Sterben zwischen Belarus und Polen: Ignoranz und Resignation
Die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze resultiert aus der Idee, „uns“ an die Brutalität gegen „die“ zu gewöhnen. Es braucht andere Strategien.
Auf Twitter und anderswo im Internet verschicken Menschen seit ein paar Tagen Bilder von anderen Menschen an Flughafenterminals in der belarussischen Hauptstadt Minsk. Sie fliegen angeblich zurück in den Irak. Diese Bilder signalisieren: Es könnte vielleicht bald wieder vorbei sein, was da an der polnisch-belarussischen Grenze seit dem Spätsommer passiert und für das die polnische Regierung, europäische Politiker:innen und deutsche Journalist:innen Begriffe wie „Angriff“ oder „Krieg“ verwendet haben.
Zwischen 4.000 und mehreren Zehntausend Menschen wollten in die Europäische Union. Gefördert und zumindest auf den letzten Kilometern Richtung Grenze oft getrieben von dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und seinem Polizeiapparat. Und die Repräsentant:innen und ein großer Teil der Öffentlichkeit dieser Union, eine der reichsten Regionen dieser Welt, in der 470 Millionen Menschen leben, hat sich derart in einen Zustand der – tja, was war und ist das eigentlich? – Panik, Schockstarre, aktiven Resignation, mehr oder minder heimlichen Freude versetzen lassen, dass mindestens dreizehn Menschen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet gestorben sind. Menschen, die in diesem Geschehen von Politiker:innen und Journalist:innen mal direkter, mal indirekt als „Waffen“ bezeichnet worden sind.
Eine Liste dieser Toten, die meine Kolleg:innen Kateryna Kovalenko und Christian Jakob aus in Medien vermeldeten Fällen und anderen Informationen zusammengestellt haben, liest sich so: „19. 9. Zwei Männer aus dem Irak, sollen erfroren sein […], 19. 10. Ahmed al-Hasan, 19 Jahre, ertrunken im Fluss Bug, […] 18. 11., einjähriges Kind, Syrien, Todesursache unklar.“
So martialisch die Worte für den Konflikt an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union auch waren und sind, so wenig unabhängig geprüftes Wissen gibt es zugleich darüber. In vielen journalistischen deutschsprachigen Beiträgen findet sich dieser eine Satz oder eine Variation davon: „Polen lässt keine Medien für eine Berichterstattung aus der Grenzregion zu.“ Selbst in Kabul, im Zentrum der Taliban-Herrschaft, arbeiten in dieser Zeit Reporter:innen.
Deutsche Kompliz:innen
Deutsche Politiker:innen, die berechtigte polnische Sicherheitsbedenken oft ignorieren, wenn es um aggressive Politik Russlands geht, oder um die Pipeline Nord Stream 2, haben sich ausgerechnet beim Umgang mit frierenden und hungernden Menschen zu einem Komplizen der gewalttätigen Politik der polnischen Regierung gemacht.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer beschwor in der Bild am Sonntag deutsche Herzenshärte: „Wir müssen diese Bilder aushalten und Polen bei der Sicherung seiner EU-Außengrenze helfen.“ 2016 hatte das der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz schon so ähnlich formuliert: „Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.“ Das ist der fortgesetzte, rassistisch grundierte Versuch, „uns“ an die Brutalität der Grenze zu gewöhnen. An die Gewalt gegen „die“.
Das Weichei Westeuropa, das abgehärtet werden muss, damit es nicht untergeht – das sind Bilder und Begrifflichkeiten, die Anhänger:innen des Autoritären beschwören, beispielsweise Rechtsextreme und die Verkünder:innen des Putinismus in Russland. Wenn man diese Vorstellungswelt übernimmt, erscheint die kühle Abwesenheit von Mitmenschlichkeit tatsächlich als Option des gesunden Menschenverstandes.
Man hätte mit einer ebenso demonstrativen Kühle die Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze auch nach Deutschland holen können. Dafür gibt es Gründe, die auch Konservativen bedeutsam erscheinen könnten: Je länger sich Bewaffnete in Polen und Belarus an der Grenze gegenüberstehen, desto realer wird nämlich der heraufbeschworene Krieg, ein Warnschuss kann schnell mal jemanden auf der anderen Seite treffen.
Wer sich der Lösung verweigert
Selbst nach den Maßstäben des noch amtierenden deutschen Innenministers Horst Seehofer wären bis zu 200.000 Migrant:innen pro Jahr in Deutschland okay, es sind derzeit etwa 100.000, da wäre also noch Platz. Würden dann noch mehr Menschen kommen? Vielleicht. Aber es gäbe auch mehr Zeit, eine politische Lösung zu finden, die den angeblich so zentralen Werten der Europäischen Union eher entspricht.
