Wissenschaft und Corona: Eine laute Minderheit
Eine Mehrheit der Bevölkerung vertraut der Wissenschaft und Forschung. Mit der Coronapandemie ist das Vertrauen sogar noch gewachsen.
Wie die Faust aufs Auge passt da die neueste Auflage des „Wissenschaftsbarometers“, das sondiert hat, welche Meinung die deutsche Bevölkerung über Wissenschaft hat und wie deren Erkenntnisse auch von der Politik genutzt werden sollten. Die Verschärfung der Lage hatten sich die Auftraggeber der jährlichen Befragung – die von den deutschen Wissenschaftsorganisationen betriebene Kommunikationsplattform Wissenschaft im Dialog (WiD) – Anfang September noch nicht vorstellen können. Damals hatte das Marktforschungsunternehmen Kantar im Auftrag von WiD 1.002 repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger nach ihren Ansichten zur Wissenschaft befragt.
Die Ergebnisse fielen nicht besonders spektakulär aus. So gaben 61 Prozent der Befragten an, sie würden der Wissenschaft und Forschung „eher oder voll und ganz“ vertrauen. Für die beiden Positivantworten hatten im Vorjahr 60 Prozent votiert, keine große Veränderung – allerdings schon gegenüber der Einschätzung vor der Coronakrise. In den Jahren von 2017 bis 2019 schwankte das Vertrauen der Deutschen in die Wissenschaft immer um die 50 Prozent. Gut ein Drittel haben heute ein neutrales, indifferentes Verhältnis zur Wissenschaft, und lediglich 5 Prozent sind generell skeptisch bis ablehnend gegenüber dem, was die Doktoren und Professoren so treiben.
Unter den Berufsgruppen können Ärzte und medizinisches Personal das höchste Vertrauen der Bevölkerung für sich verbuchen: 79 Prozent. Es folgen die Wissenschaftler mit 73 Prozent. Wesentlich geringer ist das Vertrauen, das Behördenvertretern, Journalisten und Politikern entgegengebracht wird: 34, 21 und 18 Prozent, ein deutlicher Autoritätsschwund gegenüber dem Vorjahr.
Interessante Befunde gibt es beim Thema Corona – neben der Politikberatung der Schwerpunkt der Befragung von 2021. 64 Prozent der Bürger fühlen sich gut informiert und antworten: „Ich weiß viel über das Coronavirus.“
Infos aus dem Internet
Informationsquelle Nummer eins ist in diesem Jahr erstmals das Internet, das den klassischen Medien Fernsehen und Zeitung den Rang abgelaufen hat. Das führt dann aber auch zu Einschätzungen, dass 13 Prozent meinen, es gebe „keine Beweise, dass Corona existiert“.
Eine dreimal größere Gruppe – nämlich 39 Prozent – ist der Auffassung: „Die Wissenschaftler sagen uns nicht alles, was sie über das Coronavirus wissen.“ Und 26 Prozent stimmen der Aussage zu, dass „aus der Pandemie eine größere Sache gemacht wird, als diese eigentlich ist“. 61 Prozent sind gegenteiliger Meinung. Die Zahlen führen auf den Grund der anhaltenden Impfverweigerung in Deutschland.
„Das Vertrauen in die Wissenschaft, ihre Expertise und ihre Kommunikation ist anhaltend hoch – das ist positiv“, bewertet Mike S. Schäfer, Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Zürich die Ergebnisse des Wissenschaftsbarometer. „Aber die Ergebnisse zeigen auch, dass eine Minderheit an der Wissenschaft zweifelt, allerdings eine Minderheit, die während der Pandemie lauter geworden ist“, fügt Schäfer hinzu, der Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Wissenschaftsbarometers ist.
