Kommentar Neue Spitze der Grünen: Aus der Mitte integrativ
Die Grünen sortieren sich neu, jenseits der klassischen Flügellogik. Der Start wirkt gelungen: professionell und gelassen.
W enn Parteien eine „Erneuerung“, gar einen „Aufbruch“ versprechen, sollte man misstrauisch sein. Doch die Grünen, oh Wunder, füllen diese Floskeln gerade mit Esprit. Der Aufbruch an der Parteispitze ist geglückt – das war nicht selbstverständlich. Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock stehen in Zukunft zwei Politiker ganz vorne, die Elan, Schwung und Mut verkörpern. All das werden die Grünen in den dürren Oppositionsjahren dringend brauchen.
Was für einen großartigen Auftritt hat Baerbock, die junge Brandenburgerin, da auf dem Parteitag hingelegt. Sie blies mit einer wuchtigen Rede die Skeptiker und deren Zweifel geradezu aus der Halle – und stellte sogar Habeck in den Schatten. Plötzlich wirkte der grüne Medienstar wie der Mann an ihrer Seite, nicht umgekehrt. Wer Baerbock zuhörte, spürte einen Veränderungswillen, den die harmlosen Grünen lange nicht mehr ausstrahlten. Das ist wirklich neu, und ja, das macht Spaß, wie es manch Grüner formulierte.
Es ist wahr: Beide, Habeck und Baerbock, sind Realos. Das Duo hat also den Makel, die klassische Flügellogik auszuhebeln. Rücken die Grünen nun vollends in die bürgerliche Mitte? Eine sichere Antwort lässt sich noch nicht geben. Zweifelsohne sind die Linksgrünen nun noch stärker in der Defensive, als sie es eh schon waren. Anton Hofreiter, der linksgrüne Fraktionschef, bekommt eine wichtigere Rolle. Auch die Machtbeziehung von Partei und Fraktion könnte sich neu sortieren. Doch Habeck und Baerbock wollen offenbar ohne Flügel-Scheuklappen führen. Aus der Mitte heraus, integrativ und gemeinsam. Das wäre ein entscheidender Unterschied zu dem heillos zerstrittenen Möchtegern-Team Özdemir/Peter.
Auch inhaltlich positionieren sich die Neuen jenseits üblicher Reflexe. Sie warben zum Beispiel dafür, das Ökologische mit sozialer Gerechtigkeit neu zusammenzudenken. Habeck nahm gar das böse Wort Umverteilung in den Mund und forderte eine härtere Besteuerung von Vermögen. Solche Töne hat man lange nicht von wichtigen Realos gehört. Baerbock, gestählt in Brandenburger Realitäten, wiederum erzählte am Rednerpult packend von verdeckter Armut. Von Kindern, die nicht zum Kindergeburtstag kämen, weil ihre Mütter kein Geld fürs Geschenk hätten.
Professionell und angstfrei
Dieser empathische, linksprogressive Sound, gepaart mit der Ansage, gesellschaftliche Mehrheiten in den Blick zu nehmen, ist auf Augenhöhe mit den Herausforderungen unserer Zeit. Die Grünen dürfen nicht die Augen vor der sozialökonomischen und kulturellen Spaltung der Gesellschaft verschließen. Sonst machen sie sich unglaubwürdig. Wer Öko sagt, kommt eigentlich nicht darum herum, auch für faire Reichtumsverteilung zu werben. Aus Angst vor mächtigen Wirtschaftsverbänden haben sich die Grünen das jahrelang nicht mehr getraut.
Die Delegierten, die sich auf dem Parteitag in Hannover trafen, haben diesen personellen Aufbruch professionell gemanagt. Habeck hatte eine Acht-Monate-Frist gefordert, um seine Nachfolge in Schleswig-Holstein zu regeln. Und er verband das mit der Drohung, sonst nicht zur Verfügung zu stehen. Die Grünen nahmen diese kalte Erpressung ihres charismatischen Chefs gelassen hin und widerstanden der Versuchung, sich in Satzungsfragen zu verhaken. Erwachsen wirkte das und abgeklärt – ein Exempel hätte die Partei schwer beschädigt.
Die Geschlossenheit der Jamaika-Sondierungen, die allseits gelobt wird, trägt bisher durch. Eine Schlüsselszene dafür war, dass Altkämpe Jürgen Trittin Habeck mit einer Rede die vielleicht wichtigste Brücke baute. Entscheidend wird sein, wie die neuen ChefInnen ihre Ansagen inhaltlich ausfüllen. Denn wie man das Soziale oder Armut mitdenkt, beweist sich im Konkreten – nicht in lyrischen Parteitagsreden. Die Erzähler der neuen Grünen-Story sind gut. Aber was genau auf den Buchseiten stehen soll, ist noch offen.
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