Empörung bei der Berliner Tafel: Essen als Einnahmen verrechnet
Ein Mann bekommt weniger Wohngeld, weil das Bezirksamt Lichtenberg ihm die Essensspenden der Tafel als Einnahmen anrechnet.
Seit über 25 Jahren unterstützt die Berliner Tafel Bedürftige mit Lebensmitteln. Eigentlich eine gute Sache: Die Tafel erleichtert vielen tausenden Menschen den Alltag. Essen, das noch genießbar ist, landet auf dem Teller statt im Müll. Genauso alt wie die Organisation ist aber auch die Kritik daran: Die Tafel nehme den Sozialstaat aus der Pflicht, heißt es. Sie erfülle zumindest teilweise die Aufgabe der Daseinsvorsorge, die eigentlich dem Staat obliegt.
Die KritikerInnen der Tafel haben seit Montag ein Beispiel mehr, mit dem sie argumentieren können: Wie nun bekannt wurde, hat ein Berliner in seinem Wohngeldantrag angegeben, dass er Lebensmittel von der Tafel bezieht – woraufhin er weniger Sozialleistungen bekam. In einem Schreiben, das der taz vorliegt, verbuchte das Bezirksamt Lichtenberg die Lebensmittel unter dem Stichwort „Sachbezug Tafel“ als „Einnahmen“ von jährlich 2.892 Euro.
Der Mann legte Widerspruch ein, der aber zurückgewiesen wurde. In einem zweiten Schreiben schlüsselte das Amt auf, „der Wert der als Sachbezug zur Verfügung gestellten Verpflegung“ betrage 241 Euro im Monat. Für Mittag- und Abendessen seien monatlich je 95 Euro, für das Frühstück 51 Euro veranschlagt worden.
Die Berliner Tafel zeigte sich angesichts dieses Falles am Montag entsetzt: „Dieses Vorgehen ist willkürlich und rechtswidrig“, so die Vorsitzende Sabine Werth. Die Tafel habe immer bewusst auf staatliche Fördergelder verzichtet, „um genau diese unzulässige Verknüpfung von Sozialleistungen und Lebensmittelspenden zu vermeiden“. Die genannten Summen entbehrten jeder Grundlage. Werth sagte: „Der Staat hat eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Bürger*innen. Die darf in keiner Weise mit dem ehrenamtlichen Engagement der Berliner Tafel verrechnet werden.“
Die zuständige Bezirksstadträtin Katrin Framke (Linkspartei) betonte zwar, die Wohngeldstelle handele auf der Grundlage der Gesetze, sie distanzierte sich aber gleichzeitig von dem Vorgehen. „Juristisch handelt es sich hier möglicherweise um eine Grauzone“, schrieb Framke. Und weiter: Sie selbst sei „der Auffassung, dass Unterstützung durch Essen, ob durch gemeinnützige Vereine oder die Familie, grundsätzlich nicht als Einkommen angerechnet werden sollte“.
Bleibt zu hoffen, dass das Bezirksamt für diesen einen Fall doch noch eine andere, bessere Lösung findet. Er ist aber vor allem ein Symptom: Der Sozialstaat verlässt sich bei der Versorgung der Armen eben auch auf die Tafel, sie ist eine feste Größe geworden – was so eigentlich nie vorgesehen war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Bestürzung und erste Details über den Tatverdächtigen
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen