Verfassungsexpertin über Polen: „Reparaturarbeiten sind schwierig“
Zurück zum Rechtsstaat, das ist das Ziel von Polens neuer Regierung. Die Verfassungsrechtlerin Ewa Łętowska erklärt, warum das so kompliziert ist.
wochentaz: Frau Łętowska, vor Kurzem empörte sich Polens Präsident Andrzej Duda über einen „Terror der Rechtsstaatlichkeit“. Fühlen Sie sich von „Rechtsstaatsterroristen“ umgeben?
Ewa Łętowska: In der Tat sorgt diese Äußerung unseres Präsidenten weltweit für Furore. Aber es gibt natürlich keinen Terror der Rechtsstaatlichkeit. Präsident Duda hatte sich darüber geärgert, dass seine ehemaligen Kollegen von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ausgerechnet im Präsidentenpalast verhaftet wurden. Dabei hatte er sich das selbst zuzuschreiben. Hätte er die beiden Politiker nicht bei sich aufgenommen, die immerhin wegen Dokumentenfälschung und Amtsmissbrauchs zu zwei Jahren Haft verurteilt worden waren, hätte die Polizei die beiden Straftäter auch nicht im Präsidentenpalast verhaftet. Dass die Straftäter in Handschellen abgeführt wurden, war ganz normale Polizeiarbeit.
Dennoch sind viele polnische Intellektuelle der Ansicht, dass die Methoden der neuen Mitte-links-Regierung an jene der PiS erinnern. Macht die neue Koalition wirklich das Gleiche wie zuvor die PiS?
Nein, die Unterschiede liegen doch auf der Hand. Die PiS hat die Demokratie demontiert, um den polnischen Staat in Besitz nehmen und ausplündern zu können. Die Bürgerplattform (PO) und ihre Koalitionspartner machen genau das Gegenteil. Sie bemühen sich, Demokratie und Rechtsstaat wieder aufzubauen, um den Bürgern das verloren gegangene Vertrauen in ihren Staat zurückzugeben. Allerdings sind die Reparaturarbeiten schwierig, wenn sowohl der Präsident als auch das Verfassungstribunal und die nach wie vor mächtige PiS – jetzt als Oppositionspartei – gegen den Wiederaufbau von Demokratie und Rechtsstaat sind.
Als erste Ombudsfrau Polens hat sie dieses Amt zum Schutz der Bürgerrechte von 1987 bis 1992 aufgebaut. Von 1999 bis 2002 war sie Richterin am Obersten Verwaltungsgericht und von 2002 bis 2011 Richterin am Verfassungstribunal Polens. Sie gilt als renommierteste Verfassungsrechtlerin des Landes und ist Professorin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften.
Nochmal zum politischen Stil. Durfte der neue Kulturminister Bartłomiej Sienkiewicz die Führungsriege der PiS-Staatsmedien einfach austauschen? War das juristisch korrekt?
Politisch elegant war das sicher nicht. Aber es war eben auch nicht verfassungswidrig. In Polen haben wir es zurzeit mit zwei Phänomenen zu tun, die auch in Deutschland gut bekannt sind. Da ist zum einen der Doppelstaat, wie ihn Ernst Fraenkel (Politologe und Jurist; Anm. d. Red.) zum ersten Mal am Beispiel Nazideutschlands von 1933 bis 1945 analysiert hat. Und da ist zum anderen der Etikettenschwindel, mit dessen Hilfe autoritäre Regime ihre wahren Absichten verschleiern.
Können Sie das genauer erklären?
Wir haben es in Polen derzeit mit einem Paradebeispiel des Doppelstaats im Sinne Fraenkels zu tun: Unsere demokratische Verfassung existiert unverändert, und ihre Artikel lassen sich nach wie vor demokratisch auslegen und anwenden. Daneben ist in den letzten acht Jahren durch immer neue und zum Teil verfassungswidrige Gesetze eine Rechtspraxis entstanden, die im Widerspruch zur Verfassung steht. Zugleich übernahm die PiS die Kontrolle über das Verfassungstribunal; nicht schlagartig, aber im Laufe der Jahre. Zudem wurden die Beamten politisiert. Es entstand eine PiS-Nomenklatura. Fraenkel nannte die beiden nebeneinander existierenden Rechtssysteme Normenstaat und Maßnahmenstaat.
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Und was hat der Doppelstaat mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk beziehungsweise den PiS-Staatsmedien zu tun?
In Nazideutschland waren alle Medien gleichgeschaltet, auch die früher privaten. So weit ist es in Polen zum Glück nicht gekommen. Doch wenn wir verstehen wollen, wie es fast so weit kam, müssen wir etwas ins Detail gehen. Bevor die PiS an die Macht kam, traf der in der Verfassung verankerte Landesrat für Rundfunk und Fernsehen KRRiT alle wichtigen Medienentscheidungen. In diesem Rat waren fast alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte repräsentativ vertreten. Die PiS gründete mit einem ihrer ersten Gesetze 2016 eine Art Konkurrenzinstitution: den Nationalen Medienrat. Diesem neuen Rat übertrug sie alle bisherigen Kompetenzen des KRRiT. Schon Mitte 2016 entschied aber das damals noch funktionierende Verfassungsgericht, dass dies verfassungswidrig sei. Doch weder das Parlament mit der absoluten Stimmenmehrheit der PiS kümmerte das groß noch den PiS-nahen Präsidenten.
Die neue Tusk-Regierung fand bei ihrem Amtsantritt den Nationalen Medienrat vor, der jahrelang Entscheidungen über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk getroffen hatte, obwohl er das laut Urteil des Verfassungsgerichts gar nicht durfte?
Genau. Seine Personalentscheidungen waren verfassungswidrig und somit illegal. Der reguläre Weg wäre ein Gesetz gewesen, mit dem das neue Parlament den Nationalen Medienrat abgeschafft und die ihm illegal übertragenen Kompetenzen an den KRRiT zurückgegeben hätte. Aber es gab zwei Probleme: Zum einen war inzwischen auch der KRRiT politisiert und unter PiS-Kontrolle, zum anderen hatte der Präsident bereits sein Veto gegen ein mögliches Mediengesetz angekündigt. Was also tun, um aus einer PiS-Propagandaschleuder wieder einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu machen, wenn der normale Gesetzesweg versperrt war? Gefragt war etwas Fantasie.
Fantasie?
Ja, denn der Weg sollte trotz allem legal sein. So hat die Tusk-Regierung als Erstes laut und vernehmlich verkündet, dass in Polen wieder EU-Recht angewendet wird und dass Polen alle Urteile der europäischen Gerichtshöfe anerkennen und umsetzen wird. Das allein bringt die Regierung schon einen großen Schritt weiter, da sie sich nun auf die vielen Urteile berufen kann, die in den letzten acht Jahren in Luxemburg und Straßburg gefallen sind. Zudem gab der Sejm in einem Beschluss bekannt, aus der PiS-Propagandaschleuder wieder einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk machen zu wollen, wie er in der Verfassung vorgesehen ist. Er soll die Bürger möglichst objektiv informieren und pluralistisch sein. Erst danach hat der Kulturminister von seinem Hausrecht als Eigentümer der Rundfunkaktiengesellschaft Gebrauch gemacht und die Aufsichtsräte ausgetauscht. Die ganze Operation blieb im Übrigen unter Aufsicht der Handelsgerichte.
Das war also völlig legal?
Es war ungewöhnlich, aber nicht verfassungswidrig. In einer funktionierenden Demokratie hätte man das mit einem oder mehreren Gesetzen erledigt. Aber zurzeit geht das nicht. Dennoch sollte die neue Koalition ein Mediengesetz durchs Parlament bringen. Dann wird man sehen, ob der Präsident sein Veto einlegen wird, wie er es angekündigt hat.
Besteht die Versuchung, dass die Tusk-Regierung die von der PiS geschaffenen (Un)rechtsmöglichkeiten ausnutzt – dieses Mal im Dienste der siegreichen Koalition?
Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt. Allerdings erschwert die Methode der kleinen Schritte den Wiederaufbau der Rechtsstaatlichkeit. Zumal sich ja auch der Präsident nicht daran beteiligt. Dadurch verlangsamt sich der gesetzgeberische Reformprozess hin zu einer Normalisierung der Situation. Aber Rechtsbruch kann keine Legitimität schaffen.
Die Reformen müssen auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfinden. Wie will die Regierung dem Rechtschaos vorbeugen?
Die Gefahr eines solchen Chaos besteht natürlich. Aber sie ist nicht neu. Seit Beginn der populistischen PiS-Regierung 2015 haben wir hier Chaos. Gerade für Westeuropäer gilt es aber zu bedenken, dass es in Polen nie einen Rechtskult gab wie in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Das hat mit der Geschichte zu tun. Im 19. Jahrhundert teilten Russen, Preußen und Österreicher Polen unter sich auf und etablierten in den Teilungsgebieten ihr eigenes Recht. Den Polen war dieses Recht fremd, und sie haben es bei jeder Gelegenheit sabotiert. Dieser Zustand dauerte 123 Jahre an, bis zum Versailler Vertrag. Polen war dann gerade mal 20 Jahre unabhängig, bis es 1939 erneut aufgeteilt wurde, dieses Mal von Hitler und Stalin. Das Besatzungsrecht war wieder fremd. Auch das kommunistische Nachkriegsrecht empfanden die meisten Polen als „nicht polnisch“. Der Weg Polens hin zur Wertschätzung des Rechts, der Rechtsstaatlichkeit und der Prinzipien des Rechtsstaats war steinig.
Ist zu befürchten, dass die polnischen Staatsbürger bald die Geduld mit der neuen Koalition verlieren, weil diese nicht sofort „liefert“?
Ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Viele Polen finden den aktuellen Politzirkus sogar recht unterhaltsam. Der Sejm-Kanal im Internet hat nach wie vor sehr hohe Einschaltquoten, und manche Sitzungen werden sogar im Kino übertragen. Der Ruf „Bringt Popcorn mit!“ ist schon zum geflügelten Wort geworden. Ob allerdings Politik, die als Infotainment konsumiert wird, eine solide Unterstützung durch die Zivilgesellschaft nach sich ziehen wird, wird sich weisen müssen.
Andererseits verteidigen die PiS-Politiker jetzt „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, wollen sich bei der EU über die Tusk-Regierung beschweren und beschwören die Meinungsfreiheit. Blicken die Polen bei dieser Kakophonie noch durch?
Dieser Etikettenschwindel ist natürlich eine große Herausforderung. Was meint Donald Tusk, wenn er von „freien Medien“ spricht? Was meint Jarosław Kaczyński, wenn er die „freien Medien“ verteidigt? Handelt es sich um das Gleiche? Im Falle der Medien haben es wohl alle Polen verstanden: Die PiS-Parteipropagandaschleudern sind jedenfalls keine freien Medien. Schwieriger ist es bei den Gerichten: Wie soll ein Nichtjurist verstehen, wann ein Gericht ein „richtiges Gericht“ ist und wann es sich zwar so nennt, in Wirklichkeit aber nur die Fassade eines unabhängigen Gerichts ist? Oder auch bei den Richtern. Hier haben wir es mit einem sehr großes Problem zu tun. Denn in den letzten acht Jahren wurde etwa ein Viertel aller Richter – und wir haben rund 11.000 – in einer mehr als zweifelhaften Art und Weise befördert.
Wer erklärt den Bürgern diese Verwerfungen im Staat?
Das ist nicht nur eine Herausforderung für die Regierung, sondern auch für die Richter und Staatsanwälte, die die angeschlagene Legitimität der Gerichte wieder aufbauen müssen. Diese Aufgabe ist noch größer und schwieriger als die Transformation der Jahre 1988 bis 1990.
Wird es der Tusk-Regierung gelingen, in Polen wieder eine freiheitlich-liberale Demokratie zu etablieren?
Das weiß ich nicht, hoffe es aber sehr. Allerdings wird dies keine Demokratie wie vor 2015 sein. Wir gehen nicht zurück, sondern vorwärts, wenn auch langsam. Die Demokratie wird anders aussehen, als wir uns das heute vorstellen. Doch wenn in diesen letztlich unruhigen Zeiten nichts Außergewöhnliches geschieht, wird Polen in einigen Jahren wieder eine pluralistische Demokratie sein. Natürlich wird darin auch die nationalpopulistische PiS ihren Platz haben, aber eben auch die Linken, die Christdemokraten und die Liberalen.
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