„Zeugnissprüche“ an Waldorfschulen: Ein wöchentliches Ritual
An Waldorfschulen müssen Schüler*innen jede Woche ihre Zeugnissprüche rezitieren. Doch sie bieten eine Steilvorlage für Mobbing und Schamgefühle.
I ch bin Samstagskind. Wie die meisten Waldorfkinder weiß ich das, weil wir unseren Zeugnisspruch immer am Wochentag unserer Geburt aufsagen – oder in meinem Fall einen Tag vorher. Den Zeugnisspruch bekommt man während der achtjährigen Klassenlehrerzeit als Teil des Zeugnisses und rezitiert ihn dann jede Woche.
Wenn ich dran war, rief mich meine Lehrerin auf. Ich lief nach vorne, stellte mich vor die Tafel, sagte meinen Spruch auf – und ging dann schnell zurück an meinen sicheren Platz. Es war das Normalste der Welt. Alle haben das gemacht. Auch diese Woche werden schätzungsweise wieder 50.000 Kinder in Deutschland ihren Zeugnisspruch aufsagen.
Als ich vor drei Jahren meine Zeugnisse mit den Zeugnissprüchen erneut las, wurde mir schlecht. Ich war schockiert, wie harmlos ich es damals fand und wie ernst ich es genommen habe. Am schlimmsten war der Spruch aus der 4. Klasse:
„Still für sich geschafft,Ist ein Quell der Kraft. Froh sich andern einzureihen,Lässt das Ganze gut gedeihen,wird vom Eigensinn befreien.“
Ein morgendliches Ritual
So wussten dann alle, inklusive mir, dass ich zu eigensinnig und geschwätzig war, und wurden wöchentlich neu daran erinnert. Oder wie sich der Pädagogikprofessor Prange ausdrückt: „Das zugeschriebene Selbstbild wird öffentlich ritualisiert und bekräftigt.“ Beschwert habe ich mich nie. So war es halt. Genutzt hätte es wohl eh nichts. Ich weiß bis heute von keinem Fall, wo ein Kind einen neuen Zeugnisspruch bekommen hätte, weil es seinen nicht mochte.
Wenn ein Kind den Text vergaß, nuschelte, hampelte oder zu leise sprach, bekam es Hilfe von der Klassenlehrerin. Manchmal wohlwollend, manchmal beschämend oder drangsalierend. Beneidet wurden Kinder mit kurzen Sprüchen, die nicht zu offensichtlich korrigierend waren.
Ich war wahlweise zu verträumt, zu verkopft, zu eigensinnig oder zu flüchtig. Andere Kinder waren zu schüchtern oder zu aufbrausend, zu laut oder zu leise, schafften es nicht, etwas zu Ende zu führen, oder sollten tüchtiger werden. Das war mir immer bewusst, wenn jemand seinen Spruch aufsagte. Sowohl bei mir als auch bei den anderen.
Wenn man nachfragt, können die meisten Waldorfkinder gruselige Geschichten rund um Zeugnissprüche erzählen: dass ein Mitschüler seinen Spruch jedes Mal weinend aufsagte, dass die lispelnde Mitschülerin extra einen Spruch mit vielen Zischlauten bekam oder dass ein Mittwochskind jeden Mittwoch früh Bauchschmerzen hatte und zu Hause blieb. Und selbst wenn es einem selbst leicht fiel und man beim Spruch Glück hatte, beobachtete man gegebenenfalls jede Woche, wie andere Kinder struggelten. Ich hab das damals als sinnvolle Normalität abgespeichert – aber es hat etwas mit mir gemacht.
Steilvorlage für Mobbing
Horst Hellmann, international tätig in der Waldorflehrerausbildung, sagt: „Weil an dem Spruch das ganze Jahr hindurch gearbeitet wird, ist das Zeugnis in seiner Essenz immer präsent, jedoch nicht als moralischer Zeigefinger, sondern, wenn es gelingt, als ‚Arbeit im Gewande der Freude‘.“ Und wenn es nicht gelingt? Dann ist es eine Steilvorlage für Mobbing und Schamgefühle.
Wie können ausgebildete Pädagogen*innen denken, es sei eine gute Idee, einzelne Kinder vor der ganzen Klasse quasi poetisierte Kopfnoten des Zeugnisses aufsagen zu lassen, damit sie „daran wachsen“?!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles