Vier Wochen Jamaika: Ende einer Affäre, vor deren Beginn

Die Sondierunggespräche sind in der Nacht zum Montag geplatzt. Und alle zeigen auf Christian Lindner als den Schuldigen.

Jürgen Trittin (li., sitzend) und Angela Merkel sprechen miteinander im Bundestag

Neue beste Freunde? Foto: dpa

Berlin taz | Vielleicht sind Christian Lindner über Nacht Zweifel gekommen, ob das alles wirklich eine gute Idee gewesen ist. Als ein Reporter am Montag in der FDP-Zentrale eine kritische Frage stellt, blafft ihn der FDP-Chef an: „Sie können gerne schreiben, es ist gescheitert, weil die FDP zu unflexibel ist.“ Lindner wirkt angefasst, aber er bemüht sich um einen staatstragenden Sound. Die FDP, sagt er, habe „das nicht leichtfertig entschieden“. Sie habe es für ihre „staatspolitische Verantwortung gehalten, nicht in die Regierung einzuziehen“.

Doch: Lindner hat sich verzockt. Er gilt nun als der Bad Guy, der Bösewicht in dem Spiel, das nun im politischen Betrieb Berlins beginnt. Er sei vor der Verantwortung geflohen, heißt es. Sein hasardeurhafter Ausstieg aus dem sich zaghaft fügenden Jamaika-Bündnis bringe die Republik zum Beben, lautet der Vorwurf. Bundespräsident Steinmeier erinnert alle Parteien an ihre Verantwortung zur Regierungsbildung. Kanzlerin Angela Merkel steht vor einer der größten Krisen ihrer Regentschaft. Und die Deutschen müssen sich nach zähen, gut vierwöchigen Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen wohl auf Neuwahlen einstellen.

Lindner kann bei seinem Auftritt in der FDP-Zentrale nicht benennen, woran Jamaika nun eigentlich gescheitert ist. „Es gab noch 237 nicht geeinte Klammern“, sagt er. Erst nennt er fehlende Einigungsbereitschaft über den Abbau des Solidaritätszuschlags als Grund – „Der Kompromissvorschlag der CDU war ihr eigenes Wahlprogramm“ –, dann die Migration, wo es bei der Frage des Familiennachzugs bis zum Schluss keine Lösung gegeben habe, später die Energiepolitik, bei der die Grünen einen Kompromiss abgelehnt hätten.

Dass der redegewandte Lindner keine schlüssige Story zu bieten hat, ist ungewöhnlich. Aber muss das etwas heißen, in einer so aufgeladenen, stressigen Situation?

Rober Habeck, Grüner

„Ich nehme der FDP persönlich übel, dass sie uns noch einen Tag in Geiselhaft genommen hat.“

Grüne und CDU werfen Lindner vor, das Aus des Bündnisses eiskalt geplant zu haben. „Die FDP hat das von langer Hand vorbereitet“, sagt der Schleswig-Holsteiner Robert Habeck, der im grünen Sondierungsteam saß. „Ich nehme ihr persönlich übel, dass sie uns noch einen Tag in Geiselhaft genommen hat.“ Auch Grünen-Stratege Jürgen Trittin sagt am frühen Montagmorgen über Lindners Entscheidung: „Ich glaube, dass der Vorsatz sehr weit entwickelt war.“

CDU-Generalsekretär Peter Tauber betont, dass zu dem Zeitpunkt des Abbruchs der FDP der große Streitpunkt noch das Thema Familiennachzug von Flüchtlingen gewesen sei, und auch da hätten die Grünen sich schon bewegt. „Aus meiner Sicht gab es zu dem Zeitpunkt keinen Grund, den Raum zu verlassen.“

Bombe kurz vor Mitternacht

Es ist Sonntagabend kurz vor Mitternacht, als Christian Lindner die Bombe zündet. In der kalten Nachtluft vor der Landesvertretung Baden-Württemberg warten frierend die Kamerateams, müde Gesichter im grellen Licht der Scheinwerfer. Drinnen wird eine Krisensitzung anberaumt. Es soll die letzte sein bei dem langwierigen Versuch, eine Koalition zu begründen, die es so noch nie auf Bundesebene gegeben hat. Leute der Grünen, die ganz nah dran waren, schildern die Szene.

