Wiederholungswahl in Berlin: Wahlkampf im Laborkittel
Olaf Scholz und Franziska Giffey machen Wahlkampf bei Bayer. Giffey spricht dabei von der Chancenstadt Berlin. Ob diese ihr auch eine weitere Chance gibt?
Schade, dass ausgerechnet dieser Punkt nicht medienöffentlich ist. Denn ansonsten ist der gesamte Besuch von Giffey und Scholz am Montagnachmittag zum Mitfilmen und -schreiben freigegeben. Angefangen vom Gespräch mit Auszubildenden an Kaffeetafel – die mitten im Foyer vor einer begrünten Wand aufgestellt wurde – bis zum Besuch im Labor. Es handelt sich bei dem Unternehmensbesuch um einen reinen Wahlkampftermin.
Denn am Sonntag wählt Berlin schon wieder beziehungsweise erneut, was auch den gerade aus den Winterferien heimgekehrten Großstädter:innen so langsam bewusst wird. Und die Aussichten für Giffey und ihre Berliner SPD sind sehr, sehr bodenständig. Je nach Umfrage liegt die SPD auf Platz zwei oder drei. Auf dem ersten Platz Platz behauptet sich laut Meinungsforscher:innen seit Wochen die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Kai Wegner.
Den Namen sollte man sich allmählich merken, denn falls die CDU am Sonntag weiter und weit vorn liegt und die amtierende rot-grüne-rote Koalition noch zwei, drei Punkte verliert, werden sich wohl sowohl die Grünen als auch die SPD bei Wegner um den Part der Juniorpartner:in bewerben. In Berlin könnte es zu einer konservativen Wende im Roten Rathaus kommen.
Rot-Grün-Rot ist sich nicht grün
Kein Wunder, dass die Berliner SPD im Wahlkampfendspurt auf mächtige Unterstützung vom Bund setzt. Nach Olaf Scholz hat sich am Mittwoch auch Parteichef Lars Klingbeil mit Giffey zum Besuch in einem Berliner Filmstudio für Spezialeffekte angemeldet. Wäre auch eine Option für den Termin mit Bundeskanzler gewesen, die die Parteistrategen im Willy-Brandt-Haus allerdings verworfen haben. Zu eng, zu aufwändig mit dem ganzen Sicherheitspersonal.
Bei BMW, die in Berlin ebenfalls eine große Niederlassung betreiben, waren Giffey und Scholz schon im Dezember. Vielleicht aber auch nicht der beste Ortstermin so kurz vor der Wahl, denn gerade beim Thema motorisierter Verkehr sind sich SPD und die mitregierenden Grünen in Berlin überhaupt nicht grün.
Und ein Besuch bei einem Wohnungsbauunternehmen wäre sogar noch heikler gewesen. Hier hadert Giffey mit ihrem anderen Partner, der Linkspartei, die private Großunternehmen enteignen will. Giffey setzt statt auf Enteignung lieber auf ein Bündnis mit der privaten Wohnungswirtschaft, doch die Bilanz ist mager: Die Mieten steigen, die Neubauzahlen bleiben hinter den selbstgesteckten Zielen zurück.
Also dann doch Bayer, sprich Medizin und Innovation. Giffey kommt überpünktlich und wartet vor dem Hochhaus in der stark befahrenen Müllerstraße auf den Bundeskanzler, der sich zehn Minuten verspätet. Dafür bleibt Giffey im Gebäude fast immer einen halben Schritt hinter Scholz, welcher munter mit dem Laborleiter plaudert, Selfies mit dual Studierenden macht und sich in der naturwissenschaftlichen Umgebung überhaupt pudelwohl zu fühlen scheint. Als sich Giffey und Scholz mit Schutzkitteln und -brillen zum Besuch im Labor rüsten, sieht Giffey wie eine Chemielehrerin aus, Scholz aber strahlt die Aura eines Fachbereichsleiters aus.
Wechsel ins Bundeskabinett?
In dem Labor werden neue Wirkstoffe für die Medizin entwickelt, Herzstück ist ein Roboter, der auf einen Schlag fast hundert Substanzen in Serie und in unterschiedlichen Konzentrationen zu Testzwecken mixen und abfüllen kann. Ein automatischer Blockreplikator heißt der im Fachsprech. Scholz greift beherzt zu einer Testbatterie und fragt den Laborleiter interessiert aus. Wie man unter den 100.000 compounds (Gemischen), die Nummer 26.600 herausfiltert, die geeignet sei, um eine Krankheit zu heilen. Was Giffey fragt, ist nicht zu verstehen. Sie guckt aber angemessen kundig und interessiert.
Sie ist ja schließlich nicht zum ersten Mal hier. Bereits im April – da waren Neuwahlen noch in weiter Ferne – hat das Land Berlin gemeinsam mit Bayer und der Berliner Charité eine Absichtserklärung unterzeichnet, um vor Ort ein Zentrum für Zell- und Gentherapien zu errichten. Der Bund will sich mit 44 Millionen Euro daran beteiligen. Giffey spricht am Montag von der Chancenstadt Berlin. Ob diese ihr erneut eine Chance gibt, wird sich zeigen.
Der für Medikamente zuständige Konzernvorstand Stefan Oelrich bedankt sich bei ihr, die von der ersten Minute dabei gewesen sei. Wendet sich aber dann doch an den Bundeskanzler mit der Bitte, dass der Spatenstich für dieses Zentrum noch in diesem Jahr erfolgen möge. Das wäre Deutschlandgeschwindigkeit, zitiert Oelrich Scholz mit seiner eigenen Wortkreation. Hat der Bayer-Vorstand Giffey als politische Ansprechpartnerin etwa schon aufgegeben?
Dass die politische Karriere der einstigen Neuköllner Bezirksbürgermeisterin nach einer Wahlniederlage beendet sein könnte, ist kaum denkbar. Dafür ist Giffey zum einen zu gut im Wegstecken von Niederlagen. Die letzte Berlin-Wahl im September 2021 haben sie und die SPD immerhin trotz ihrer Plagiatsaffäre samt Verlust des Doktortitels gewonnen. Und die SPD ist mit führungserfahrenen Frauen auch nicht allzu reich ausgestattet, wie die ergebnislose Suche nach einer Nachfolgerin für die zurückgetretene Verteidigungsministerin Christine Lambrecht im Januar gezeigt hat.
Während Scholz und Giffey beim Hintergrundgespräch weilen, wird im Foyer schon offen spekuliert, ob Giffey nach einer Wahlniederlage nicht womöglich wieder ins Bundeskabinett wechselt. Vielleicht als Innenministerin, falls Nancy Faeser in die Hessener Staatskanzlei zöge? Oder als Gesundheitsministerin? Der weiße Kittel steht ihr jedenfalls. Giffey dementiert anschließend alle Gerüchte. Die seien hanebüchen. Das stünde überhaupt nicht zur Debatte. Mal sehen, wie die Debatte am kommenden Montag aussieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste