Spannungen im Nahen Osten: Chancen für Krisendiplomatie
Eine Eskalation im Nahen Osten steht im Raum. Doch nüchtern betrachtet käme ein Flächenbrand beiden Seiten nicht gelegen – das gibt Hoffnung.
D ie Islamische Republik Iran muss nur drohen – und schon steht die Region still. Seit der Tötung von Hamas-Politbürochef Ismael Hanijeh in einem Gästehaus der Revolutionsgarden in Teheran wartet die Welt auf die angekündigte Rache des Iran. „Eine neue Phase des Kriegs“ kündigte Hassan Nasrallah an, Chef der vom Iran unterstützen Miliz Hisbollah im Libanon.
Wann, wo und wie genau bleibt seit Tagen offen. Der Iran ist mit seiner Eskalationsrhetorik so vorangeprescht, dass er wohl irgendetwas wird tun müssen, um nicht das Gesicht zu verlieren. Wer mit der Vernichtung Israels gedroht hat, kann sich danach kaum mit fragiler Ruhe begnügen.
Die USA fahren nun die vollen diplomatischen Geschütze auf, mit Bitten und mit Drohungen. „Es ist dringlich, dass alle in der Region die Situation genau betrachten, das Risiko der Fehlkalkulation verstehen und Entscheidungen treffen, die die Wogen glätten und nicht verschärfen“, erklärte US-Außenminister Anthony Blinken einerseits – auch an Israel gerichtet. Und das US-Militär verlegte andererseits Kriegsschiffe ins Mittelmeer und an den Persischen Golf sowie Kampfflugzeuge in die Region. Während die Krisendiplomatie sich im Vordergrund abmüht, bereiten sich im Hintergrund beide Seiten vor.
Eine Eskalation könnte so aussehen: In Anlehnung an den direkten Angriff seitens des Iran auf Israel im April könnte die Islamische Republik versuchen, die Luftabwehr Israels zu überwinden. Das ist ihr beim letzten Versuch nicht geglückt. Das Arrow-System hielt stand, und Verbündete halfen beim Abschuss der nach Israel zielenden Raketen.
Die Schwachstellen der israelischen Luftverteidigung
Die Luftverteidigung Israels hat drei größere Schwachstellen: Die schiere Masse könnte die Systeme – die Raketen auf anfliegende Geschosse feuern und diese in der Luft explodieren lassen – verwirren, es würden dann nicht mehr alle Raketen abgefangen; Städte sowie Militärinfrastruktur könnten getroffen werden. Doch wie auch der Iran hatte Israel nun Zeit, sich vorzubereiten. Und es ist zu erwarten, dass zumindest die USA wieder an der Seite ihres Verbündeten stehen werden.
Die zweite Schwachstelle sind Antipanzerraketen, die aus dem Südlibanon auf Nordisrael abgefeuert werden. Gegen die Antipanzerraketen gibt es kein Schutzsystem – aufgrund ihrer geringen Reichweite sind sie aber nur nah der Grenze relevant.
Auch die Hisbollah im Libanon – ebenso die Huthis im Jemen, die Hamas in Gaza und weitere Milizen in Syrien und dem Irak – könnte in einen koordinierten Angriff einsteigen. Die Hisbollah könnte ihren anhaltenden Beschuss massiv ausweiten – auf ganz Israel. Die dritte Schwachstelle ist die Abwehr von Drohnen.
Laut Militäranalysten könnten sie dem Luftüberwachungssystemen Israels leichter durchrutschen. Und dass Iran und seine Milizen lernen, Drohnen besser einzusetzen, zeigten die vergangenen Wochen: Im Juli explodierte im Herzen von Tel Aviv eine Drohne, die wohl von den Huthis im Jemen abgefeuert wurde.
Auch aus dem Norden schaffte es jüngst eine Drohne unentdeckt auf israelisches Gebiet und verletzte nahe der Stadt Naharija in Nordisrael fast 20 Menschen teils schwer. Und eine Überwachungsdrohne der Hisbollah, die im Juni Videos von sensibler Infrastruktur machte, bewegte sich ebenso unentdeckt durch den Luftraum.
Doch auch der Iran hat massive Schwachstellen – vor allem in seiner Verteidigung. Raketen und Drohnen abzufeuern ist verhältnismäßig billig und einfach. Sich zu verteidigen, Geschosse zu orten, abzufangen und sie kontrolliert zu zerstören ist indes komplizierter.
Iran agiert taktisch
Der strauchelnden Wirtschaft des Iran ist gerade die Ölproduktion wichtig – und Israel sind deren neuralgische Punkte sicher bekannt. Auch die für das iranische Atomprogramm genutzte Infrastruktur ist relativ schutzlos. Dass dem Iran das bewusst ist, zeigt wohl auch der berichtete jüngste Kauf von Luftabwehranlagen aus Russland.
Die Islamische Republik agiert taktisch. Nun steht wohl eine neue Runde der Geiselverhandlungen an. Wenn dieses Mal eine Lösung gelingt, werden sie und die Hisbollah den Erfolg wohl für sich reklamieren. Außerdem arbeitet der Iran weiter an der nuklearen Aufrüstung und könnte nur noch Wochen von der Atombombe entfernt sein. Und auch Israel hat wohl momentan kaum Interesse daran, den Krieg mit dem Iran auszuweiten: Zu viele militärische Ressourcen sind noch in Gaza eingebunden.
Auch ein gemäßigter Vergeltungsschlag des Iran könnte Leben kosten. Doch eine massive Eskalation käme gerade beiden Parteien weniger gelegen – und die Chancen auf zumindest einen Teilerfolg der Krisendiplomatie stehen verhältnismäßig gar nicht so schlecht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut