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Streit um Antisemitismus-DefinitionHolocaust-Forscher verteidigen die Linkspartei

55 vor allem jüdische Intellektuelle wehren sich in einem Aufruf gegen einen instrumentellen Antisemitismus-Begriff – und loben die Linkspartei.

Auf dem Linken-Parteitag in Chemnitz hatte eine knappe Mehrheit für den Antrag gestimmt, von nun an die JDA zu benutzen Foto: Hendrik Schmidt/dpa

BERLIN taz | Im Streit um die Antisemitismus-Definition bekommt die Linkspartei Schützenhilfe von 55 Wissenschaftlern, Historikern und Intellektuellen. Die Linkspartei hatte sich auf ihrem Parteitag in Chemnitz die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) zu eigen gemacht und die von vielen Staaten akzeptierte „IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ kritisiert. Diese verwische die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Joseph Schuster, hatte der Linkspartei daraufhin vorgeworfen, „Hass auf Israel“ zu schüren. Massive Kritik kam von der Union, aber auch von einzelnen Linkspartei-Politikern wie Bodo Ramelow.

Die Erklärung, die der taz vorliegt, unterstützt die Linkspartei und deren Bekenntnis zu der JDA. „Dass die IHRA-Definition von Regierungen angenommen wurde, ist weitgehend Ergebnis politischer Kampagnen von Akteuren im Einklang mit der israelischen Regierung.“ heißt es. Die IHRA-Definition werde „von illiberalen Kräften instrumentalisiert, um bürgerliche Freiheiten und Menschenrechte zu untergraben.“

Die JDA hingegen stelle ein „sorgfältiges Gleichgewicht zwischen dem Kampf gegen Antisemitismus einerseits und der Wahrung der Redefreiheit und anderer demokratischer Freiheiten andererseits her.“ Eine Definition von Antisemitismus dürfe „nicht als Regulierungs- und Disziplinierungsinstrumente dienen – diese Rolle sollte ausschließlich Recht und Gesetz zukommen.“

Die Stellungnahme

Die Erklärung der 55 Wissenschaftler, Historiker und Intellektuellen zur Unterstützung der Linkspartei und deren Bekenntnis zu der JDA finden Sie hier.

Die Autoren, die meisten jüdische Intellektuelle, fordern die Linkspartei auf, „selbstbewusst zu dieser Entscheidung zu stehen, die ein tieferes und breiteres Nachdenken in Deutschland darüber anregen sollte, wie Antisemitismus am besten bekämpft werden kann.“

Einige der Unterzeichner des Aufrufs haben die JDA 2021 mit verfasst, so der israelische Holocaust-Forscher Amos Goldberg, Stefanie Schüler-Springorum, die Leiterin des Berliner Zentrums für Antisemitismus-Forschung und der britische Philosoph Brian Klug.

Zu den Unterstützern gehören u.a. der Holocaust-Historiker Omer Bartov, Avraham Burg, der frühere Sprecher der Knesset, Dagmar Herzog, Historikerin in New York, Ralf Michaels, Direktor des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg und Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forum in Potsdam.

Beim Parteitag in Chemnitz hatte eine knappe Mehrheit gegen den Willen des Parteivorstands für den Antrag gestimmt, von nun an die JDA zu benutzen. Die Debatte um das Verhältnis der Linkspartei zu Antisemitismus und Kritik an Israel dürfte mit dem Chemnitzer Beschluss nicht beendet sein.

Die Intervention der 55 Wissenschaftler soll der Versachlichung der Diskussion dienen. Die Realität, heißt es in dem Aufruf, sei „immer viel komplexer ist als Definitionen es sein können.“ Zudem versuchen die Autoren, darunter international anerkannte Holocaust-Forscher, die JDA und die Linkspartei gegen den Vorwurf zu verteidigen, Antisemitismus zu bagatellisieren. Es gehe darum, „Antisemitismus zu bekämpfen und gleichzeitig die Grundfreiheiten zu schützen.“

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20 Kommentare

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  • Die ganze Debatte und die Diskussionen über irgendeine Antisemitismus-Definition ist doch nur deshlab so kompliziert und verkrampft, weil sie von Hardlinern ganz bewußt falsch ausgelegt wird.



    Pauschal Juden, das jüdische Volk oder den Staat Israel in seiner Existenz zu kritisieren, diskriminieren, beleidigen und zu delegitimieren, oder von einer jüdischen Weltverschwörung zu schwadronieren ist rassistisch und falsch. Einzelne Vertreter eines Landes, eine Regierung oder deren Politik im Detail zu kritiseren und Unrecht zu benennen ist es nicht.



    Alles was darüber hinaus pauschal und verallgemeinernd behauptet und hineininterpretiert wird dient nur darum, die Debatte unmöglich zu machen und autoritär die Deutungshoheit zu haben.

  • Es geht gar nicht so sehr darum, welche der beiden Definitionen man favorisiert. Aber auch die "Jerusalemer Definition" begreift Hass an "jüdische Institutionen" als antisemitisch, und der Judenstaat ist unzweifelhaft eine solche Institution. Diese Debatte ist auf wissenschaftlicher Ebene berechtigt. Worum es aber auf parteipolitischer Ebene wirklich geht, ist, dass die Linkspartei von ebensolchen Israelhassern übernommen wird. Die Palästinakarten posten, auf welchen Israel ausradiert ist. Die das genozidale Massaker der Hamas am 7. Oktober kleinreden oder wegerklären. Die Juden im Nahen Osten ein kolonisierender Fremdkörper sind und Palästinenser das einzig wahre indigene Volk dort.

    Angesichts dessen finde ich es höchst unverantwortlich von diesen Intellektuellen, der deutschen Linkspartei einen expliziten Persilschein auszustellen. Was die Intellektuellen hier, ob sie es wissen oder nicht, tun, ist, dieser Bewegung nach außen Respektabilität zu verleihen ("das sind nicht nur gewaltbereite Mobs, sondern auch jüdische Holocaustforscher") und nach innen Vertrauen einzuflößen ("unsere extremen Ideologien sind nicht extrem, sondern wissenschaftlich verankert").

  • Anstatt auf einen Wikipedia-Artikel könnte man auch direkt aufs Original verlinken: www.jerusalemdecla...ads/JDA-German.pdf

  • Ich würde mich freuen wenn diese Richtigstellung dazu dienen würde, Deutschland aus dem Totschlagargument der "Staatsraison" zu befreien!

  • Deutschland meint die Deutungshoheit über den Antisemitismus zu haben. Mit der Staatsräson kombiniert ergibt sich dadurch eine Melange, die dazu prädestiniert ist offen seine Islamphobie ohne Wiederspruch ausleben zu können. Nicht umsonst kann Netanjahu so gut mit den Faschisten in Europa. Nicht umsonst vergisst die deutsche Regierung zu erwähnen,das ein Terrorist und ein sich selbst bezeichnender Faschist in der Regierung von Israel Alles egal. Für die Staatsräson wird hier das Demonstrationsrecht über Bord geworfen und die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte gleich mit. Um diesen Rechtsbruch zu rechtfertigen,wird die IHRA Definition missbraucht,die auch noch explizit darauf hingewiesen hat,das sie keinen rechtlichen Status erfüllt,was in Deutschland faktisch außer Kraft gesetzt ist. Weil sie wie der Heilige Gral als einzige Wahrheit aufgenommen wird. Und alle machen mit.

  • In der taz vor 11 Jahren ein Kommentar von Deniz Yücel:

    "Es gibt kein Menschenrecht auf Israelkritik. Schon gar nicht für Deutsche. Dass du nicht darfst, heißt übrigens nicht, dass du in der Sache recht hättest."



    Der Titel damals



    "Nein, du darfst nicht"

    Quelle



    taz.de/Debatte-Israelkritik/!5036516/

    Ebenfalls (m)eine Empfehlung zum Nachlesen und Nachdenken.

  • Der Zentralrat der Juden ist ohne Frage eine wichtige Stimme im öffentlichen Diskurs – aber eben nicht DIE Stimme aller Jüdinnen und Juden in Deutschland.



    Er vertritt vor allem die Positionen der etablierten, meist religiös-orthodox geprägten Gemeinden. Doch das jüdische Leben in Deutschland ist vielfältiger: Es gibt säkulare, liberale, kritische und kulturell geprägte jüdische Perspektiven, die sich vom Zentralrat nicht vertreten fühlen – und das auch ganz bewusst. In einer pluralen Gesellschaft sollte das sichtbarer sein.

    • @Ice-T:

      Britische und US-amerikanische Philosophen sowie israelische Historiker vertreten dann jüdische Deutsche besser und kochen nicht ihr eigenes politisches Süppchen?

      Und wenn unterschiedliche Definitionen von Antisemitismus für unterschiedliche Staaten angemessen wären, weil der Antisemitismus plural auftritt?

  • Ich hoffe die:der ein:e oder andere unreflektiert stets pro-Israel argumentierende Kommentator hier, liest sich diesen Artikel, sowie dem Aufruf, gut durch.

  • Bei "www.n-tv.de" ist ein Interview mit der Historikerin und Antisemitismus-Expertin Juliane Wetzel abgedruckt. Sie weist darauf hin, dass es gar keinen so immensen Unterschied zwischen der IHRA- und der JDA-Erklärung gibt. Allerdings enthält die IHRA-Erklärung im Original noch einen ganz entscheidenden Satz, der wohl in der Empfehlung der Bundesregierung und des Bundestags 2017, die IHRA-Definition zu verwenden, nicht übernommen wurde: "Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden."

    Ich empfehle, dieses Interview nachzulesen.

  • Guter Beitrag.



    Welche Definition verwendet die spd (und andere Parteien)?

    • @So,so:

      Da hörte man noch nichts von Austritten, weil Parteimitglieder die antisemitischen Positionen der Genossinnen und Genossen nicht mehr ertragen wollten.

      Wahrscheinlich also die andere Definition.

  • Über die IHRA-Definition darf gestritten werden - es fallen den unterschiedlichsten Expert*innen dazu die unterschiedlichsten Dinge ein, die man durchaus bedenken sollte in der Auseinandersetzung mit der Thematik.

    Was hingegen nicht strittig ist, ist die unverhohlene Nähe von Teilen der Linkspartei zum realen Antisemitismus mit allem was dazu gehört.



    Das kann man unter den Teppich kehren wollen als Parteiführung oder einfach schweigen. Ich werde das nicht. Denn ich erlebe immer wieder auf Veranstaltungen an denen auch die Linke teilnimmt oder dazu aufgerufen hat, dass dort Seite an Seite mit Leuten gestanden wird die "Juden ins Gas" auf arabisch rufen. Oder gleich neben Szenebekannten Islamisten, Frauenfeinden und Schwulenhassern.

    Die Reaktionen aus der Parteiführung auf sowas ist mangelhaft bis nicht vorhanden.



    Da darf man sich nicht entsetzen wenn ein Hr. Frei die Genossen im Parlament als "Antisemiten" bezeichnet.



    Da ist Selbstkritik und Aufarbeitung notwendig um die Partei zu retten.

  • Ein m.E. richtige und wichtige Stellungnahme und Einordnung.

  • Da Israel im Moment dabei ist, Menschen zu vertreiben und zu töten, kann man wohl kaum Sympathie für das Netanyahu-Geifer-Schmutzig Regime erwarten. Ob das der Zentralrat der Juden begreifen kann?

  • Es wäre schön die Erklärung mal in Gänze zu lesen - ich kann sie leider online gerade nicht finden. Ich persönlich fand die Entscheidung der Linkspartei richtig und sie wurde in meinen Augen auch aus den richtigen Gründen getroffen. Dass es jetzt argumentative Hilfe für die Linken gibt, ist gut. Ich verstehe auch die Vehemenz der Kritiker in dieser Frage nicht, die Aussagen des Zentralrates schießen mAn weit übers Ziel hinaus. Man wird nicht zum Israel-Hasser, wenn man eine Definition wählt, die alle Formen von Antisemitismus erfassen kann, die aber den Interpretationsspielraum nicht so weit öffnet, dass er droht beliebig zu sein.



    Ich fände gut, wenn in der Diskussion auch eine Rolle spielte, dass die IHRA-Definition als Arbeitsdefinition zur Sensibilisierung in der Gedenkstättenarbeit und gerade nicht als juristische Norm oder rechtliche Grundlage gedacht ist. Das wurde sogar von den Verfassern betont. Und warum? Doch nicht, weil diese Leute Israel-Hasser sind, sondern weil sie verstehen, dass die offene Formulierung zwar das Verständnis dafür, was Antisemitismus ist und sein kann erweitert, aber dadurch -in anderem Kontext- auch die Möglichkeit des Missbrauchs bietet.

  • Über 40 Länder haben die IHRA-Definition offiziell übernommen oder unterstützt diese. Aber hier haben wir 55 Wissenschaftler die ihre eigene Definition gerne als Maß hätten...Na dann...

  • Die Linke hat den richtigen Beschluss zur richtigen Zeit gefasst. Gegenüber Israel muss man Kritik üben können, ohne permanent angegriffen zu werden. Eine Demokratie verträgt das und Demokraten verstehen das.

  • "Beim Parteitag in Chemnitz hatten 48% der Deligierten, mit verkürzter Debatte und Küffyieh Schwenk und Johlen, gegen den Willen des Parteivorstands für den Antrag gestimmt, die IHRA explizit auszuschließen und nur die JDA zu benutzen"

    Wir wissen Keffiyeh stehen für gegen-Antisemitismus-sein. Wir wissen, dass 48% eine Mehrheit sind. Wir wissen, dass der Ausschluss von wissenschaftlichen Definitionen dafür geeignet ist die "Realität besser abzubilden", als Definitionen.

    IHRA Definition: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

    Beispiel: "Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden."

    Das hier ist wogegen sich der Linken Antrag gerichtet hat. Es geht um Palisoli-Populismus.