zu können. Denn die angeblich „starke Zivilgesellschaft“ ist ja zu schwach, um mehr zu tun, als Helden zu applaudieren. Würde Demokratie was verändern, wäre sie längst verboten, heißt es. Da scheint was dran zu sein.

    • @mowgli:

      Die EG war eine reine Wirtschaftsgemeinschaft, eigentlich definiert sich die EU etwas weiter gefasst.

      • @Hampelstielz:

        …das ist aber fein formuliert.

        unterm—— einfach mal reinlesen -



        BESUCH BEI DEN EUROKRATEN



        Ein schwarzes Loch namens Verantwortung



        VON DIRK SCHÜMER, BRÜSSEL -



        m.faz.net/aktuell/...n-12951115-p2.html

        • @Lowandorder:

          Interessanter Artikel, Danke für den Link.

  • Wieso ist es allein Aufgabe der EU die Flüchtlingskrise zulösen? Spielen da die Herkunftsländer nicht auch eine Rolle und müssen mit in die Verantwortung genommen werden?

    • @Zven:

      Sehr realistisch, dass meist autokratische und korrupte Regierungen daran mitwirken werden. Die Aggrarsubventionen der EU, die einheimische Märkte gezielt abschießen, damit eine verarmte Bevölkerung leichter ausgebeutet werden kann, der Müll, den die westliche Welt und zu großem Teil europäische Staaten in Afrika abladen, die nicht enden wollende Unterstützung von Despoten usw. usf. sind natürlich nur ein kleiner Teil des Elends des afrikanischen Kontinents.



      Fluchtursache als Lösung denken, dass nenne ich mal einen humanistischen Ansatz.

  • Wenn ich es richtig verstanden habe, lehnen die Italiener keineswegs ab, dass die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer herausgeholt werden, sondern dass die aus dem Wasser geretteten in Italien an Land gebracht werden.



    Dieser Standpunkt ist keineswegs neu, und wenn sich nichts ändert, wird nach der nächsten Rettungsaktion das gleiche und für die Flüchtlinge quälende „Geschacher um die Geretteten“ erneut beginnen. Wieso fragt SeaWatch nicht bei anderen Mittelmeer-Anrainern nach? Die bereits mehrfach mit Italien gemachten Erfahrungen sollten doch Grund genug sein? Der Einwand, dass dies zusätzliche Zeit zur Überfahrt kosten würde, zieht nicht. Auf jeden Fall wird es weniger Zeit kosten, als die 2 Wochen Warten vor Lampedusa. Oder hat es ideologische Gründe, dass es Italien sein MUSS?



    Betreffs der „moralischen Verkommenheit“ der EU: Der DLF meldete gestern zur Aufnahme der 40 Flüchtlinge: „Die 40 Flüchtlinge, die noch an Bord waren, konnten das Schiff inzwischen verlassen. Mehrere Länder wie Deutschland, Portugal, Frankreich und Luxemburg haben sich bereit erklärt, die Menschen aufzunehmen." www.deutschlandfun...rn:news_id=1022410



    Das hört sich ganz anders an - oder?

  • „An der eigenen EU-Südgrenze aber weht der Hauch des Todes übers Mittelmeer. Seit 2014 sind dort mehr als 17.000 Menschen bei dem Versuch ertrunken, Europa in Booten zu erreichen.“



    Das sind jedes Jahr 2800 Tote und jeden Monat 40 Tode.

    Ich habe das bis heute nicht verstanden, weshalb der türkische Präsident Erdogan so stark mit Bashing überzogen wurde, obwohl er maßgeblich dafür sorgte, dass ca. 3. Mio. Kriegsflüchtlinge aus Syrien und nahen Osten in der Türkei Zuflucht finden konnten.



    Ist das nicht eine absolut humanitäre Leistung, blickt man auf das niederträchtige Verhalten Europas?



    Den nächsten Friedensnobelpreis sollte Erdogan bekommen und wir Europäer sollten uns sowas von schämen.



    Die Einen wollen an der Grenze auf Flüchtlinge schießen, die Anderen wollen die Flüchtlinge auch ermorden und organisieren in einem menschenverachtenden Kalkül die Unterlassung der erforderlichen Hilfeleistung, damit die Menschen im Mittelmeer ertrinken.

    • @Nico Frank:

      Diese Flüchtlinge in der Türkei fristen ein sklavenähnliches Dasein und werden wirtschaftlich ausgebeutet. Erdogan hat versucht, sich als Despot zu installieren. Vielleicht war der Kommentar auch ironisch gemeint, dann hab ich ihn nicht so verstanden.

  • Carola Rackete rettet die humanitäre Ehre Europas und der kleine, italienische Nachwuchs-Duce pinkelt Ihr ans Bein.



    Italien ... einst Wiege der Renaissance und des Humanismus ... einfach nur zum heulen.

  • Herr Kreschmar liegt richtig, wenn er auf die moralische Pflicht zur Seenotrettung hinweist. Leider lässt er jedoch außer Acht, dass die Probleme aus dem überdurchschnittlich hohen Bevölkerungswachstum Zentralafrikas nicht in Europa gelöst werden können.

  • Es ist eine dringende Aufgabe für die beginnende Legislatur der Europäischen Union eine humane, und also vernünftige, Flüchtlingspolitik Gesetz werden zu lassen. Der aktuelle Zustand ist menschenrechtlich und seerechtlich nicht haltbar.

  • Steinmeier; war das nicht der, der damals in Guantanamo.....

    • @Lapa:

      Aber Hallo & sowas von über die fünf



      Maaßen - anlaß&rechtsgrundlos -



      Murat Kurnaz weggeschlossen.



      & im BT. zu Wolfgang Nešković -



      “Nein. Noch nicht einmal Bedauern!“



      Ekelhaft •

      & nochens -



      Der feine Herr van Bellevue - hatte auch mal nichts gegen die Einführung des Kriegsstrafrechts einzuwenden.



      & Genau Genau -



      Wem dann dazu - sein Hintersasse -



      Präsi BT. Wolfgang “exIM Mielke auf Rädern“ Schäuble van de Briefumschläge & die schauderhafte Nachtlektüre - einfällt. Gellewelle



      Liegt genau richtig.

      unterm——



      www.zeit.de/2007/3...bles_Nachtlektuere



      &



      www.welt.de/welt_p...Nachtlektuere.html

      kurz - Da hamer in Schland!



      Eine schwer suboptimal-rechtsaffine



      Doppelspitze - am Start 😈 Gellewelle



      Na - Si’cher dat. Dat wüßt ich ever.



      Da mähtste nix. Newahr.



      Nö. Normal nich. 👹

      Na Mahlzeit

  • "Statt diese Menschen zu retten, versucht die EU, sie bereits in Afrika abzufangen. "

    Genau das ist der richtige Weg. Menschen müssen davon abgehalten werden, sich auf den lebensgefährlichen Weg nach Europa zu machen (der für viele auch schon in Afrika tödlich endet). Stattdessen eben Kontingente an wirklich Schutzbedürftigen - auch Kranke/Frauen/Kinder/Alte -, die direkt aus Krisengebieten sicher nach Europa gelangen können.

    Nur durch Abschottung + Fluchtursachenbekämpfung + Sichere Wege nach Europa für bestimmte Gruppen kann man diesen Kreislauf unterbrechen. Und die Akzeptanz für das System in Europa erhalten.

  • Ich persönlich habe zwischenzeitlich nur noch die Hoffnung, dass das Engagement der Chinesen in Afrika die Lebensverhältnisse dort allmählich so verbessert, dass die afrikanischen Männer keinen Grund mehr sehen bzw. keine Motivation mehr haben, ihr Land zu verlassen, allenfalls um in Europa vielleicht ein Studium zu beginnen.



    Weshalb wir Europäer uns nicht hilfreich in Afrika engagieren konnten, verstehe ich nicht. Faire Handelsbeziehungen wären das mindeste gewesen, aber anscheinend bekommen wir Europäer nicht einmal das hin.

    • @*Sabine*:

      Es ist ein von äußerst fragwürdigen Gruppen gehegter Mythos, dass nur Männer aus Afrika fliehen. Auf jedem Flüchtlingsboot finden sich auch Frauen und Kinder.

    • @*Sabine*:

      "Weshalb wir Europäer uns nicht hilfreich in Afrika engagieren konnten, verstehe ich nicht."

      Da fängt es doch schon an. Gut gemeinte Entwicklungshilfe. Heroische selbstlose Weiße, die den armen pocs zeigen wo es langgeht.

      Überfällig wäre eine ehrliche Bestandsaufnahme, welche Art der westlichen Einmischung in der Vergangenheit wirklich Positives bewirkt hat.