Winfried Kretschmann zur Landtagswahl: „Es kommt richtig etwas ins Rutschen“
Am 13. März sind Wahlen – auch in Baden-Württemberg. Ministerpräsident Kretschmann über Europas Zukunft, pragmatische Politik und die Grünen als Volkspartei.
taz: Herr Ministerpräsident, was steht am 13. März zur Wahl, Ihre Politik oder die der CDU-Kanzlerin Merkel?
Winfried Kretschmann: Wir haben natürlich unterschiedliche Aufgaben, aber ich teile die Position der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise: Es geht um die Krise hinter der Krise. Die treibt mich um und sie auch. Wir müssen alles tun, um die Krise europäisch zu lösen. Denn sonst droht Europa zu scheitern. Das ist jetzt sehr dominant in diesem Wahlkampf und damit steht schon ein bestimmter Kurs in der Politik zur Debatte.
Würden Sie den Begriff Schicksalswahl verwenden?
Nein. Eine Schicksalswahl gibt es in der Demokratie erst, wenn die Gefahr besteht, dass rechtspopulistische Kräfte die Regierung stellen. Es ist eine Richtungswahl. Die zwei großen Überschriften unserer Richtung sind: innovative Wirtschaft und Bildungsgerechtigkeit. Also das Wirtschaftswachstum vom Naturverbrauch und den Bildungserfolg von der Herkunft entkoppeln.
Sie liegen in Umfragen jetzt bei um die 30 Prozent. Wollen Sie stärkste Partei werden?
Ich sag jetzt sicher nicht, ich will das nicht. Aber man darf jetzt auch nicht gleich übermütig werden. Ich bleibe auf dem Teppich . . .
. . . auch wenn er fliegt. Das haben Sie doch vor fünf Jahren schon gesagt.
Ist einfach so.
Wenn Sie Ihre Wahl gewinnen, schwächen Sie die Kanzlerin.
Es schwächt innerparteilich immer, wenn man Wahlen verliert, aber das Paradox ist nicht auflösbar. Vielleicht stärkt es sie sogar am Ende.
Geht diese Nähe für einen Grünen ein bisschen weit?
Es geht bei der Frage um unglaublich viel, das muss man ein Stück weit vom Wahlkampf trennen. Wenn Europa zerbricht, das wäre aus meiner Sicht eine epochale Katastrophe. Da geht es um mehr als die Frage, wer Ministerpräsident in Baden-Württemberg ist. Der Schengenraum ist vom Bruch bedroht, der Brexit droht, populistische Bewegungen kommen hoch, die – ob rechts oder links – alle nicht proeuropäisch sind. Dem französischen Präsidenten Hollande sitzt der Front National im Genick, dann noch Putin – da kommt richtig etwas ins Rutschen.
Ich spüre in diesem Wahlkampf, dass die Leute erwarten, dass man diese Zusammenhänge klarmacht und nicht nur – wie mein Herausforderer – darüber streiten will, ob man Sachleistungen in Form von Zettelwirtschaft oder mit einer bargeldlosen Einkaufskarte umsetzt.
Sie glauben, dass Sie mit dieser differenzierten globalen Problemdarstellung die Wahl gewinnen?
Nein, ich mache es umgekehrt, ich versuche den Menschen klarzumachen, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als uns global aufzustellen. Die Linken tun so, als lebten wir noch immer in einer nationalen Ökonomie. Es ist aber gefährlich, zu glauben, mit unserem Mittelstand, der sehr gut ist in der Hardware, kann uns nichts passieren. Da sollten wir uns nicht täuschen. Die digitale Revolution ist da. Von den 20 größten IT-Firmen ist nur eine aus Europa, Gott sei Dank aus dem Ländle: SAP. Das zeigt, was da los ist. Und es zeigt, warum wir das Thema Industrie 4.0 so früh und konsequent beackern.
Muss man auch als Grüner akzeptieren, dass Menschen das Hemd in der Regel näher ist als der Kittel, also eigene Interessen vor den berechtigen Interessen anderer kommen?
Ja, das ist so. Ich war aus diesem Grund lange skeptisch, ob wir Grünen das Zeug zur Volkspartei haben. Aber heute können wir zeigen, dass wir Wachstum vom Naturverbrauch entkoppeln müssen. Wenn man das kann, hat man auch das Zeug zur Volkspartei. Und wenn man zeigen konnte, dass man einen Industriestandort erfolgreich führen kann, auch.
Sowohl parteiinterne Stimmen als auch Ihr CDU-Konkurrent Guido Wolf kritisieren, die Kretschmann-Grünen hätten sich von ihren programmatischen Zielen verabschiedet. Als Beispiel wird ihr angeblich opportunistisches Agieren beim Asylrecht genannt.
Beim Asylrecht wird andersrum ein Schuh draus. Es spielt sich auf der Welt etwas bislang Unbekanntes ab. Und die Klimaflüchtlinge erscheinen erst am Horizont. Für die haben wir noch nicht einmal einen Rechtsstatus. In dieser neuen, unbekannten Welt passt der Begriff „Asylrecht“ schon nicht mehr so recht. Vor der Flüchtlingskrise hat es gepasst und auch die moralische Grundierung hat gepasst, aber jetzt nicht mehr. Da habe ich überhaupt kein Problem mit meiner Position, einem pragmatischen Humanismus: Wir packen an.
Sie erwägen jetzt auch noch, der Etikettierung von Marokko, Tunesien und Algerien als sichere Herkunftsländer im Bundesrat zuzustimmen.
Was bedeutet sicheres Herkunftsland konkret? Das Grundrecht auf Asyl bleibt bestehen. Die Verfahren sind beschleunigt. Darum geht es, und darum kann man es in Erwägung ziehen. Ich lasse gerade nach Maßgabe der Verfassungsordnung prüfen, was es in diesem Zusammenhang bedeutet, dass in allen Maghreb-Staaten Homosexualität strafbar ist. Im Übrigen ist der Begriff „sicher“ immer relativ. Nehmen wir einen Staat wie Pakistan, 180 Millionen Menschen. Wenn diese Menschen plötzlich alle einen Anspruch auf Asyl hätten, wer könnte das bewältigen? Kein Mensch.
Speziell von Spitzengrünen in Berlin heißt es, der CSU-Ministerpräsident Seehofer und auch der Grüne Boris Palmer würden „rechte Hetze“ bedienen. Wie sehen Sie das?
Der Pippi-Langstrumpf- und Blonde-Töchter-Provokationsanteil in Palmers Aussagen ist nicht hilfreich gewesen. Aber vom reinen Sachgehalt her hat das Palmer-Interview nichts Skandalöses. Und Seehofer: Wenn ich sehe, was die Bayern an Integrationspolitik machen, wie sie die Leute unterbringen, daran ist nichts zu kritisieren.
Ich bin zwar nicht seiner Meinung, aber wer von einer Obergrenze von 200.000 redet, der schottet sich doch ganz offensichtlich nicht ab. Die AfD dämonisiert man zu Recht, die ist von allen guten Geistern im wahrsten Sinne des Wortes verlassen. Das ist rechte Hetze. Aber Seehofer in die rechtsextreme Ecke zu schieben ist völlig überspannt. Bei seinem Putin-Besuch hat allerdings mein Verständnis aufgehört. Das geht überhaupt nicht.
Sie wägen Ihre Politik genau ab. Wo ist bei der grünen Regierungs- und Wirtschaftspartei der Ökofaktor?
Ganz einfach: Nur wenn die Energiewende auch ökonomisch erfolgreich ist, hat sie globale Effekte. Wenn wir nicht überzeugen können, dass ein ökologisches Modell auch ein ökonomisches ist, werden uns die Schwellenländer nicht folgen. Die Chinesen haben 400 Millionen aus der Armut geholt, aber eine Milliarde steckt noch drin. Wenn wir mit der Ökologie auch ein Prosperitätsversprechen verbinden, nehmen wir soziale Verantwortung wahr.
Der Daimler brummt aber weiter fossil vor sich hin.
Es erfordert einen intensiven Prozess mit der Automobilindustrie, sinnvolle Grenzwerte zu setzen, die stimulieren und nicht strangulieren. Die Wirtschaft muss wachsen – aber in die richtige Richtung. Das ist ein fundamentaler Unterschied und deshalb sind wir eine Wirtschaftspartei neuen Typs.
Sind Sie Grün-Schwarz ohne CDU?
Die CDU hat dieses Land 58 Jahre regiert, und damit ist das Land lange Zeit alles in allem ganz ordentlich gefahren. Aber irgendwann haben sie den Anschluss verpasst.
Das haben bis 2011 die wenigsten gemerkt.
Aber da hat man’s dann gemerkt. Wenn ich auf Messen gehe, dann will mir jeder unserer Mittelständler zeigen, wie grün er ist. Alle wollen ihr Portfolio in diese Richtung erweitern, das ist im Zentrum der Wirtschaft. Nicht ich bin schwarz, sondern Baden-Württemberg ist grüner geworden.
Angesichts der notwendigen radikalen Umsteuerung reicht grün reden nicht.
Natürlich geht es zu langsam. Aber rummoralisieren beschleunigt den Prozess ja nun überhaupt nicht. Die Klimakoalition, die ich zusammen mit dem kalifornischen Gouverneur Jerry Brown auf den Weg gebracht habe, halte ich für wegweisend. Da stellen nicht ein paar Moralisten Forderungen, da verpflichten sich 123 führende Industrieregionen der Welt mit 700 Millionen Einwohnern dazu, den CO2-Ausstoß bis 2050 auf zwei Tonnen pro Person zu beschränken. Das geht nur, weil zwei wirtschaftsstarke Regionen aus Deutschland und den USA diesen Weg gehen. Wenn das South Carolina und Mecklenburg-Vorpommern wären, hätte das eher nicht gezogen.
Wenn Sie in Ihrem Wahlspot im Blaumann heiter vor sich hinsägen, da wird es manchem Bundesgrünen den Magen umdrehen. Das ist keine grüne Moderne. Das ist Realitätsflucht.
Ja, das stimmt, das bedeutet für mich, ein Stück aus dem politischen Getriebe herauszugehen. Wenn ich jetzt in meine Stube gehe, wo meine Eckbank steht, die ich gemacht habe, das hat etwas Vertrautes, weil man sie selbst hergestellt hat. Da hat man ein fertiges Werk. Dieses Herstellen hat was unglaublich Kontrapunktisches. Politik dagegen ist ein Prozess. Man wird nie fertig damit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity