SPD-KandidatIn zur Bundestagswahl: Wo bleibt die Angriffslust?
Norbert Walter-Borjans findet, dass die SPD keinen eigenen Kanzlerkandidaten braucht. Was für eine unnötige Demutsgeste!
E s gibt bei der SPD immer mehr dieser Momente, in denen man sich fragt: Meinen die das ernst? Oft haben diese Situationen mit kommunikativen Desastern der Marke „gut gemeint“ zu tun, und ein solches hat gerade Norbert Walter-Borjans hingelegt. Walter-Borjans, einer von vier verbliebenen KandidatInnen im Wettkampf um den Parteivorsitz, erklärte im Interview mit Spiegel Online, die SPD sei im Moment nicht in der Position, einen Kanzlerkandidaten aufzustellen. „Ich würde erst mal dafür werben, dass wir einen Spitzenkandidaten aufstellen.“
Also keinen Kandidaten, aber doch einen Kandidaten. Aha.
Abgesehen davon, dass dies ein Lehrstück dafür sein dürfte, wie politischer Sprachgebrauch zu Politikverdrossenheit führt: Ist es nicht eine elementare psychologische Erkenntnis, dass jemand, der seiner Partei keine Führungsrolle mehr zutraut, vermutlich weniger damit rechnen darf, selbst zu ihrer Führung gewählt zu werden? Und wie genau sollte das eigentlich aussehen, eine solche Nicht-Kanzler-Kandidatur? Wie soll diese Partei Wähler*innen mobilisieren, wenn die gar nicht genau wissen, mit welchem Anspruch sie sie wählen?
Borjans' Vorschlag kommt zu einem schwierigen Zeitpunkt: wenige Tage, bevor über die Grundrente entschieden werden soll, an der sich die Koalition seit Wochen wundreibt. Und wenige Wochen, nachdem die SPD einmal mehr für Entsetzen gesorgt hatte, als sie dem sogenannten Klimapaket – man möchte sagen: Antiklimapaket – der GroKo zustimmte und massiven Spott bekam, als ihre VertreterInnen sich das auch noch schönzureden versuchten. Dass nun erwartungsgemäß das Lager der Regierungsfans in der SPD Walter-Borjans' Vorschlag verdammt, lässt die Partei nach außen nicht gerade souverän wirken, sein offenkundiges Bemühen um Ehrlichkeit und Realismus in allen Ehren.
Eine Spur zu massivhölzern auch der Zaunpfahl, den Walter-Borjans hier in Richtung Olaf Scholz schwingt, der sehr gern nicht nur SPD-Vorsitzender wäre, sondern auch Kanzler. Scholz, gegen den Walter-Borjans nun in der Vorsitzenden-Stichwahl antritt, hatte sich schon vor einem knappen Jahr als Kanzlerkandidat selbst empfohlen. Das war ebenfalls unpassend, insbesondere deshalb, weil die damals amtierende Vorsitzende Andrea Nahles hieß und nicht Olaf Scholz. Von solchen Aktionen, das war schon damals zu spüren, hält die Basis nicht viel. Und vermutlich auch nicht davon, dass jetzt ein Kandidat, der im Gegensatz zum amtierenden Vizekanzler noch sehr fern ist vom Kanzleramt, diesen anderen Kandidaten ausbremst, indem er einfach das Ziel umsteckt.
Walter-Borjans' Äußerung ist Ausdruck einer Partei, die alles oder nichts will, die nicht versteht, dass ihre Zeit als Volkspartei, die bei Wahlen 40 Prozent der Stimmen holt, vorbei ist – dass sie da aber auch nicht die einzige ist. Und anstatt sich ihren Platz zu suchen in einem zunehmend diversen Parteiensystem, kommen dann solche übertriebenen Demutsgesten – die einerseits Selbstaufgabe suggerieren, aber dann doch wieder verdächtig nach taktischem Manöver riechen.
Bisher war es freilich immer so, dass eine Spitzenkandidatur für die beiden großen Parteien selbstverständlich KanzlerInnenwille bedeutete, während Spitzenkandidatur bei den kleineren wörtlicher zu nehmen war. Aber in Zeiten, in denen sich all das relativiert, in denen ein Robert Habeck von den Grünen als möglicher nächster Regierungschef gehypt wird und ein Ministerpräsident von der Linkspartei als Retter der Sozialdemokratie gilt, ist eine Partei, die sich selbst zur Zwergin erklärt, ganz schnell weg vom Fenster. Wenn alle anderen einen Schritt nach vorn machen, darf die SPD nicht zwei zurück machen.
Dass ausgerechnet Walter-Borjans, den manche schon zum Bernie Sanders der Sozialdemokratie ausgerufen haben, diese Angriffslust fehlt, ist schade. Denn es braucht doch eigentlich jemanden wie ihn und seine Co-Kandidatin Saskia Esken an der Spitze der SPD, um den fatalen „Weiter so“-Spirit zu beenden, den niemand mehr verkörpert als Olaf Scholz.
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