Die Parteivorsitzenden sprechen in intimer Runde, um zu klären, ob man überhaupt noch weiterreden solle. Lindner erklärt, aus den Sondierungen aussteigen zu wollen. Zu viele Themen seien strittig, der Gesamteindruck stimme nicht. Merkel erinnert ihn an die Verantwortung fürs Land. Sie will den wahren Grund für den Ausstieg wissen. Christian Lindner wiederholt nur das, was er schon zuvor gesagt hat. Da schaut Merkel auf ihr Handy. Ah, sie sehe, die Presse melde es schon.

Dann verlässt Lindner den Raum, die Verhandler der Freidemokraten streifen ihre Mäntel über und treten geordnet den Rückzug an. Lindner baut sich im Scheinwerferlicht auf, neben ihm sein Vize Wolfgang Kubicki und Generalsekretärin Nicola Beer und die anderen, alle mit steinernen Mienen. Lindner spricht oft frei, doch dieses Mal schaut er immer wieder auf einen eng bedruckten Zettel. Seine Hände zittern etwas, vielleicht nur wegen der Kälte.

Christian Lindner, FDP-Chef

„Es ist besser, nicht zu regieren,als falsch zu regieren“

„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, lautet Lindners Kernsatz. Es sei nicht gelungen, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Das wäre aber die Voraussetzung für eine stabile Regierung gewesen. „Nach Wochen liegt aber heute unverändert ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor.“ Den Geist des Sondierungspapiers könne und wolle die FDP nicht verantworten. „Viele der diskutierten Maßnahmen halten wir sogar für schädlich.“ Linder schaut in die Kameras. „Auf Wiedersehen.“ Bamm. Das Jamaika-Bündnis ist Geschichte.

Die Nachricht rast als Eilmeldung über die Agenturen in die Republik. Der Deutschlandfunk bringt sie in den Nachrichten um null Uhr, zwischen andere Meldungen gequetscht. Lindner geht derweil mit schnellen Schritten zu seiner schwarzen Limousine, die an der Auffahrt wartet. Seine Generalsekretärin hat keinen Wagen, der wartet. Beer muss am Bürgersteig lange Sekunden stehen, bis sie ein Taxi gesichtet hat. Ein seltsamer Moment. Es gibt Tausend Fragen, aber sie will nicht reden, sondern nur weg. Was machen sie jetzt? „Jetzt machen wir putzmuntere Opposition.“

Prinzipientreue oder Verantwortungslosigkeit?

Dass ein FDP-Chef die Macht wegstößt, wenn sie auf dem Tisch liegt, das ist neu. Die FDP zeigte sich in der bundesrepublikanischen Geschichte stets staatstragend, aber auch besonders flexibel – sei es in einer sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt ab 1969, sei es in liberalkonservativen Bündnissen unter Helmut Kohl oder Angela Merkel.

Christian Lindner agiert anders, renegatenhafter, er hatte während der Sondierungen mehrfach betont, die FDP brauche Neuwahlen nicht zu fürchten. Das kann man als neue Prinzipientreue deuten oder als neue Verantwortungslosigkeit. War der Abbruch eine inhaltliche Entscheidung, weil die FDP tatsächlich zu große Differenzen sah? Oder inszenierte Lindner eine mehrwöchige Show – und liebäugelte von Anfang an mit der Opposition? Der Sprechzettel, den Lindner vor den Kameras nutzt und auch im letzten Gespräch mit der Kanzlerin dabeihat, ist ausgedruckt.

In Unions-Kreisen wird daraus gefolgert: Der Zettel wurde gezielt vorbereitet. Schon Minuten nach Lindners Statement vor den Kameras schmückt eine Kurzfassung des Satzes – „Lieber nicht regieren als falsch“ – als gestaltete Grafik in den Parteifarben den Twitter-Account der FDP. Auch wenn so etwas technisch keine Zauberei ist, scheint es wenig wahrscheinlich, dass das Social-Media-Team der Partei das spontan um zwei Minuten nach Mitternacht erstellt hat.

Auch dass die FDP bereits am Sonntagabend zu einer Pressekonferenz am Montag einlädt, bei der Christian Lindner allein auftreten soll – und nicht etwa mit seinen potenziellen Koalitionspartnern, was im Fall einer Einigung naheliegend gewesen wäre –, mutet im Nachhinein zumindest seltsam an. Nun ist es eine Binsenweisheit, dass eine so wichtige Entscheidung nicht spontan fällt – und der Absprache bedarf. Aber sogar Lindner selbst liefert zu dieser Frage gleich mehrere Antwort-Varianten. Erst berichtet er, eine so weitreichende Entscheidung falle „nicht aus der Spontaneität des Augenblicks heraus“. Dann wieder sagt er, erst nach einem erneuten Treffen der Parteivorsitzenden am späteren Abend habe die Parteispitze entschieden, dass weitere Verhandlungen keinen Sinn mehr hätten.

Dass Lindner sich lieber gegen eine Große Koalition profilieren würde, ist kein abwegiger Gedanke. So kann er die Strategie der nationalliberalen Attacke weiterfahren, die er im Wahlkampf erfolgreich perfektioniert hat. Und er hat nicht das Problem, über zu wenig qualifiziertes Personal für diverse Regierungsposten zu verfügen. Schließlich kann seine gerade erst in den Bundestag zurückgekehrte Partei jenseits des mühseligen Regierungsgeschäfts in Ruhe stabilisieren.

Geheimer Plan B?

Auf den Gedanken, dass die FDP noch einen geheimen Plan B hat, konnte man während der Sondierungen immer wieder kommen. Lindner und Kubicki betonten in Interviews mehrfach, keine Angst vor Neuwahlen zu haben. Dann Lindners gezielte Provokationen: Mal ließ er im Stern fallen, dass in der CDU nun eine Diskussion über Merkels Nachfolge beginnen werde. Mal posaunte er heraus, dass jede Partei das Finanzministerium übernehmen dürfe, nur, bitte schön, nicht die CDU. Lindner legte eine Gratwanderung hin, mal provozierte er, mal kooperierte er. Oder schien er nur zu kooperieren?

Der Verdacht, dass Lindner die Notbremse ziehen würde, war bei den Verhandlern am Sonntag schon tagsüber gewachsen. Morgens regten sich die FDPler über ein Interview Jürgen Trittins in der Bild am Sonntag auf. Eine Nachrichtenagentur zitierte Trittin so, als sei der Familiennachzug für subsidiär geschützte Flüchtlinge nicht verhandelbar. Doch diese Zuspitzung kam von der Agentur, sie stand nicht im Interview. Dennoch kofferte Kubicki vor laufenden Kameras zurück: „Ich werde gleich vorschlagen, dass wir Jürgen Trittin dazuholen, der ja offensichtlich der Entscheider ist bei den Grünen“, stichelte er gegen die eigentlichen Parteichefs Simone Peter und Cem Özdemir. Der wiederum interpretiert die Aufregung um das Interview als Teil einer „Suche nach Exitstrategien“.

Dass CDU und Grüne der FDP am besagten Sonntag inhaltlich noch mal entgegenkamen, hört man aus beiden Parteien. So habe es bei der Vorratsdatenspeicherung ein neues Angebot gegeben. Außerdem habe die FDP ihren Herzenswunsch, eine weitgehende Abschmelzung des Solidaritätszuschlags, erfüllt bekommen. 75 Prozent der Soli-Zahler wären durch das Angebot bis 2021 komplett entlastet worden, erzählt der Grüne ­Özdemir. Da habe man sogar noch etwas draufgelegt. „Das ist mehr, als die FDP selbst aufgemacht hat in der Frage. Das taugt nicht als Begründung.“

Die Chefverhandlerin schlägt sich bereits am Sonntag auf die Seite der Grünen. Es dauert eine Stunde, bis sich die Gesprächsteilnehmer von Union und Grünen nach Lindners Paukenschlag so weit sortiert haben, um Statements abzugeben. Merkel reagiert gegen ein Uhr nachts so, wie man es von ihr kennt: geschäftsmäßig, nüchtern und ruhig. Die Union habe geglaubt, dass man gemeinsam auf einem Weg gewesen sei, bei dem man eine Einigung hätte erreichen können, sagt sie. Auch beim Thema Migration hätte man eine Lösung mit den Grünen finden können. An der Union und den Grünen, so Merkels Botschaft, lag es jedenfalls nicht.

Seehofer mit schnellem Urteil

Auch CSU-Chef Horst Seehofer lässt niemanden im Unklaren, wen er für den Schuldigen des Schlamassels hält. Dass die FDP ausgestiegen sei, bedeute eine Belastung für die Bundesrepublik Deutschland, sagt er. Er sei über weite Strecken des Tages davon ausgegangen, dass es am Ende Sondierungsergebnisse geben werde, die man den Parteigremien vorlegen könne. Eine Einigung sei „zum Greifen nah“ gewesen.

Dann kommt ein interessantes Lob aus dem Munde des Mannes, der die Obergrenze wie eine Monstranz vor sich hergetragen hatte. Auch bei der schwierigen Frage der Zuwanderung „wäre eine Einigung möglich gewesen.“ Auch diese Sätze zielen auf die Grünen. Jene hatten sich zuletzt sogar in der heiklen Flüchtlingspolitik maximal kompromissbereit gezeigt. Sie boten etwa an, einen Rahmen von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr zu akzeptieren. Am Ende dankt Seehofer dann noch ausdrücklich der Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Die Unionsleute beginnen daraufhin zu klatschen, aber nicht nur sie. Auch Jürgen Trittin applaudiert, ebenso Claudia Roth, andere Grüne ebenso. In diesen Minuten lässt sich gut beobachten, dass da etwas gewachsen ist zwischen den Schwarzen und Grünen in den vergangenen Wochen. Es spielen sich Szenen fast herzlicher Vertrautheit ab.

Merkel lächelt der jungen Grünen Agnieszka Brugger zu, sagt zu Grünen-Fraktionsgeschäftsführerin Britta Haßelmann: „Das ist auch so eine Kämpferin.“ Dafür wird sie von Claudia Roth umarmt. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter scherzt mit CDU-Finanzminister Peter Altmaier und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Die Grünen seien „richtige Profis“, heißt es in der Union über die gescheiterten Sondierungen. Tief im Stoff, bestens vorbereitet.

Man mag sich, man schätzt sich. Ein Bündnis neuer Bürgerlichkeit feiert sich da, bei Weißwein und Tannenzäpfle-Pils. Vielleicht, denkt man sich, könnten die Zeiten der FDP als natürlicher Partnerin der Union bald vorbei sein. Ob Lindner das bedacht hat? Hinter vorgehaltener Hand ­formulierten manche CDU-Politiker, was sie von seinem Hasadeursstück halten. Die FDP sei ­immer eine staatstragende Partei gewesen, sagte einer. Er sei gespannt, wie die FDP-Klientel, etwa die Unternehmerschaft, auf den Ausstieg reagiere.

Dass Union und Grüne nun plötzlich als natürliche Partner zu gelten scheinen, gefällt nicht allen. Parteichefin Simone Peter sieht in möglichen Neuwahlen auch die Chance, eine rot-rot-grüne Mehrheit zu erringen. „Es bräuchte jetzt eine linke Antwort auf die Rechtstrend im Land“, sagt sie der taz.

Und FDP-Chef Lindner versucht am Montag, die SPD doch noch in eine Große Koalition zu drängen und den Schwarzen Peter an sie weiterzugeben. „Wenn es zu Neuwahlen kommt, sind die Sozialdemokraten schuld.“

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