Stärkster Landesverband: NRW-SPD rechnet mit Klingbeil ab
Beim Landesparteitag der nordrhein-westfälischen Genoss:innen muss sich SPD-Bundeschef Lars Klingbeil harte Kritik anhören. Dennoch will er die Partei nicht nach links rücken.

Selbstverständlich ist das nicht. Schließlich hat der NRW-Landesvorstand zum Parteitag einen Leitantrag vorgelegt, der sich wahlweise als schonungslose Analyse oder als Abrechnung mit Klingbeil lesen lässt. Die Bundestagswahl vom 23. Februar bedeute eine „katastrophale Niederlage“, klagt die Landesparteispitze darin. Das historisch schlechte SPD-Ergebnis von 16,4 Prozent stehe für einen „Tiefpunkt der deutschen Sozialdemokratie“.
Schon nach dem knappen Wahlsieg von Ex-Kanzler Olaf Scholz 2021 sei es „nicht nur aus heutiger Sicht realitätsfern“ gewesen, auf „den Beginn eines sozialdemokratischen Jahrzehnts“ gehofft zu haben – eine direkte Spitze gegen Klingbeil, aus dessen Bewerbungsrede für den Bundesvorsitz 2021 das Zitat stammt.
„Katastrophal“: Das sei auch insgesamt das Bild gewesen, das Scholz’ Ampel „seit dem sogenannten Heizungsgesetz und spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds“, welches der SPD-geführten Regierung jeden finanziellen Spielraum nahm und zum Dauerstreit mit der FDP führte, abgegeben habe. Überhaupt, die Ampel: Der „ständige Streit vor allem mit der marktliberalen FDP überdeckte alles“, klagt die Spitze der NRW-SPD um Sarah Philipp und ihren Co-Vorsitzenden Achim Post.
Schon die Kanzlerwahl von Scholz 2021 sei „weniger ein Wahlsieg der SPD“ und mehr „eine Niederlage der anderen“ gewesen, heißt es in dem Leitantrag ernüchtert. „Denn tatsächlich befinden wir uns mit dieser einen Ausnahme seit zwei Jahrzehnten in einer Phase der kleinen Aufs und großen Abs“ – und das habe auch Folgen für den mit aktuell 86.000 Mitgliedern noch immer stärksten Landesverband: In NRW drohe eine Entwicklung hin zu einer „Regionalpartei des Ruhrgebiets“. Denn: „Mit wenigen Ausnahmen gewinnen wir nur noch dort Direktmandate.“
Doch Klingbeil kennt die Kritik, die wohl auch der Besänftigung der Wut, der Kanalisierung der Enttäuschung der Delegierten wie der Parteibasis dienen soll – und liefert: Natürlich habe er die Debatte um den Leitantrag verfolgt, natürlich seien große Teile der Analyse richtig.
16,4 Prozent – was solle „das denn sonst sein als ein Tiefpunkt in der Geschichte der Sozialdemokratie?“, fragt der Parteichef, dem nicht wenige Genoss:innen vorwerfen, mit Olaf Scholz schlicht auf den falschen Kanzlerkandidaten gesetzt und dem beliebtesten Politiker Deutschlands, Verteidigungsminister Boris Pistorius, nicht ausreichend den Rücken gestärkt zu haben.
„Natürlich haben wir, natürlich habe auch ich Fehler gemacht“, räumt der SPD-Chef ein. Zwar nimmt er Pistorius’ Namen nicht in den Mund. Allerdings: Er selbst habe die gerade für die SPD-Klientel wichtige „Industriepolitik vernachlässigt“, übt sich Klingbeil in Selbstkritik. Jetzt aber kämpfe die Partei „um jeden Industriearbeitsplatz“ – nicht umsonst seien „niedrigere Energiepreise, Investitionen, Bürokratieabbau“ im Koalitionsvertrag mit der Union festgeschrieben.
„Wenn die Beschäftigten jeden Tag merken, die Sozialdemokratie kämpft für uns, werden wir auch wieder stark“, hofft der Bundesvorsitzende. Auch die Themen Mindestlohn, Tariftreue bei der Vergabe von Staatsaufträgen, die Sicherung des Rentenniveaus sollen bei der SPD einzahlen, wirbt Klingbeil.
Doch vor allem jungen Genoss:innen reicht das nicht. Die Partei sei „auf Bundesebene offensichtlich bis zum heutigen Tage nicht in der Lage, eine ernsthafte Aufarbeitung des Niedergangs der SPD zu liefern“, kritisiert die Landesvorsitzende der NRW-Jusos, Nina Gaedike. Viele in der Partei unterstützten die von der Union durchgesetzte Verschärfung des Asylrechts und den harten Kurs gegen Grundsicherungsbezieher:innen, die wieder um jeden Preis in Billig-Jobs vermittelt werden sollen.
Überhaupt: „Der Niedergang der Sozialdemokratie setzte ein, als wir Hartz IV einführten und uns von unserem Kampf für einen gerechten und auffangenden Sozialstaat verabschiedet haben“, glaubt die Juso-Landeschefin.
Harte Kritik kommt auch von dem Studenten Berat Arifi aus Gelsenkirchen. „Da draußen kämpfen Menschen mit jeder Stromrechnung – und wir reden ernsthaft davon, Leistungen zu kürzen?“, fragt der 26-Jährige. Wer wie Klingbeil „progressive Stimmen rausgekegelt“ habe, klagt Arifi mit Blick auf die ohne Minister:innenamt abservierte Co-Bundesparteichefin Saskia Esken, habe „nicht nur das Gespür für die Partei verloren, sondern auch den moralischen Kompass“.
Und Stephie Helder-Notzon, Vorsitzende der SPD-Frauen in der wichtigen Parteiregion Westliches Westfalen, warnt, auch mit dem Ende der Karriere von Ex-Entwicklungsministerin Svenja Schulze gebe die SPD ein „frauenfeindliches Bild“ ab.
Klingbeil kontert, er sei zu jeder Diskussion bereit – und komme dazu „gern“ noch einmal nach NRW. Doch den Vorwurf von Juso-Landeschefin Gaedike, er nehme die Parteimitlieder „nicht ernst“, will der SPD-Chef nicht akzeptieren – schließlich hätten 85 Prozent der Genoss:innen für den Koalitionsvertrag gestimmt. Dass die Beteiligung aber nur bei mageren 56 Prozent lag, deutet Klingbeil nur verschämt an.
Und: Mit ihm werde keine „Kehrtwende in der Programmatik“ geben, werde die SPD nicht „mehr nach links“ rücken. Werben will er stattdessen um „die Mitte der Gesellschaft“, für Menschen, die „fleißig sind, die arbeiten gehen“ – und verschwindet dann schnell in Richtung des Landesparteitags der Genoss.innen in Schleswig-Holstein.
Gerade angesichts der erstarkten AfD gebe es eben keine Alternative zur Koalition mit der Union, erklären wie Klingbeil auch die mit gut 82 und knapp 89 Prozent wiedergewählten NRW-Landesvorsitzenden Achim Post und Sarah Philipp. Abgeordnete, die Friedrich Merz im ersten Wahlgang nicht zum Kanzler gewählt hätten, seien „ihrer Verantwortung überhaupt nicht gerecht geworden“, findet Post.
Gerade für die im September anstehende Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen hoffen die SPD-Landeschefs auf Unterstützung aus Berlin – vor allem auf das 500 Milliarden schwere Investitionsprogramm, dass auch in den rot regierten Städten in NRW für bessere Straßen, pünktlicheren Nahverkehr, sanierte Schulen und mehr Kita-Plätze sorgen soll. Und selbst für die 2027 anstehende Landtagswahl macht sich die Partei, die im einstigen Stammland im Februar nur noch 20 Prozent einfuhr, Mut: CDU Ministerpräsident Hendrik Wüst sei „schlagbar“, erklärte Co-Landeschefin Philipp.
Punkten will sie nicht nur mit einer Kampfansage an die vom Verfassungsschutz endlich als „gesichert rechtsextrem“ eingestufte AfD: „Mit Nazis arbeitet man nicht zusammen“, so Philipp unter starkem Applaus – nötig sei die Prüfung eines Verbotsverfahrens durch die Bundesregierung. Inhaltlich soll Wüsts schwarz-grüne Regierungskoalition dagegen mit den Themen Armutsbekämpfung, Wohnungs- und Lehrer:innenmangel und dem Kampf um Industriearbeitsplätze etwa bei „Thyssenkrupp, BP und Ford“ unter Druck gesetzt werden, forderte Philipp – und klang dabei fast wie Klingbeil.
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