taz-Recherche zum „NSU 2.0“: Wieder Polizeidaten abgefragt?
Seit zwei Jahren wird die Anwältin Seda Başay-Yıldız vom „NSU 2.0“ bedroht. Eine neue Drohmail nennt sogar ihre aktuelle Adresse.
Als Absendername der Mail ist „SS-Obersturmbannführer“ angegeben, sie ist nicht direkt an die Anwältin gerichtet und liegt der taz vor. Abgeschickt wurde die Nachricht von der Mailadresse des russischen Anbieters Yandex, die laut Ermittler*innen von dem oder den Tätern benutzt wird. Mehr als 80 Drohschreiben wurden demnach bisher vom „NSU 2.0“ verschickt, die meisten von dieser Mailadresse, die als User-Name ein rassistisches Schimpfwort hat.
Başay-Yıldız bekommt seit mehr als zwei Jahren Drohschreiben vom „NSU 2.0“. Im ersten Fax an sie am 2. August 2018 standen neben Beschimpfungen ihre Wohnadresse und der Name ihrer Tochter, der mit dem Tode gedroht wurde. Die Daten waren kurz zuvor von einem Dienstrechner in einem Frankfurter Polizeirevier abgerufen worden. Es wird nach wie vor ermittelt, ob ein Frankfurter Polizist die Daten abgefragt hat und an den Drohungen beteiligt ist.
In einem weiteren Fax Ende Dezember 2018 wurden erneut private Daten zu Başay-Yıldız' Familienangehörigen genannt. Die Ermittler gingen damals davon aus, dass diese aus derselben Abfrage stammen. Das kann bei der jetzt erwähnten aktuellen Wohnanschrift nicht der Fall sein. Sie muss aus einer erneuten Abfrage oder aus einer anderen Quelle kommen.
„Innenminister Beuth ist Teil des Problems“
Weder das hessische Landeskriminalamt (LKA) noch das Innenministerium in Wiesbaden beantworteten die Frage der taz, ob in diesem aktuellen Fall die Nutzung von Polizeidatenbanken überprüft wurde. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt wollte sich “aus ermittlungstaktischen Gründen“ nicht äußern. Den Ermittler*innen liegt die Mail seit Mitte Juli vor. Auch die Frage, ob Başay-Yıldız darüber informiert wurde, dass dem „NSU 2.0“ ihre aktuelle Privatanschrift bekannt ist, wurde vom LKA und vom Innenministerium nicht beantwortet. Entsprechende Anfragen wurden bereits am Freitag vergangener Woche beziehungsweise am Dienstag gestellt. Başay-Yıldız selbst wollte sich auf taz-Anfrage nicht äußern.
In einer aktuellen Mail von der Nacht zum Donnerstag weist der „NSU 2.0“ ungefragt explizit auf die Adressänderung der Rechtsanwältin hin. In der Antwortmail auf eine taz-Presseanfrage heißt es, sie sei mittlerweile in Frankfurt umgezogen. „Hilft ihr aber nicht.“ Diese Mail wurde auch an verschiedene LKA-Adressen in Hessen und Berlin geschickt.
Für Günter Rudolph, den parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion im hessischen Landtag, ist es ein „deutliches Alarmsignal“, wenn jüngst nochmals missbräuchlich auf persönliche Daten Betroffener zugegriffen wurde. Gegenüber der taz kritisierte er den hessischen Innenminister Peter Beuth (CDU): Wer solche Straftaten zwei Jahre laufen lasse und erst jetzt weitere Sicherungsmaßnahmen ankündigt, habe die Problematik schlicht nicht erkannt. „Innenminister Beuth ist Teil des Problems, nicht der Lösung“, so Rudolph.
Auch der innenpolitische Sprecher der Linken im Landtag Hermann Schaus findet es „sehr erschreckend, wenn wieder eine gesperrte Adresse beim NSU 2.0 landet“. Er betont: „Dieser Laissez-faire-Stil, den die Ermittler an den Tag legen, muss mit Hochdruck geändert werden.“
Abfragen an Polizeirechnern in Zusammenhang mit „NSU 2.0“-Schreiben hatte es auch Anfang 2019 beziehungsweise 2020 auf zwei unterschiedlichen Polizeirevieren in Wiesbaden gegeben. Dort wurden die Daten der Kabarettistin Idil Baydar und der hessischen Linken-Fraktionsvorsitzenden Janine Wissler abgefragt, die wenig später beide „NSU 2.0“-Drohschreiben bekommen haben, per SMS und per E-Mail.
Die beiden Beamten, die jeweils zur fraglichen Zeit an dem Dienstrechner eingeloggt waren, beteuerten, die Daten nicht abgefragt zu haben. Baydars Daten wurden im März 2019 auch bei der Polizei in Berlin abgefragt. In Hamburg wurden im Sommer an Polizeirechnern Daten von taz-Kolumnist*in Hengameh Yaghoobifarah abgefragt, auch in diesem Fall ist laut Polizei kein dienstlicher Zusammenhang erkennbar. Zuvor war am 15. Juni in der taz eine polizeikritische Kolumne von Yaghoobifarah erschienen, die eine heftige Debatte zur Folge hatte.
Nach taz-Informationen wurden in den vergangenen Tagen wieder mehrere “NSU 2.0“-Drohmails von der Yandex-Adresse verschickt, sie gingen unter anderem an Wissler, Baydar, die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner und weitere Empfänger*innen in Polizei, Justiz und Medien.
Die gesamte Recherche über die Drohschreiben des „NSU 2.0“ und die Verbindungen zur Polizei lesen Sie in der taz am Wochenende vom 5./6. September 2020.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken