Vor den Rammstein-Konzerten in Berlin: Deutschland-Remix ohne Peniskanone
Ab Samstag spielen Rammstein drei Konzerte hintereinander im ausverkauften Berliner Olympiastadion. Wie kann das sein?
Keine Ahnung, wie diese ganze Rammstein-Geschichte ausgehen wird. Vieles spricht dafür, dass Till Lindemann demnächst nicht in einer Gefängniszelle mit seiner Peniskanone spielen wird, sondern weiterhin auf riesigen Stadionbühnen vor zehntausenden johlenden Fans. „Strafrechtlich nicht relevant“ und „Unschuldsvermutung“ sind oft zitierte Begriffe, wann immer es um den 60-jährigen Rammstein-Sänger und die Vorwürfe Dutzender Frauen geht, die ihm zur sexuellen Befriedigung zugeführt worden sein sollen – oft unter dem Einfluss von Drogen.
Doch wie sollen diese meist sehr jungen Frauen – laut den Berichten waren sie gemäß Lindemanns Vorlieben zwischen 18 und 24 Jahre alt – beweisen, was ihnen passiert ist? Die Einnahme von K.O.-Tropfen ist nur wenige Stunden lang nachweisbar, bei der Frage, ob es einvernehmlicher Sex oder Vergewaltigung war, steht Aussage gegen Aussage. Und die Aussagen vieler Opfer können kaum klar und detailliert sein, dank stark geschwächtem Erinnerungs- und Wahrnehmungsvermögen durch betäubende Substanzen.
Und dann waren sie ja auch noch alle Fans! Mädchen, die Rammstein mochten, die Till Lindemann irgendwie sexy fanden, die sich oft aufreizend gestylt hatten, die Bock auf Party hatten, zusammen mit ihrem Idol abhängen wollten. Manche wollten bestimmt auch mit Lindemann schlafen, fanden es aufregend, mit ihm intim zu werden.
Und da wird's kompliziert. Also zumindest kompliziert für viele Rammstein-Fans, die den Frauen, die mit ihren persönlichen Erfahrungen an die Öffentlichkeit gegangen sind, entgegen schreien: „Was habt ihr denn anderes erwartet?“ Wir wissen zumindest, die Irin Shelby Lynn hat nicht erwartet, dass sie Till Lindemann in einer vierminütigen Pause während des Konzerts in einer Kabine unter der Bühne einen blasen sollte.
Sexuelle Selbstbestimmung, hallo!
Beziehungsweise, sie hat es sogar erwartet oder vielmehr befürchtet und vorher explizit gefragt, ob Lindemann Sex wolle, was ein Mitarbeiter aber verneinte. Und die Youtuberin Kayla Shyx hat nur eine gut besuchte Aftershow-Party erwartet und keine separate von Securitys bewachte Umkleidekabine, auf der geistig abwesend wirkende Frauen auf einem Sofa sitzen, um dann von Lindemann auserwählt und mitgenommen zu werden.
Aber sogar denjenigen Frauen, die gerne ins Hotelzimmer, in die Blas-Kabine oder sonstwo mit hingehen, um mit ihrem Rockstar zu schlafen, ist nichts vorzuwerfen. Sexuelle Selbstbestimmung, hallo! Deswegen hat die „Causa Lindemann“ auch wenig mit dem oft benutzten Begriff „Groupie“ zu tun. Groupies wollen ihrem Idol nahe sein, gern auch sexuell. Weil sie dessen oder deren Musik mögen, seine Art, sein Auftreten. Weil sie hoffen, er könnte ein Seelenverwandter sein. Weil sie ein Teil seiner Welt sein wollen. Weil sie von ihm toll gefunden werden, ihn berühren und bei ihm sein wollen.
Aber ganz sicher nicht, weil sie als eine von vielen ihm ausgelieferten Frauen von ihrem verehrten Rockstar benutzt und danach blutend weggeschickt werden wollen. Selbst während eines einvernehmlich begonnenen Akts kann es passieren, dass eine Person zwischenzeitlich nicht mehr einverstanden ist, weil der andere ihr mehr wehtut, als sie will. Das gilt für alle sexuellen Beziehungen, egal zwischen wem.
Aber wir reden hier zudem von einer weltweit berühmten deutschen Rockband. Einer Band, die sich als rebellisch inszeniert. Harter Rock als Übertreibung. Als Provokation. Pyros und Phallus. Rammstein werden dafür gefeiert, dass sie Grenzen überschreiten. Wie kann man sich da denn beschweren, dass man vom Sänger (zu hart) rangenommen wurde? Also bitte. It's Rock'n'Roll, Baby. Aber gerade dieser Rock'n'Roll in all seiner schrammeligen Schönheit ist leider auch ein Hort von Misogynie, wovon bislang viel zu selten erzählt wird.
Das bisschen Nötigung
Denn es sind große Helden, die da fallen würden. David Bowie, Mick Jagger, Iggy Pop und viele mehr haben ihre Macht missbraucht, Frauen wie Dreck behandelt, Minderjährige zum Sex überredet. Das war und ist so egal, dass sie davon sogar in Songs singen, die auch zu Hits wurden. Man muss das Werk vom Künstler trennen, heißt es dann, wenn Leute darauf aufmerksam machen, dass ein Songtext völlig daneben ist. Stimmt, das muss man, wenn es um die bereits erwähnte strafrechtliche Relevanz geht.
Man kann niemanden dafür in den Knast schicken, dass er geschmacklose Songs oder Gedichte schreibt. Und ja, es ist ein lyrisches Ich, das in Lindemanns Gedicht „Wenn Du Schläfst“ eine Vergewaltigung samt Schlafmittel Rohypnol im Wein beschreibt. Abgesehen davon, dass das lyrische Ich komplett widerlich daherkommt, ist es kein poetisch wertvolles Gedicht, erdacht von einem Genie.
Genauso wenig, wie all die anderen Rockstars so große Genies sind, dass man ihnen das bisschen sexuelle Nötigung, das bisschen Missbrauch, das bisschen Vergewaltigung mal durchgehen lassen könnte, weil sie so tolle, bewegende, berührende Musik machen. Rabauken halt.
Dass dieser Genie-Kult nun in mehreren Bereichen der Kunst zunehmend in Frage gestellt wird, dass den Stars nicht mehr alles durchgewunken wird, liegt auch an den Frauen, die sich inzwischen trauen, sich zu wehren. Da gehört viel Mut dazu. Denn wie schwierig das auch fünf Jahre nach #MeToo noch für die Opfer ist, zeigen die letzten Wochen deutlich. Neben großem Support gehören so viele Beschimpfungen, Drohungen und Hass zu den Reaktionen, dass viele anonym bleiben wollen.
Weiterhin abgefeiert
Ein weiteres Problem: Rammstein sind so populär, dass sehr viele Menschen und deren Karrieren von ihrem Erfolg und Weiterbestehen abhängig sind, so dass diese Menschen wohl bewusst seit Jahren weggeschaut haben und auch Opfern rieten, nichts zu sagen, weil man sich mit solch Großen besser nicht anlegt. Das bestätigen auch die Anwaltsschreiben, die der Medienanwalt Schertz zur Zeit zahlreich rausschickt. Zudem haben Rammstein unzählige treue Fans auf der ganzen Welt, von denen sich ein Großteil trotz der Vorwürfe nicht von der Band abwendet, wie die weiterhin ausverkauften Konzerte weltweit zeigen. Stattdessen lassen sie sich erstaunlich viele Gründe einfallen, warum man Lindemann trotzdem noch toll finden kann. Und der einfachste Grund ist natürlich, den Opfern zu misstrauen.
Auch ich fand Rammstein nicht immer scheiße. Zu schön ist die Geschichte, wie sie als Punkband in der DDR angefangen haben und dann als Ossis durch die (westliche) Welt tourten. Zu faszinierend, wie sie mit dem Feuer spielten. Wie sie so übertrieben haben in ihren Live-Shows. Wie sie weit weniger stumpf sein sollen als einige ihrer Lieder. Und tolle Videos auch.
Von Keyboarder Flake war ich sogar ein bisschen Fan, weil er so lustig ist, und frage mich seit Wochen, wieso er jetzt schweigt. Und vor allem frage ich mich, wie man jetzt noch einfach so weiter machen kann. Als Flake. Aber auch als Fan. Wieso jeweils 75.000 Menschen im Berliner Olympiastadion bei drei Konzerten Till Lindemann abfeiern können und sich während des „Deutschland“-Remixes, bei dem er für wenige Minuten die Bühne verlässt, feixend fragen, ob ihm in diesem Moment ein zugedröhntes Mädchen wieder einen bläst.
Sie machen ja gar nicht so weiter wie gehabt, sagen nun die nimmermüden Verteidiger*innen. Die Peniskanone kommt schließlich nicht mehr zum Einsatz bei den Konzerten. Doch was ist mit davor, danach oder darunter?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken