Vor der Bundestagswahl: Starker Ostwind
Nur 15 Prozent der Wahlberechtigten kommen aus dem Osten. Ihr Einfluss auf die gesamtdeutschen Kräfteverhältnisse geht jedoch über diese Zahl hinaus.
![Gleitflieger und Fahne in den Farben Schwarz-Rot-Gold am Himmel Gleitflieger und Fahne in den Farben Schwarz-Rot-Gold am Himmel](https://taz.de/picture/4899811/14/Bundestagswahl-osten-1.jpeg)
D ie Polarisierung zwischen dem Ministerpräsidenten und der AfD hat in Sachsen-Anhalt zu einem großen und einem kleinen Sieger geführt. Alle anderen Parteien wurden verzwergt. Auf die Frage, was man von Sachsen-Anhalt für die Bundestagswahl lernen könne, antwortete Ministerpräsident Reiner Haseloff: Im Osten werden zwar keine Bundestagswahlen gewonnen, aber verlieren kann man sie dort.
Der Anteil der ostdeutschen Wahlberechtigten an der gesamtdeutschen Wählerschaft beträgt etwa 15 Prozent. Doch der Einfluss der Ostdeutschen ist größer als diese Zahl. Der „Ostwind“ ist für die Dynamik des gesamtdeutschen Parteienwettbewerbs wichtig. Es sind insbesondere vier spezifisch ostdeutsche Entwicklungen, die schon in der Vergangenheit das gesamtdeutsche Wettbewerbs- und Parteiensystem wesentlich beeinflussten.
Erstens durch die Einheit selbst. Im Jahr 1989 war die CDU schon auf dem Weg in die Opposition. Doch das ostdeutsche Plebiszit für einen schnellen Anschluss machte die Union unter Helmut Kohl zur Kraft der Stunde, die den „Mantel der Geschichte“ ergriff und aus dem Kanzleramt gestaltete. Mit dem Versprechen der „blühenden Landschaften“ konnte sie den Weg in die Opposition für acht weitere Jahre abwenden.
Durch den Institutionentransfer aus dem Westen, der weder die Reformbedürftigkeit der westdeutschen Institutionen berücksichtigte noch eine Sensibilität dafür entwickelte, wie mit den soziokulturellen Bedingungen im neuen Anwendungsgebiet umzugehen sei, glich der Prozess einem spektakulären, blindflugartigen Hauruckverfahren, also einer Schocktherapie. Dies schlägt sich in einem weiterhin schwächer ausgebildeten Vertrauen in Institutionen nieder. Es liegt im Osten Deutschlands etwa 5 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt.
Hegemonie der Union
Zweitens wurde die Zerrissenheit des progressiven Lagers durch die Gründung der PDS mit einem weiteren Wettbewerber ohne Koalitionsoption belastet. Die Linkspartei versuchte als „Regionalpartei Ost“ die ostdeutschen Interessen im Parteienwettbewerb stärker hörbar zu machen. Doch durch ihre Koalitionsunfähigkeit trug sie wesentlich dazu bei, die Hegemonie der Union trotz einer Mehrheit des progressiven Lagers im Bund zu zementieren.
ist Politikwissenschaftler und Fellow am Berliner Wissenschaftszentrum. An der Universität Kassel ist er Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Von 2009 bis 2014 war er Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg.
Drittens ist der Weg der Grünen zur Regierungspartei in doppelter Weise mit Ostdeutschland verbunden. Einst hatten die ostdeutschen Bündnis-90-Akteure maßgeblichen Anteil daran, den pragmatischen Weg der Grünen als Joschka Fischers fleißige Helferinnen zu flankieren. Jetzt ist es zu einer zentralen Funktion der Linken geworden, die zentristische Position der Grünen zu stabilisieren. Jene, denen die Grünen zu milde geworden sind, bietet die Linkspartei eine neue Heimat. Das stärkt den Mittekurs der Grünen und fördert deren Akzeptanz im bürgerlichen Lager.
Viertens ist Ostdeutschland seit 1990 die Hoffnungsbastion des Populismus; vor allem rechter Couleur in Form der AfD. Bis auf die PDS waren alle anderen Parteien zu sehr mit dem westdeutschen Verfassungspatriotismus verflochten, um als emotional verankertes Sprachrohr des Ostens gegenüber dem politischen Zentrum in Berlin zu agieren.
In den letzten Jahren konnte insbesondere der Rechtspopulismus in Form der AfD von einem hohen Wählerpotenzial in den neuen Bundesländern zehren. Die AfD-Protestkultur inszeniert sich als Sprecher des ländlichen Raumes und der Politikfernen. Hinzu kommt, dass im Osten eine starke Brandmauer zwischen der Union und der AfD gegenwärtig nur um den Preis zu haben ist, dass die anderen Parteien verzwergt werden.
Eigener Blick auf den Osten
Nun ist eine eindimensionale Gegenüberstellung von Ost- und Westdeutschland längst überholt. Zugleich ist ein eigener Blick auf den Osten existenziell, um die Dynamik des Parteienwettbewerbs in Gesamtdeutschland zu verstehen. Für manche Bereiche haben wir es sogar mit einem peripheriegetriebenen Wandel zu tun. Denn die Lage im Osten war, ist und wird aufs Ganze betrachtet anders als im Westen bleiben. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig.
Gängig sind die Erklärungen der zweifachen Diktaturerfahrung, der Transformation und einer spezifisch ostdeutschen Mentalität. Etwas aus der Mode gekommen sind die sozioökonomischen Disparitäten: Während das durchschnittliche Vermögen in Westdeutschland rund 200.000 Euro beträgt, liegt es im Osten bei unter 70.000 Euro. Die Arbeitslosenquote betrug 2018 im Osten des Landes 6,9 gegenüber 4,8 Prozent im Westen. Der Niedriglohnsektor liegt bei fast 40 Prozent aller Beschäftigten, im Westen sind es dagegen nur 20 Prozent.
Es fehlt an Betrieben mit Forschung und Entwicklung, an komplexen Jobs. Ein solcher Blick auf die Entwicklungen in Ost- wie in Westdeutschland ist essenziell, um politische Hausaufgaben zu identifizieren. Eine einseitige und verkürzte Perspektive, die in der öffentlichen Sphäre zu Zuschreibungen wie „brauner Osten“, „zivilgesellschaftliches Diasporaland“ führt oder allgemein den „Nachzügler“-Stempel vergibt, verkennt die besonderen Entwicklungen des gesamtdeutschen politischen Systems und der Parteienlandschaft, die auch in Ostdeutschland ihren Ausgangspunkt haben.
Fünfzehn Wochen vor der Bundestagswahl kann sich über die Hälfte der ostdeutschen Bevölkerung weder mit Annalena Baerbock, Olaf Scholz oder Armin Laschet als zukünftigem Regierungsoberhaupt identifizieren. Es mag bei einem Wähleranteil von rund 15 Prozent nicht unmittelbar wahlentscheidend sein, das eigene Fähnchen entsprechend dem „ostdeutschen“ Wind auszurichten.
Gleichwohl zeigt sich mit Blick auf die vier beschriebenen Entwicklungen, dass eine Sensibilität für die ostdeutschen Dynamiken existenziell ist, weil sie richtungsweisend sein können. Denn im Osten werden die Wahlen nicht gewonnen, sie können dort aber verloren werden.
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