Polen will eine solche Lösung nicht, die stärkste Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ist sehr verliebt in ihre nationalistische Inszenierung eines dräuenden Einfalls von Osten. Die PiS steht wegen Vetternwirtschaft unter Druck, ihre Stärke auf dem Land ist nicht mehr so unangefochten. Aber deutscher und europäischer Wille plus Geld haben schon Autokraten ganz anderen Kalibers überzeugt. Das im Vergleich zu Polen sehr viel kleinere Litauen hat es, nach allem was bekannt ist, übrigens geschafft, mit den von Lukaschenkos Leuten an die Grenze gepressten Menschen halbwegs im Rahmen gültiger Verfahren umzugehen.
Die deutsche Koalition der alternativlosen Härte ist eine große, sie hat auch Platz für Sozialdemokraten: Der noch amtierende Außenminister Heiko Maas sagte im Fernsehen, Deutschland werde diese Menschen nicht aufnehmen. Der wahrscheinlich künftige Kanzler Olaf Scholz kritisierte die polnische Regierung nicht und sagte zu deren Plänen einer befestigten Grenze, es stehe „uns nicht an, zu sagen, sie soll es nicht machen“.
Helfende brauchen Geld und Unterstützung
Der Grünen-Spitze fiel dazu ein, man könne Migrant:innen ja besser über die Lage informieren, dann kämen vielleicht nicht noch mehr. Als ob Menschen auf der Flucht weder Wissen noch Netzwerk hätten. Es gibt in Deutschland derzeit keine politische Kraft in den Parlamenten, die sich einer Politik der als Vernunft zelebrierten rassistischen Abwertung geschlossen entgegenstellt. Das ist das eine.
Das andere ist die Frage, für wen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union eigentlich noch gilt. Diese erlaubt es Geflüchteten, am Ort der Ankunft einen Asylantrag zu stellen. Aber auch da belohnt die EU ausgerechnet diejenigen, die auf ihre angeblich ureigenen Werte wie Rechtsstaatlichkeit pfeifen. Sie akzeptiert faktisch die Pushbacks, also dass polnische Uniformierte Menschen, die sie auf dem Boden der europäischen Union abfangen, wieder zurück nach Belarus schicken.
Damit verraten Politiker:innen in Deutschland und EU nicht nur das, was sie oft zu vertreten vorgeben, sondern auch die Organisationen in Polen, die den Menschen an der Grenze helfen und die dafür dort auch bedroht werden. Sie heißen PCPM oder Grupa Granica. Verzagen wäre spätestens an dieser Stelle des Textes verständlich, es nutzt aber niemandem. Diese Helfer:innen brauchen Geld und anderweitige Unterstützung.
Solidarität und Grenzen
Eine weitere Möglichkeit, politisch aktiv zu handeln, wäre mehr zivilgesellschaftlicher Druck. Für solidarische Städte, die Geflüchtete aufnehmen wollen, zum Beispiel. Die Grünen könnten daran erinnert werden, sich in den Koalitionsverhandlungen um ein Aufenthaltsgesetz zu bemühen, das den Bundesländern mehr Spielraum beim Aufnehmen von Menschen gibt. Das sind eher längerfristige Strategien, aber die sind auch notwendig. Die brutalisierte Grenzpolitik wird nämlich auch im Osten der EU nicht mit Twitterbildern vom Minsker Flughafen aufhören.
Manche wollen die Grenzen gegen Bezahlung auslagern: Gerald Knaus, einer der Ideengeber für den sogenannten Flüchtlingsdeal mit der Türkei, hat schon Lager für Geflüchtete auf dem Gebiet der Ukraine vorgeschlagen. Der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid tat das ebenso. Die Ukraine ist ein Land im Krieg, mit je nach Quelle 730.000 bis 1,5 Millionen Binnenflüchtlingen. Es ist eine Demokratie, die durch russische Aggression bedroht wird und mit reichen Oligarchen zu kämpfen hat.
Das Talent der EU, in Libyen, anderen Staaten Afrikas und der Türkei genau den falschen Leuten Geld für den Umgang mit Geflüchteten zu geben und dabei Rechtlosigkeit und Elend zu exportieren, ist beeindruckend. Es muss verhindert werden, dass die EU dieses Talent auch noch in osteuropäischen Gesellschaften zeigen darf, die mit weniger Mitteln weit mehr Probleme zu lösen haben als sie.
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