Vertrauen ist gut, aber Handeln ist in Krisenzeiten wichtiger. Hier klafft in der WiD-Umfrage eine Erkenntnislücke. Ermittelt wurde zwar, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung ist, die Wissenschaftler sollten die Politik bei ihren Entscheidungen – wie gegenwärtig in der Coronakrise – beraten und dazu auch eigene Empfehlungen abgeben. Aber ob und wie diese Empfehlungen angenommen werden, dazu hat das Wissenschaftsbarometer keine Befunde. In der gegenwärtigen Situation, in der Politik den Rat der Wissenschaft weithin negiert, wäre das eine wichtige Information.
Immerhin haben sich andere Wissenschaftsorganisationen damit befasst, welche Früchte wissenschaftliche Politikberatung trägt – mit unterschiedlichen Ergebnissen. So hat die Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina kürzlich eine Untersuchung über den „Nutzen von wissenschaftlicher Evidenz“ für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags vorgelegt. Dafür wurden 142 Parlamentarier und 256 ihrer Mitarbeiter befragt. Ergebnis: Nur von der Hälfte der befragten MdBs wurden „die Gutachten und Expertisen wissenschaftlicher Beiräte häufig als Informationsquelle genutzt“. Am relevantesten für die Arbeit der Politiker erwiesen sich „thematisch und redaktionell aufbereitete Ergebnisse, wie Länderanalysen, Gutachten oder Stellungnahmen von Wissenschaftsakademien“.
Bei der Vertrauensfrage gaben zwar nur 59 der befragten 142 MdBs an, „dass sie wissenschaftliche Erkenntnisse sehr vertrauenswürdig finden“, aber es gab keine ablehnenden oder zweifelnden Stimmen. Ein sehr großes Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse wurde innerhalb der Fraktionen der Grünen (10 der 14 befragten MdBs) sowie der CDU/CSU (23 der 43 befragten MdBs) angetroffen. Weniger wissenschaftsaffin waren die Links-Fraktion und die AfD.
Insgesamt zeigte sich in der Untersuchung der Leopoldina zum Politikakteur Bundestag, der Legislative, dass fast die Hälfte der befragten Abgeordneten „die Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse im politischen Entscheidungsprozess als angemessen bewerten“. Die andere Hälfte ist der Meinung, Wissenschaft werde zu stark oder zu wenig gehört.
Größtes Zugangsproblem für die Wissenschaft ist übrigens die Zeitnot der Politiker. Daher empfiehlt die Leopoldina dringend, mit „kurzer und allgemeinverständlicher Darstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse“ an die Politiker heranzutreten.
Als eine weitere Form der Politikberatung hat sich während der Pandemie die Einrichtung von Expertenbeiräten ergeben, und zwar in unerwarteter Vielfalt. So haben Forscher*innen am Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ermittelt, dass allein im letzten Jahr 21 Expertenräte und -beiräte eingerichtet wurden, die die Regierungen von zehn Bundesländern und vier Bundesministerien zur Sars-CoV-2-Pandemie berieten. Am häufigsten waren biomedizinische Fachbereiche wie Virologie, Krankenhaushygiene, Medizin, und Biologie vertreten. Weitere Disziplinen (Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften) und nichtwissenschaftliche Expert*innen waren in sieben Bundesländern beratend dabei.
Die Zahl erstaunt, denn nur in drei Pandemieplänen der Länder ist eine besondere Beratungsgruppe vorgesehen. „Das hat uns gezeigt, dass dieses externe Expertengremium ein sehr beliebtes Instrument der Politik war, um sich in der Pandemie beraten zu lassen“, erklärte Studienautorin Kerstin Sell im Deutschlandfunk.
Was heraus kam, ist allerdings unklar. Arbeitsweise und Ergebnisse der Gremien sind äußerst schlecht dokumentiert, fanden die LMU-Forscher heraus. „Aufgrund fehlender Transparenz ist unklar, ob und wie die identifizierten Expert*innenräte Einfluss auf die Politik genommen haben“, stellt die Studie bedauernd fest.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen