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Zwangsräumungen in BerlinLegale Menschenrechtsverletzung

Marie Frank
Kommentar von Marie Frank

Jedes Jahr werden in Deutschland zehntausende Menschen zwangsgeräumt. Höchste Zeit, diese menschenunwürdige Praxis zu beenden.

Das Menschenrecht auf Wohnen ist in Deutschland weniger wichtig als das Recht auf Eigentum Foto: Florian Schuh/dpa

L asst uns einen Moment vorstellen, wir würden in einer Welt leben, in der es ein Menschenrecht auf Wohnen gibt, ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf einen angemessenen Lebensstandard. Zwangsräumungen wären grobe Menschenrechtsverletzungen, die auch als solche geahndet werden, und niemand würde mehr wegen unbezahlter Rechnungen auf der Straße landen. Idealistischer Quatsch? Von wegen!

Denn tatsächlich gibt es all diese Rechte, das Recht auf Wohnen ist in der Europäischen Sozialcharta festgeschrieben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit im Grundgesetz und das Recht auf angemessenen Lebensstandard in der UN-Menschenrechtscharta. Zwangsräumungen stellen also durchaus eine Verletzung von Menschenrechten dar – nur wird diese nicht geahndet.

Warum das so ist, ist einfach zu erklären: Es gibt ein weiteres Recht, das all diesen Menschenrechten diametral gegenübersteht und das in kapitalistischen Staaten weitaus höher gewertet wird: das Recht auf Eigentum. Und das gibt Ei­gen­tü­me­r*in­nen nicht nur das Recht, sondern auch die willkommene Gelegenheit, ihre Rendite saftig zu steigern, indem sie Menschen auf die Straße setzen. Denn nach der Zwangsräumung ist vor der Mieterhöhung. Und von diesem Recht machen Ver­mie­te­r*in­nen nur allzu gern Gebrauch: Allein in Berlin kam es 2021 zu 1.668 Zwangsräumungen, bundesweit waren es mehr als 29.000.

Nun wäre es natürlich am besten, das Recht auf Eigentum einfach auszuhebeln, um den grundlegenden Menschenrechten wieder Geltung zu verschaffen und damit das ganze kapitalistische Ausbeutersystem gleich ganz außer Kraft zu setzen. Den Betroffenen von Zwangsräumungen helfen solche hehren, doch derzeit leider (noch) recht aussichtslosen Träumereien allerdings wenig. Doch was tun, um Zwangsräumungen zu verhindern?

UN-Vorgaben werden nicht umgesetzt

Nicht wenige, die aus ihrer Wohnung zwangsgeräumt werden, rutschen angesichts des Mangels an bezahlbarem Wohnraum in Berlin in die Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit. Angesichts des ausgegebenen Ziels des Senats, Wohnungslosigkeit bis 2030 abzuschaffen, wäre die Verhinderung von Zwangsräumungen also durchaus im Interesse der Politik.

Schon jetzt gibt es Vorgaben seitens der UN, dass etwa Staaten ihre Politik so ausrichten müssen, dass es gar nicht erst zu Zwangsräumungen kommt, dass diese nicht im Winter stattfinden sollen oder dass sie nicht zu Wohnungslosigkeit führen dürfen und den Betroffenen eine gleichwertige Wohnalternative in der Nähe der ursprünglichen Unterkunft zur Verfügung gestellt werden soll.

Nichts davon wird in Berlin umgesetzt. Die Verantwortlichen im Senat verweisen hier gern auf den Mangel an Wohnraum in der Hauptstadt, gegen den sie vermeintlich nichts tun können. Abgesehen davon, dass es durchaus Instrumente gegen den Mietenwahnsinn gibt (Enteignung großer Immobilienunternehmen, Besteuerung überhöhter Mieten, Marktsperre für Börsenkonzerne), braucht es weitere, sozialpolitische Maßnahmen, um dafür zu sorgen, dass niemand mehr aus seiner oder ihrer Wohnung geschmissen wird.

Prävention statt Räumung

Denn oft sind Menschen von Zwangsräumungen betroffen, die sich in einer schweren Krise befinden. Die Kommunikation mit Ver­mie­te­r*in­nen oder Ämtern stellt in dieser Situation für viele ein unüberwindliches Hindernis dar, Briefe werden einfach nicht mehr geöffnet, bis es zu spät ist. Hier braucht es aufsuchende Hilfsangebote, nach dem Motto: Keine Räumung ohne vorherige Beratungsangebote.

Dass Räumungsbescheide in Berlin künftig in einem Pilotprojekt nur noch persönlich durch Justizbedienstete und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen zugestellt werden sollen, ist ein erster Schritt, reicht aber nicht aus. Wichtig wäre, vorher einzugreifen, damit es gar nicht erst so weit kommt – Prävention statt Eskalation also.

Auch sollten Ämter nicht einfach so, ohne Kenntnis der Situation der Betroffenen, Leistungen streichen und damit die Menschen in die Wohnungslosigkeit treiben dürfen. Mietschuldenbedingte Kündigungen sollten bei Emp­fän­ge­r*in­nen von Sozialleistungen unmöglich sein. Zusätzlich braucht es einen besseren Kündigungsschutz sowie ein Verbot von Mieterhöhungen nach Zwangsräumungen.

Instrumente zur Verhinderung von Zwangsräumungen und damit von Obdachlosigkeit und Menschenrechtsverletzungen gibt es also zuhauf, man muss nicht gleich das ganze System umstürzen – schaden würde das natürlich trotzdem nicht.

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Marie Frank
Leiterin taz.berlin
Leiterin taz Berlin und Redakteurin für soziale Bewegungen, Migration und soziale Gerechtigkeit. Hat politische Theorie studiert, ist aber mehr an der Praxis interessiert.
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14 Kommentare

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  • Im Eichsfeld konnte der Landrat mal eine Zwangsräumung gegen einen Messi verhindern, indem er rechtzeitig Ehrenamtliche gefunden hat, die die Wohnung aufräumen.

  • Die Autorin übersieht, dass die genannten Rechte nicht schrankenlos gelten und vor allem nicht das Recht auf eine spezielle Wohnung konstituieren. Wenn also eine Zwangsräumung durchgeführt wird, dann wird diese Rechtsverletzung nicht geahndet, weil sie gerechtfertigt und in Übereinstimmung mit den Gesetzen erfolgt.

  • "Nun wäre es natürlich am besten, das Recht auf Eigentum einfach auszuhebeln, um den grundlegenden Menschenrechten wieder Geltung zu verschaffen und damit das ganze kapitalistische Ausbeutersystem gleich ganz außer Kraft zu setzen. "



    Das wurde im "real existierenden Sozialismus" umgesetzt. Allerdings gelang dies nur weil andere grundlegende Menschenrechte außer Kraft gesetzt wurden.

  • Ein Recht auf Wohnen impliziert nicht, dass es zwingend diese eine bestimmte Wohnung sein muss.

    Deshalb steht das Recht auf Wohnen einer Zwangsräumung nicht von vornherein zwingend entgegen.

    • @rero:

      Nicht von vorneherein, aber wenn niemand den zwangsgeräumten hilft, können sie in einer Stadt wie Berlin unmöglich in angemessener Zeit eine neue Wohnung finden.



      Es sei denn, sie unterschreiben einen Mietvertrag mit Miete, die sie sich nicht leisten können und lassen es so auf die nächste Zwangsräumung ankommen. Damit ist der Vermieterseite ja auch nciht geholfen.

  • "Nun wäre es natürlich am besten, das Recht auf Eigentum einfach auszuhebeln,.."



    Wer würde jemals noch Mietwohnungen bauen, wenn das Recht auf Eigentum "ausgehebelt" wird.



    Spielt aber nicht mehr wirklich eine Rolle, denn jetzt baut eh keiner mehr Mietwohnungen für lange Zeit.

  • Ich finde die Ideen im Kommentar sehr gut und auch umsetzbar. Vermutlich hätten sie eine große Wirksamkeit. Ich würde das gerne weiter spinnen und noch zu bedenken geben, dass es noch viele wichtige Knackpunkte gibt, die auch zu berücksichtigen wären: Wird es z.B. aufgrund einer akuten Krise versäumt, einen Weiterbewillingungsantrag zu stellen, fällt die Person aus dem Leistungsbezug und ist genau in diesem Moment nicht mehr geschützt vor Kündigung, falls es diesen Fortschritt einmal gäbe, dass Menschen im Bezug von Sozialleistungen Kündigungsschutz genießen. Es müsste also eine gewisse - gerne großzügige - Karenzzeit auch nach Bezug von Leistungen geben, in der es kompletten Kündigungsschutz gibt. Randbemerkung: die staatliche Unterbringung von wohnungslosen Personen ist sehr viel teurer als die staatliche Weiterfinanzierung der einstigen Wohnung.

    • @oricello:

      Wenn jemand versäumt die Miete regelmäßig zu zahlen, dann muss er auch Konsequenzen befürchten.



      Ich bin als Vermieter auf die regelmäßige Miete angewiesen, um meine Kredite tilgen zu können.



      Wenn das Amt die Miete übernimmt, dann muss ich mich halt auch darum kümmern, dass ich alles rechtzeitig einreiche etc oder mir Hilfe in Form einer gesetzlichen Betreuung hole.

      • @Hennes:

        Wenn ich eine solche Unterstützung brauche, dann ist die Aufgabe, mir dafür Hilfe zu holen, entsprechend schwierig.



        Jeder gönnt Ihnen als Vermieter die regelmäßige Miete.



        Viele Zwangsräumungen finden jedoch bei Menschen statt, die sich auf die staatliche Unterstützung verlassen haben. Da könnte der Staat durchaus etwas mehr Kulanz zeigen, um Menschen wie Ihnen dabei zu helfen, Menschen mit "Bürokratieaversie" eine faire Chance auf ein geregeltes Leben zu bieten.



        Das kann er sich gerne auf anderem Wege zurückholen, nur ist es dem Vermieter nicht zuzumuten, für die Fehler seiner Mieter geradezustehen. eine Zwangsräumung ist ja auch auf Vermieterseite kein Spaß.

  • Das schwierige an Grundrechen ist, dass es davon viele gibt, die sich je nach Situation gegenseitig widersprechen. Nicht, weil sie falsch wären, sondern weil die Widersprüche in der Natur der Sache liegen. Es ist also immer abzuwägen.

    Es gibt auch ein Grundrecht, dass die einen Menschen die anderen nicht dazu zwingen können für sie zu arbeiten und für sie einseitig verantwortlich zu sein. Es gibt außerdem die rein praktische Randbedingung, dass sobald nicht durchgeführte Zwangsräumungen bei privaten Eigentumswohnungen kein großer Einzelfall sind, Privatleute keine Wohnungen mehr bauen und vermieten werden.

    Andererseits gelten all die Argumente aus diesem Artikel. Das muss dann je nach Fall abgewogen werden - mal eher so, mal eher anders.

    • @Markus Michaelis:

      Es kommt eben immer drauf an, wie eine solche Zwangsräumung durchgeführt wird.



      Es soll nicht darum gehen, dass private Wohnungsvermieter das Recht an ihrem Eigentum verlieren.



      Es geht darum, dass z.B. Menschen, die Sozialleistungen erhalten, nicht mehr mietsäumig werden können. (Für den Vermieter besser als eine Zwangsräumung)



      Es geht auch darum, dass eine Zwangsräumung nicht mehr genutzt werden darf, um wegen Mieterwechsel eine kräftige Mieterhöhung durchzusetzen (Macht für Wohnungsgesellschaften die Zwangsräumung einfach nur uninteressanter, es kommt mehr Menschlichkeit ins Spiel, statt sich auf den für einen sprechenden Paragraphen auszuruhen, wie es bei privaten Vermietern ohnehin meist der Fall ist)

  • Seit wann macht die UN Vorgaben, wie in Deutschland Gesetze umgesetzt werden sollen ? Wer in Deutschland gegen Gesetze oder Verträge verstößt, wird dementsprechend sanktioniert. Dies ist kein Kapitalismus, sondern eines der Grundregeln menschlichen Zusammenlebens. Leistungskürzungen und Wohnungsräumungen kommen auch nicht aus dem heiteren Himmel. Es ist vielmehr das Ende einer langen Kette von Versäumnissen.

    • @Puky:

      Die UN macht vielleicht keine Vorgaben, aber Deutschland hat die entsprechenden Rechte für sich angenommen und Zusicherungen gegeben.

      • @Herma Huhn:

        Die in der Charta wesentlichen Artikel 30 (Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung) und Artikel 31 (Recht auf Wohnung) hat Deutschland nicht ratifiziert.