Wachsende Ungleichheit: Die Macht der Hyperreichen
Die wachsende Ungleichheit im Gegenwartskapitalismus ist ökonomisch, sozial und politisch. Wen es trifft, den trifft es zumeist auf vielen Ebenen.
E ine „marktwirtschaftlich“ organisierte, kapitalistische und am Neoliberalismus orientierte, von Ökonomisierungs-, Kommerzialisierungs-, Privatisierungs- und Deregulierungstendenzen gekennzeichnete Gesellschaft wie unsere basiert auf der Ungleichheit als wesentlichem Strukturelement. Seit geraumer Zeit ist die wachsende Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der ganzen Menschheit.
Jede/r versteht unter der Ungleichheit etwas anderes. Schließlich sind die Menschen weder biologisch noch sozial gleich, unterscheiden sich vielmehr nach ihrem Alter, ihrem Geschlecht, ihrem Gewicht, ihrem Körperbau, ihrer Größe sowie ihrer Haut-, Haar- und Augenfarbe, aber auch bezüglich ihrer Fähigkeiten. Sie unterscheiden sich im Hinblick darauf voneinander, wo sie wohnen, in welchem Haushaltstyp und in welcher Familienform sie leben, welchen Beruf sie ausüben, ob sie Hobbys haben und ob sie regelmäßig Sport treiben.
Bei der Ungleichheit, um die es hier geht, handelt es sich um eine anhaltende, wenn nicht dauerhafte Ungleichverteilung materieller Ressourcen, also der ökonomischen Ungleichheit. Und es geht um Anerkennung und Respekt hinsichtlich des gesellschaftlichen Status: der sozialen Ungleichheit. Dazu kommen (Zugangs-)Rechte und Repräsentation – die politische Ungleichheit – zwischen großen Personengruppen, Klassen und Schichten, die nicht auf persönlichen (Leistungs-)Unterschieden von deren Mitgliedern beruhen.
Die sozioökonomische Ungleichheit, welche von den Benachteiligten oftmals als soziale Ungerechtigkeit empfunden wird und die fast zwangsläufig politische Ungleichheit nach sich zieht, manifestiert sich im Gegensatz von Arm und Reich. Obwohl der in wenigen Händen befindliche Reichtum den Ausgangspunkt und Kristallisationskern der Ungleichheit bildet, wird er noch immer weitgehend tabuisiert.
Wer Armut bekämpfen will, muss Reichtum antasten
Wenn die Massenmedien, die etablierten Parteien und die politisch Verantwortlichen hierzulande das Thema der (wachsenden) Ungleichheit überhaupt zur Kenntnis nehmen, konzentriert sich das Interesse vorwiegend auf die Armut. Weshalb wirkt das realitätsverzerrend, wenn nicht gar als ideologisches Ablenkungsmanöver, sofern der Reichtum unterbelichtet bleibt?
Ganz einfach: Armut lässt sich als individuelles Problem abtun, dem auf karitativem Wege begegnet werden kann, materielle Ungleichheit hingegen nicht. Wer vom Reichtum nicht sprechen will, sollte auch von der Armut schweigen. Und wer die Armut wirksam bekämpfen will, muss den Reichtum antasten. Mit der sozioökonomischen Ungleichheit verhält es sich ähnlich wie mit der Armut, die ihr bedrückendster Teil ist:
Zwar hat sie zwischen den Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens leicht ab-, innerhalb der einzelnen Länder aber zugenommen. Ungleichheit darf nicht auf den Gegensatz zwischen Arm und Reich reduziert werden, will man ihre Wirkmächtigkeit erfassen. Denn es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem sich die Ungleichheit nicht dauerhaft bemerkbar macht.
Neben der finanziellen Lage von Haushalten, Familien und Einzelpersonen prägt die zunehmende Ungleichheit auch deren Gesundheit, Bildungs- und Ausbildungsstand, Wohnsituation und Wohnumfeld sowie Freizeitverhalten und (Verkehrs-)Mobilität. An Einkommen und Vermögen machen sich maßgeblich die Lebensbedingungen sowie die Stellung der Menschen fest.
Askese muss man sich leisten können
Reich ist, wer ein großes Vermögen besitzt, es aber gar nicht antasten muss, sondern der von den Erträgen auf höchstem Wohlstandsniveau bis zum Tod leben kann. Wer reich ist, genießt ein hohes Maß an persönlicher Handlungsfreiheit und verfügt über nicht durch Existenzsicherung bestimmte Zeit. Sogar der freiwillige Verzicht auf die angenehmen Seiten des Lebens fällt Menschen mit einer schwarzen Kreditkarte leichter als Menschen ohne exklusives Statussymbol.
Oder anders formuliert: Selbst Askese muss man sich leisten können. Reiche können im Zeitalter der Erderhitzung, die verharmlosend „Klimawandel“ genannt wird, statt wie bisher zum Segeltörn auf die Seychellen zu jetten im Erster-Klasse-Abteil eines Zuges nach Westerland auf Sylt fahren. Arme haben dagegen keine riesige Auswahl an Reisezielen, wenn sie überhaupt jemals verreisen können. Millionen Bundesbürger/innen sind so arm, dass sie sich keine Urlaubsreise leisten können.
Deutschland gehört zu den reichsten Staaten der Welt – aber Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Glück sind höchst ungleich verteilt. Wie wird die kommende Bundestagswahl die Weichen stellen für die Verteilungsprobleme? Wen wird es treffen, dass die öffentlichen Kassen nach der Pandemie leergefegt sind? Schaffen wir es, das Klima zu schützen und dabei keine Abstriche bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen? Unter dem Motto „Klassenkampf“ widmet sich die taz eine Woche lang Fragen rund um soziale Gerechtigkeit.
Alle Texte hier.
Im finanzmarktgetriebenen Plattformkapitalismus bildet der Klassengegensatz von Kapital und Arbeit zwar weiterhin die Kernstruktur der sozioökonomischen Ungleichheit. Der ihn teilweise überlagernde Widerspruch zwischen einer zunehmenden und sich verfestigenden Armut sowie einem exorbitanten Reichtum hat sich allerdings derart verschärft, dass es beinahe scheint, als existiere der Arm-Reich-Gegensatz unabhängig vom Klassenantagonismus und als basiere er nicht (mehr) auf diesem.
Beispielsweise trägt die sich extrem vertiefende Kluft zwischen Vorstandsgehältern und den Löhnen „normaler“ Arbeitnehmer/innen zur Verschärfung der Ungleichheit bei, ohne in Wirklichkeit ihre Hauptursache zu sein. Sehr reiche Bürger – es handelt sich vorwiegend um Männer – sind auch politisch einflussreich. Sie können ihre (Besitz-)Interessen zur Geltung bringen, was sich in Gesetzesvorhaben ebenso niederschlägt wie in den Entscheidungen von Regierungen und Verwaltungen.
Dies ist einer der Gründe, weshalb man Multimillionäre und Milliardäre nicht als „Superreiche“ bezeichnen sollte. Wegen der hiermit verbundenen positiven Konnotation erscheint die Bezeichnung „Hyperreiche“ angemessener. Schließlich werden Kinder, die nachts oft noch agiler sind als tagsüber, auch nicht „super-“, sondern „hyperaktiv“ genannt.
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