Thomas Kutschaty über NRW-Wahlen: „Die 1.000 Meter müssen weg“

In Nordrhein-Westfalen ist man auf fossile Rohstoffe aus Russland besonders angewiesen. Thomas Kutschaty, Spitzenkandidat der SPD will das ändern.

Thomas Kutschaty in Münster

Will was für die Unabhängigkeit von Russland tun: Thomas Kutschaty Foto: Meike Reiners

Schlosstheater-Café in Münster, Donnerstagabend. Eine ältere Dame kommt auf Thomas Kutschaty, früher Justizminister, zu und möchte ein Autogramm. „Hoffentlich werden Sie Ministerpräsident“, sagt sie. Dass jemand von ihm in Münster ein Autogramm will, sei ihm noch nie passiert, sagt der SPD-Mann später nach dem Interview mit der taz. Münster ist für die Sozialdemokratie eher Diaspora: wohlhabend, katholisch und schwarz-grün dominiert.

Für Kutschaty und die Bundes-SPD geht es bei der Wahl am 15. Mai in NRW um viel. Die Wahl im Saarland lief gut. In NRW wird sich zeigen, ob sich der Sieg bei den Bundestagswahlen 2021 eher der Schwäche der Konkurrenz verdankte – oder ob das schon oft totgesagte Modell der Volkspartei der linken Mitte wieder dauerhaft mehrheitsfähig wird.

Der Spitzenkandidat Kutschaty, 53, war von 2010 bis 2017 Justizminister in NRW, seit 2018 ist er Fraktionschef der SPD im Düsseldorfer Landtag und Spitzenkandidat für die NRW-Wahlen am 15. Mai. Er stammt aus einer Eisen­bahner-Familie aus dem Essener Norden und war der Erste der Familie, der Abitur machte.

Was macht ihm Angst? Mit zunehmender Wahlkampfdauer: belegte Brötchen.

Was macht ihm Hoffnung? Dass auch in den aktuell schwierigeren Zeiten viele Menschen Humor zeigen.

taz am wochenende: Herr Kutschaty, Sie wollen im Mai neuer SPD-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen werden. Hilft Ihnen der Sieg von Anke Rehlinger an der Saar?

Thomas Kutschaty: Das ist Rückenwind für uns. Junge amtierende CDU-Ministerpräsidenten, die dauernd mit dem Finger auf Berlin zeigen, können abgewählt werden. Das wollen wir in NRW wiederholen.

An der Saar war der Amtsbonus eher bei Rehlinger, die zehn Jahre Ministerin war, als bei Seiteneinsteiger Hans. Sie haben keinen Amtsbonus.

Nein, aber ich war sieben Jahre Justizminister in NRW. Und es geht vor allem um den besseren Plan für die Zukunft. Wir müssen für den klimaneutralen Umbau in den nächsten Jahren so viel ändern wie selten zuvor. Schwarz-Gelb hat in den letzten fünf Jahren mit der Abstandsregel von einem Kilometer den Ausbau der Windkraft blockiert. Allein 2017 wurden unter Rot-Grün mehr Windräder in NRW gebaut als in den drei Jahren danach. Unter der CDU wurde den Erneuerbaren der Wind aus den Segeln genommen.

Welche Abstandsregel rund um Windräder will die SPD?

Die 1.000 Meter müssen weg. Wir werden uns an die baurechtlichen Gesetze halten, die überall gelten. Nur in NRW und Bayern nicht.

Und der Widerstand gegen die Windenergie vor Ort?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Akzeptanz ist derzeit größer als je zuvor. Wir brauchen mehr Bürgerbeteiligungen bei Windparks. Wenn der Gewinn den Kommunen oder den Bürgern zugutekommt, steigt die Akzeptanz noch mal. Windkraft ist nicht teuer. Es gibt genug Firmen, die dringend Flächen suchen und sofort bauen würden. Die wollen keine Zuschüsse, sondern schnellere Planungsverfahren.

Ist seit dem Ukrainekrieg nicht alles anders? Braucht die Industrie in NRW nicht Atomstrom und Braunkohle, um einem möglichen Kollaps zu entgehen?

Wir müssen schnell raus aus der Abhängigkeit vom russischen Gas. Und so schnell wie möglich weg von fossilen Energien. Wenn wir jetzt Gas aus Katar bekommen, ist das nur das kleinere Übel. Um autark zu werden, müssen wir effizienter werden und die Erneuerbaren ausbauen.

An Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland ist auch die Bundes-SPD schuld. Ist da nicht Selbstkritik fällig?

Alle im Kanzleramt, im Außen- oder Wirtschaftsministerium sind in den letzten Jahren von Putin getäuscht worden. Auch ich habe lange an den Grundsatz geglaubt: Wer miteinander Handel treibt, führt keine Kriege gegeneinander. Doch da haben wir uns über Parteigrenzen hinweg leider getäuscht. So abhängig von einem einzelnen Lieferstaat zu sein, ist ein klarer Fehler.

Eine spezielle Verantwortung der SPD sehen Sie nicht?

Alle, die in den letzten Jahren regiert haben, tragen eine Mitverantwortung.

Manche sagen: Wegen des Ukrainekrieges müssen jetzt alle Energiereserven mobilisiert werden – auch Atomstrom. Einverstanden?

Nein, Atomkraft ist keine Alternative. Sie lohnt sich nicht, und auch Kernbrennstoffe müssen importiert werden. Unsere Abhängigkeit von Russland hat deutlich gemacht, dass die Energiewende nicht nur fürs Klima, sondern auch für unsere Sicherheit unverzichtbar ist. Jede Windkraftanlage ist ein Stück Sicherheit, jede Photovoltaikanlage ein Stück Unabhängigkeit.

Und heimisches Gas? Im Norden NRWs gibt es Vorkommen, die mit Fracking erschlossen werden könnten …

Das unkonventionelle Fracking gefährdet das Grundwasser. Es gibt genug Beispiele aus den USA und Kanada, wo braunes Wasser aus dem Wasserhahn kam, weil die Grundwasserschichten komplett durcheinandergewirbelt wurden. Die Gefahr, mit Chemie die Umwelt zu verseuchen, ist riesig. Beim Fracking steht das Risiko in keinem Verhältnis zum Nutzen. Deswegen ein klares Nein.

15 Prozent des russischen Gases werden zur Stromproduktion gebraucht. Soll das durch Braunkohle ersetzt werden?

Nein. Wer glaubt, Atomkraft, Braunkohle oder Gas seien billige Energien, irrt sich. Wir werden idealerweise 2030 aus der Kohle aussteigen, allerspätestens 2038. Wir verhandeln mit den Energieunternehmen, wie der Ausstieg schneller gelingen kann. Auch die Gewerkschaft IGBCE hat akzeptiert, dass ein frühzeitiger Ausstieg sinnvoll ist. Das Wichtige ist, dass wir Energiesicherheit gewährleisten. Dafür haben die erneuerbaren Energien oberste Priorität.

30 Prozent des Öls, 45 Prozent der Steinkohle, mehr als 50 Prozent des Gases kommen aus Russland. Machen Sie sich keine Sorgen um die energieintensiven Chemie- und Stahl­unternehmen in NRW?

Doch. Ich war kürzlich bei ThyssenKrupp, in Chemiebetrieben und Aluminiumhütten und habe mit Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräten geredet. Ja, das macht mir Sorgen. Deswegen wäre es fahrlässig, von heute auf morgen ein Embargo gegen Russland zu verhängen. Das ist zwar moralisch hochanständig, würde aber bei uns Hunderttausende Arbeitsplätze gefährden. Wir müssen uns schnell, aber mit Augenmaß unabhängig von russischen Energielieferungen machen.

Also kein Embargo. Wie steht es mit autofreien Sonntagen oder einem Tempolimit?

Das Tempolimit steht im SPD-Bundeswahlprogramm. Wir sind damit leider an der FDP gescheitert. Die gestiegenen Spritpreise sorgen schon jetzt dafür, dass manche aus meiner Nachbarschaft sagen: Ich nehm jetzt mal das Fahrrad.

Werden die hohen Energiekosten die neue Verteilungsfrage? Wie wollen Sie Wäh­le­r:in­nen mit niedrigeren Einkommen schützen?

Wir werden nicht jede Preiserhöhung staatlich abfedern können. Deshalb müssen die geringen und mittleren Einkommen steigen. Der Mindestlohn von 12 Euro ist richtig. In Nordrhein-Westfalen profitieren davon 1,6 Millionen Menschen. Dazu brauchen wir die im Koalitionsvertrag auf Bundesebene vereinbarte Kindergrundsicherung. Völlig ungerecht ist, dass ich mit meinem hohen Einkommen als Politiker ebenso viel Kindergeld bekomme wie Hartz-IV-Empfänger:innen, nämlich 219 Euro. Und denen werden diese 219 Euro sogar noch wieder von ihrer Grundsicherung abgezogen.

Im Wahlprogramm fordert die SPD Milliarden für die Schulsanierung, die Abschaffung von Kita-Gebühren, den Bau von 100.000 neuen Wohnungen, eine neue landeseigene Wohnungsbaugesellschaft. Wie wollen Sie das finanzieren?

Die Wohnungsbaugesellschaft kostet mit 20 bis 30 Millionen Euro Investitionskosten relativ wenig. Ansonsten finanziert sie den Wohnungsbau wie jeder andere Häuslebauer auch: über Kredite, die mit den Mieteinnahmen zurückgezahlt werden. In Zeiten günstiger Zinsen ist das eine geniale Idee. Ohne größeren Einsatz von Steuergeld wird ein Landesvermögen aufgebaut – und bezahlbarer Wohnraum geschaffen.

Eine landeseigene Wohnungsgesellschaft gab es schon mal in NRW.

Der damalige CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sie 2008 privatisiert, also an Großinvestoren verkauft. Das war ein katastrophaler Fehler. Heute liegt der Wert der mehr als 100.000 Wohnungen um ein Vielfaches höher.

Wie teuer wird die von der SPD geplante Sanierung der Schulen?

Die werden wir über Kredite finanzieren, die aktuell günstig wie nie sind. Das kostet etwa 2 Milliarden Euro.

Die wegen der Schuldenbremse nicht im regulären Landeshaushalt auftauchen?

Das Geld soll über einen Zeitraum von 20 Jahren von der NRW-Bank bereitgestellt werden. Der Landeshaushalt wird damit jährlich nur mit etwa 100 Millionen plus Zinsen belastet. Noch einmal: Wir reden hier über allerwichtigste Zukunftsinvestitionen. Unabhängig von der Herkunft müssen wir Kindern die besten Chancen auf einen guten Schulabschluss bieten. Aktuell ist NRW das Land mit den niedrigsten Bildungsausgaben pro Schülerin und Schüler. Das müssen wir ändern.

Also mehr Chancengerechtigkeit?

Nein, Chancengleichheit. Denn was ungleich ist, muss auch ungleich behandelt werden. Deshalb wollen wir Talentschulen besonders fördern, mit mehr Lehrerinnen und Lehrern. Ich kann an der Postleitzahl vorhersagen, wie groß die Chancen für den Bildungserfolg sind. Das macht mich echt wütend. Das muss anders werden.

Sie werben mit Ihrer persönlichen Biografie um klassische SPD-Klientel. Ihre Eltern haben in einem Zwei-Zimmer-Dachgeschoss mit Kohleofen gelebt. Ist das nicht zu dick aufgetragen?

Als ich sechs war, sind wir umgezogen. Den Ofen gab es in der größeren Wohnung immer noch. Was uns prägt, motiviert uns für das, was kommt. Daher ist mir das wichtig. Ich kenne die Situation von Leuten, die nicht auf Rosen gebettet sind und für Dinge kämpfen müssen, die für andere selbstverständlich sind.

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