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Veraltete Ess-Regeln in Kindergärten„Da wird Druck aufs Kind ausgeübt“

Kinder zum Essen zu zwingen, ist unzulässig, sagt die Kita-Fortbilderin Bianca Hofmann. Sie verlernten so, auf ihr Sättigungsgefühl zu hören.

Hier scheint es zu schmecken: Aber wenn sie satt sind, müssen die Kinder auch aufhören dürfen Foto: Daniel Naupold/dpa
Kaija Kutter
Interview von Kaija Kutter

taz: Frau Hofmann, in einer Kita in Duderstadt bei Göttingen wurden zwei Betreuer freigestellt, die Kinder zum Essen gezwungen haben sollen. Warum darf man das nicht?

Bianca Hofmann: Aus rechtlichen Gründen und weil wir heute besser wissen, wie Kinder Essen lernen. Früher galt zum Essen zwingen als pädagogisch richtig. Aber heute wissen wir, dass Kindern durch das Probierenmüssen ein Lebensmittel auch verleidet wird, sodass sie es gar nicht mögen. Fast jeder hat etwas, was er gar nicht mehr mag, das er als Kind probieren musste. Bei mir ist es Rosenkohl. Probierenmüssen verfehlt seinen Zweck.

Ist das in Kitas noch üblich?

Früher sehr, inzwischen haben sich viele Kitas weiterentwickelt.

Zum Essen gezwungen?

Zwei Betreuer einer katholischen Kinderkrippe im Kreis Göttingen sollen Kinder zum Essen gezwungen haben – auch mit Gewalt.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie, wie die Justizbehörde mitteilte. Der Vorwurf lautet auf Misshandlung Schutzbefohlener.

Träger der Kindertagesstätte ist die Katholische Pfarrgemeinde St. Georg in Duderstadt. Ein Sprecher des Bistums Hildesheim sagte am Montag, dass die zwei betroffenen Mitarbeiter für die Dauer der Ermittlungen freigestellt wurden.

Die Eltern der Kinder seien frühzeitig über die Vorwürfe informiert worden. Erst einmal sind in der Kita nun ohnehin drei Wochen Ferien. (dpa)

Und was heißt Probierlöffel?

Da wird eine Speise auf den Löffel gelegt, die das Kind nicht essen möchte. Und die Betreuer sagen: „Probier das und wenn du das probiert hast, dann kriegst du auch Nachtisch“ oder „Dann kriegst du noch das Fleisch“, also eine Speise, die das Kind sehr gerne mag. Aber damit wird Druck auf das Kind ausgeübt. Probiere ich jetzt nicht diese eine Sache, die ich gar nicht mag, bekomme ich ja auch nicht die tolle Sache, die ich gerne hätte.

Wie Nachtisch?

Eben. Und dieser Druck widerspricht den UN-Kinderrechten und unserem aktuellen Verständnis von Partizipation. Beteiligung der Kinder am Alltag heißt für jede Fachkraft, auch ein „Nein“ eines Kindes zu akzeptieren.

Wo steht das im Gesetz?

Ein „Nein“ des Kindes zu akzeptieren, ist Teil des aktiven Kinderschutzes. Das fußt auf dem Kinderbetreuungsgesetz (KibeG) von 2004 und findet sich auch in den Landesgesetzen. Im Bayrischen KibeG steht zum Beispiel, alle Kinder werden darin unterstützt, ihr Recht auf Selbstbestimmung in persönlichen Angelegenheiten wahrzunehmen.

Also den Löffel abzulehnen?

Ja. In Wirklichkeit probieren wir auf sieben Arten. Probieren ist nicht das In-den-Mund-Nehmen und Runterschlucken, sondern auch: Ich beschäftige mich mit einem Lebensmittel, ich koche vielleicht was damit, ich probiere auch mit den Augen. Sieht ein Lebensmittel nicht appetitlich aus, dann haben wir schon mit den Augen probiert und uns dadurch entschlossen, es nicht weiter über die anderen Sinne zu tun. Wir probieren auch mit der Nase durch den Geruch. Dieses Runterschlucken ist erst die letzte Stufe, das ist wenig bekannt.

Also ist die Mahnung „mit Essen spielt man nicht“ überholt?

Mit Essen spielen ist für die Kinder wichtig. So können sie etwas erst mit den Fingern fühlen, bevor sie es in den Mund nehmen. Unser Mund ist eins der sensibelsten Organe.

Usus ist auch, Kinder so lange sitzen zu lassen, bis ihr Teller leer ist. Ist das zulässig?

Das ist auch nicht erlaubt. Denn Kinder sollen in der Kita lernen, Essen als Genuss wahrzunehmen. Sie sollen auch unterscheiden: Habe ich Hunger? Habe ich Appetit, bin ich satt? Sie sollen Anzeichen von Sättigung erkennen. Das ist ganz wichtig und in den Bildungsplänen festgeschrieben. Und das wird damit ja unterlaufen. Also es ist heutzutage nicht in Ordnung, Kinder so lange sitzen zu lassen.

Aber genau das soll in vielen Kitas noch die Regel sein.

Da bin ich mir ziemlich sicher. Weil ich davon immer wieder in unseren Fortbildungen höre.

Sie machen genau zu dieser Frage Fortbildungen?

Ja. Es ist wichtig, zu wissen, wie Kinder Essen lernen. Zum Beispiel gibt es die Neophobie-Phase, da meiden Kleinkinder alle neuen Lebensmittel. Das dauert vielleicht ein halbes Jahr. Danach fangen die Kinder wieder an, etwas zu probieren. Wenn wir die missachten, dann missachten wir diese natürlichen Entwicklungsschritte der Kinder.

Wissen denn Kinder selbst, was sie essen müssen?

Ja, das ist untersucht. Alle haben immer dieses Bild vor Augen, dass die Kinder, wenn man sie ließe, nur noch Nudeln mit Soße und Pommes essen. Das stimmt nicht. Stellt man den Kindern eine gesunde Auswahl zur Verfügung, dann greifen sie automatisch zu dem, was ihr Körper auch gerade für die Entwicklung braucht. Und da kann es sein, dass ein Kind wochenlang viel Fleisch isst, weil der Körper das braucht. Und dieses Gefühl geht bei den Kindern kaputt, wenn sie lernen: Ich muss meinen Teller leer essen, vorher darf ich nicht aufstehen. Und das führt später bei Erwachsenen zu Fettleibigkeit. Manche hören nicht auf zu essen, bevor der Teller leer ist, weil sie Sattsein nicht merken.

Der aktuelle Fall bei Göttingen betraf eine Krippe. Gilt, was Sie sagen, auch für Kinder im Fütteralter?

Ja. Kinder, die man füttert, zeigen auch, dass sie satt sind. Die öffnen nicht mehr den Mund. Viele Erzieher sorgen sich, dass die Kinder schnell wieder Hunger haben. Da reicht aber ein Apfel bis zur nächsten Mahlzeit. Die Kinder essen in der Kita mit Frühstück, Mittag und Nachmittagssnack alle zwei, drei Stunden, die können nicht verhungern. Es lässt sich gut überbrücken, wenn ein Kind doch wieder Hunger hat.

Spielt hier auch der Personalmangel eine Rolle?

Bild: Praxis-Kita
Im Interview: Bianca Hofmann

47, ist Inhaberin der Online-Fortbildungsakademie Praxis-Kita, Erzieherin, Fachkraft für Kleinkindpädagogik und Trainerin für Erwachsenenbildung.

Das ist ein Problem. Es kann sein, dass eine Fachkraft aus dem Wunsch heraus „Ich möchte jetzt schnell alle Kinder satt kriegen, damit schnell alle Kinder im Bett sind“, dem Kind Essen in den Mund schiebt, was nicht erlaubt ist. Nur hält man auch Personen, die nicht für den Beruf geeignet sind, um den Kita-Rechtsanspruch zu erfüllen.

Von Essenszwang hört man öfter. Was muss passieren?

Jede Kita braucht ein gutes Kinderschutzkonzept. In den meisten Bundesländern sind die Kitas dazu verpflichtet, ein solches Konzept zu haben, in dem auch ganz klar hinterlegt ist: „Wir zwingen kein Kind zum Essen.“ Dann brauchen wir in den Teams eine gute Gesprächskultur. Damit Kollegen, so ein Verhalten auch ansprechen können. Und die dritte Säule ist Fortbildung.

Wirkt auch noch die Sorge vor Hunger der Nachkriegszeit nach?

Sicher. Deswegen ist es wichtig, dass Fachkräfte auch ihre Erziehung reflektieren. Meistens geben wir weiter, was wir als Kind lernten.

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11 Kommentare

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  • Ich gehöre zu denen, die sich als Kind sicher ausschließlich von Süßigkeiten ernährt hätten und bin ganz froh, dass ich zuhause die Wahlt hatte, zu essen was auf dem Tisch stand oder zu verzichten.

    Das galt nicht für die Lebensmittel, die ich so gar nicht mochte - das waren Tomaten, Rosenkohl und Wiener Würstchen - ich dene, darum esse ich das heute alles. Nachtisch gab es im Alltag ohnehin keinen. Also: Essen oder auf die nächste Mahlzeit warten.

    Zuhause ist ja aber etwas anderes als in der Betreuung. Und wenn ich mir vorstelle, was Eltern für ein Theater machen, wenn die Kinder hungrig nach Hause kommen - da möchte ich nicht arbeiten und mich dann rechtfertigen müssen.

  • Das so etwas heutzutage überhaupt noch ein Thema ist, verwundert mich sehr.



    Schon bei unseren Kindern, vor ca. 25 Jahren, musste in der Kita/Grundschule nicht alles und nicht vollständig aufgegessen werden. Und das waren ganz normale öffentliche Einrichtungen.

  • Jetzt soll auch noch der Hunger nach dem Krieg eine Rolle spielen, wenn Erziehende Kindern immer wieder beweisen müssen, dass sie sich durchsetzen können, die Kontrolle und die Macht haben.

  • Tolle Tipps, um Kinder zu asozialen Egoisten, die früh lernen sollen, sich selbst als Mittelpunkt der Welt zu sehen, zu erziehen.

    Als jemand, der in einer Großfamilie mit meist mindestens sieben Personen am Tisch groß geworden ist, stellt sich mir gerade die Frage, mit wie viele und zeitliche, materielle und auch emotionale Ressourcen nötig gewesen wären, wenn da permanent mehrere beim essen irgendwelche Sonderwünsche befriedigt haben wollten. Essen was auf dem Tisch kommt mit dem Hinweis, das es in drei oder vier Stunden die nächste Mahlzeit gibt war eine Erziehung, die ganz zu sozialerem Wesen erzogen hat, wie diese Tipps, jedem Befehl eines Kindes hätten Eltern/Erzieher etc. gefälligst Folge zu leisten.

    • @NN:

      Im Kindergarten kann es gar nichts anderes geben, als das, was die Küche anbietet.



      Aber wenn das Kind nicht essen will, dann will es nicht essen. Ist doch ok. Das Kind schadet sich damit nicht. Darauf können Eltern sich verlassen.



      Und wenn der leidige Nachtisch zur Mahlzeit gehört (warum eigentlich) dann hat das Kind, dessen Eltern die Mahlzeit bezahlen, auch ein Recht auf diesen Nachtisch.



      Wer vermeiden will, dass die Kinder das Gemüse zugunsten des Nachttischs stehen lassen, darf den Nachtisch nicht zum Bestandteil der Mahlzeit machen.

    • @NN:

      Es geht ja gar nicht um Sonderwünsche. Es geht lediglich darum, ein Nein als ein Nein zu akzeptieren - sowas geht in beide Richtungen: auch das Kind muss schließlich Nein verstehen.



      Das ist übrigens auch ein Weg, dem Kind NICHT beizubiegen, dass es erst einen Aufstand machen muss, wenn etwas nicht passt. Mit solchen Aufständen läuft man nämlich eher Gefahr, in die übliche Falle zu tappen: "Oh Gott, wir sind im Laden, das Kind tobt, alle gucken mich an, ich hab das Kind nicht unter Kontrolle, ich muss wenigstens ein BISSCHEN nachgeben ..." und damit hat man dann ein Terroristchen zu Hause.



      (Neulich erst wieder beobachtet ...)

  • Ein Hoch auf die UN-Kinderrechte.

    In meiner Kindheit waren die noch nicht in Kraft, da galt die einfache Regel:

    Gegessen, wird, was auf den Tisch kommt.

    Und, man mag es kaum glauben:

    Wird der Teller leer gegessen, wird das Wetter schön.

    So wurde einem nebenbei noch die Verantwortung für Regenwetter untergeschoben.

    • @Jim Hawkins:

      Oder die Verantwortung für die armen Kinder in Afrika. Die müssen hungern, weil Du nicht aufgegessen hast.



      (Dieser Unsinn wurde in der DDR im Kindergarten gerne erzählt.)

      • @Tetra Mint:

        Ja genau, das auch.

  • Ich bin als Kind problemlos vom Frühstück zuhause bis zum Mittagessen zuhause gekommen, ohne Hunger zwischendurch. Oder wäre es zumindest. Aber wenn ich imKindergarten nicht gegessen habe, wurden meine Eltern informiert. Und wegen der Regeln und dem Wunsch meiner Eltern wurde auf mich ein Auge gehalten, dass ich auch ja zum Frühstücken gehe und mindestens die Hälfte meiner Brotzeit esse. In der Schule dann ebenso, da waren dann zusätzlich Dinge wie "Das Brot schmeckt nach der Banane/der Apfel nach dem Brot" nur "Einbildung", genauso wie mein"ich habe keinen Hunger."



    Probierzwang kenne ich nur aus dem Trainingslager, zuhause war meine Mutter lediglich genervt, dass sie zwei verschiedene Gemüse kochen musste, erst im Teenageralter hat sie das leider geändert und ich musste essen, was es gab, oder eben gar nichts.



    Ich bin 30, mein Essverhalten ist, obwohl ich auf Hunger und Sättigung höre, gestört (zumindest nach gängigen Maßstäben), und noch immer wird mir die Fähigkeit, zu entscheiden, was und wie viel ich esse, oft abgesprochen, besonders in meiner Familie, was dazu führt, dass ich dort oder in der Öffentlichkeit Hunger und Satt ignoriere und mich satt zum Essen zwinge bzw. es mir hungrig verweigere, um mich an soziale Normen zu halten.

    Danke, dass ihr darauf aufmerksam macht, dass das ungesund ist körperlich und psychisch und dass ihr zum Umdenken anregt.

  • Bei den resistenten Personen hilft auch folgendes Argument: Mit diesem Probierlöffel der zum Nachtisch berechtigt wertet man den Nachtisch auf. Die Kinder lernen, dass der Nachtisch das wertvollere Essen ist.



    Bei meinem Sohn konnte ich genau das tatsächlich beobachten. Er mochte als Kleinkind keine Schokolade. Nach drei Montaten Kita-Essen, wo der Probierlöffel mit Schokolade belohnt wurde, war konnte ich keine Schokolade mehr offen stehen lassen.