Umgang mit Faschismus: Neben der Vernunft
Wie umgehen mit politischer Paranoia? Denn auch diese Krankheit hat nicht nur Symptome, sie hat auch Ursachen.
N ahezu überall in Europa das gleiche Bild: Autoritäre, populistische, antidemokratische, rechtsextreme, neofaschistische Bewegungen und Parteien erhalten Zulauf, gewinnen an Einfluss und kommen hier und da an die Macht. Sie können lügen, dass sich die Balken biegen, sie können ihre Inkompetenz und Korruption performativ ausleben, sie können das Recht beugen, zeigen, wie wenig ihnen Menschenleben und Umwelt wert sind. Die Maske bürgerlicher Biedermänner und Biederfrauen brauchen sie schon lange nicht mehr. Sie werden offensichtlich gewählt, nicht obwohl sie so sind, sie werden gewählt, weil sie sind, was sie sind. Nämlich: Faschisten.
Man hat Angst vor dieser Faschisierung und vor ihren „konservativen“ Mitläufern. Aber es gibt noch ein anderes Empfinden: Ein fundamentales Nichtverstehen. Wie kommen Menschen, denen es so gut geht, dazu, so böse zu sein und, mehr noch, nach einem staatlichen und gesellschaftlichen System für ihre Bosheit zu verlangen?
Gewiss, es gibt äußere Umstände für diesen Trend zur Faschisierung: Soziale und familiäre Unsicherheit, die allfällige Rhetorik und die Versprechen der Demagogen, die ihrerseits von Kräften finanziert werden, die im Fortbestehen der Demokratie nur ein Hindernis für Rendite und Macht sehen, Kränkung, Erschöpfung, Retromanie, die „sozialen Medien“ als Radikalisierungskammern, das Verlangen nach der Verdrängung der großen ökologischen und sozialen Katastrophen, ein Empfinden der Macht, eine Ästhetik der Gewalt, die Gemeinschaftslust der Täter, Identitätssucht …
Ein irrationaler Rest bleibt
Vielleicht auch ein Mangel an attraktiven Lebensentwürfen von der Gegenseite. Entsetzliche Lücken in Erziehung, Bildung und öffentlicher Aufklärung. Noch mehr ist zu finden: eine Theorie der Faschisierung in Europa muss auf vielen verschiedenen Erkenntnismodellen aufbauen, von der Soziologie über die Psychologie bis zur Semantik.
Und doch bleibt da ein irrationaler Rest, der sich aller Analyse zu entziehen scheint, eine Black Box der Wanderung von bürgerlichen Biedermännern und -frauen zu einem Welt- und Menschenbild, das sein verbrecherisches Wesen hinreichend offenbart hat. Einer, der sich im Bierzelt als „anständig“, „fleißig“ und „vernünftig“ adressieren lässt, will unbedingt wieder dorthin, wo die Väter und Großväter waren. Gerade mal ein Lebensalter nach Auschwitz.
Man richtet sich ein
Wie soll man das verstehen, ohne den Glauben an seine Mitmenschen zu verlieren? Auch angesichts eines politischen Mainstreams, in dem man den Kopf in den Sand steckt, vorauseilend sich anpasst, freiwillig abschafft, was kulturell der Faschisierung Widerstand entgegensetzen könnte? Seit niemand mehr an die Mär von den Protestwählern glaubt, richtet man sich ein. Wird schon nicht so schlimm werden, das bisschen Faschismus oder Postfaschismus oder Faschismus, der nicht so genannt werden darf.
Wenn alle vernünftigen Erklärungsversuche abgehakt sind, bleibt nur noch ein Ausfall in den Bereich des Irrationalen. Einer der Zonen, durch die man da hindurch muss, könnte den Namen „politische Paranoia“ erhalten. Hier liegt einer der verborgenen Impulse dafür, warum dein Nachbar nun bei Pegida- und AfD-„Spaziergängen“ dabei ist, von Umvolkung schwadroniert und die Grünen als Hauptfeind definiert, weil sie einem Bratwürste und Autobahnen verbieten wollen, und der sich auf keine noch so offensichtlichen Fakten mehr einlassen will, weil die alle von der Lügenpresse und grünlinksversifften Eliten stammen.
Paranoia (von altgriechisch parà, „neben“, und noûs, „Verstand“) bedeutet, dass etwas neben oder außerhalb der Vernunft existiert. Kaum ein Mensch, kaum eine Familie, eine Gemeinschaft, eine Religion, ein Staatswesen, das frei von paranoiden Schüben wäre. Das heißt also, dass es ein höchst kompliziertes Geflecht zwischen dem Alltagsverstand und dem gibt, was neben ihr/gegen ihn existiert und parallel zu ihm wahrgenommen oder „eingebildet“ wird.
Lassen wir das klinische Bild einer Paranoia in einem Subjekt beiseite; dies gehört in den Bereich der Medizin und der Privatsphäre. Wenn man von politischer Paranoia spricht, meint das also keine direkte Diagnose zur individuellen Erkrankung: Trump, Meloni, Orbán, Le Pen, Bolsonaro, Putin, Höcke … Nicht als paranoide Subjekte, sondern als Repräsentanten einer politischen Paranoia sind sie Gegenstand antifaschistischer Kritik.
Ein Denken und Wahrnehmen
Politische Paranoia meint ein Denken und Wahrnehmen, das auf diese ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zurückzuführen ist: Menschen, Milieus, Meinungen und Mythen begeben sich auf eine Seite neben der Vernunft. Das heißt: Wir sehen zu, wie ein Diskurs krank wird. Wie eine Sprache krank wird. Wie eine Kultur krank wird. Diese Krankheit hat nicht nur Symptome, sie hat auch Ursachen.
Und sie hat diese Dialektik: Die krankhafte Reaktion ist ein missglückter Versuch der Selbstheilung. Wenn also aus der Paranoia Propaganda und aus der Propaganda das Verbrechen wird, geht es, wie im richtigen Leben, darum, mit etwas fertigzuwerden, was man nicht erkennen darf. Paranoia ist eine Reaktion auf Angst, und Angst entsteht durch die Unmöglichkeit, das zu erkennen, was einen bedroht. Eine Flucht vor der Wahrheit.
Man flüchtet in den Bereich neben der Vernunft, weil innerhalb des vernünftigen Systems Widersprüche, Kränkungen, Provokationen, Niederlagen, Bedrohungen auftauchen, denen man nicht gewachsen ist. Politische Paranoia entsteht, wenn Systeme, Semantiken, Erzählungen oder Bilder der Wahrheit nicht gewachsen sind.
Wenn eine Paranoia ausgebrochen ist, dann ist der Appell an Vernunft und Moral vollkommen sinnlos. Auch ist vergleichsweise unerheblich, ob man es mit Zuwendung oder Abweisung versucht. Heilung ist nur möglich durch den schwierigen Weg zurück zu den Ursachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit