Regeln, die nicht für alle gleich gelten: Die Macht ist im Verkehr immer noch auf vier Rädern unterwegs
Wenn der selbstgebastelte Zebrastreifen als verbotener Eingriff in den Straßenverkehr gilt, die gefährliche Straßenquerung für Schüler aber bleibt.

M ein Arbeitsweg führt an der Baustelle des Bundeskanzleramts vorbei: Für 1 Milliarde Euro werden hier neue Büros gebaut, weil Deutschland irgendwie gewachsen ist, es keine leeren Büros in Berlin gibt und Homeoffice oldschool ist. An dieser Kanzlerbaustelle führt ein gut frequentierter Fuß-/Radweg vorbei, der seit ein paar Wochen über eine enge Umleitung läuft.
Das funktionierte eine Weile entspannt. Bis irgendjemand laminierte Ausdrucke mit durchgestrichenem Radfahrersymbol an der Baustellenumgrenzung anbrachte. Seitdem steigt ein Teil der Radfahrer ab – und wird damit wegen seiner doppelten Breite zum Verkehrshindernis. Der andere Teil rollt wie gewohnt weiter und wird zuverlässig von entgegenkommenden Fußgängern mit einem stolzen „Radfahren ist hier verboten“ bedacht. Mehr passiert nicht.
Schließlich geht es nur um den Selbstzweck der Erinnerung an Regeln. Natürlich hat so ein laminierter Ausdruck auf der Straße rechtlich wenig Gültigkeit, es darf also weiter Radgefahren werden. Und ich finde ja, es müsste auch mal über den „Regeln sind für alle da“-Propagandaeuphemismus gesprochen werden.
Wer hat sich diesen Spruch eigentlich ausgedacht? Er stimmt nicht beim Blick ins Lehrerzimmer einer Handyverbotszonenschule. Und er stimmt in der Politik spätestens nicht mehr, seitdem Kohls Ehrenwort mehr galt als das Gesetz. Und er lenkt auch im Straßenverkehr von den bestehenden Machtverhältnissen ab. Denn wer macht zu welchem Zwecke eigentlich solche ominösen Regeln?
Klein und gefährdet vs. groß und gefährlich
In Dresden forderten Eltern viele Jahre lang eine sichere Straßenquerung für Hunderte Schüler. Nichts passierte. Bis ein beherzter Mensch Anfang des Sommers selbst einen Zebrastreifen aufmalte: Ein paar Wochen war daraufhin ein halbwegs sicheres Passieren der Straße möglich. Dann entdeckte die Stadtverwaltung den Zebrastreifen und sperrte den gesamten Übergangsbereich für Fußgänger: Das selbstständige Anbringen eines Zebrastreifens gilt schließlich als gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr.
Schüler daran zu hindern, einen sicheren Schulweg zu benutzen, ist hingegen absolut regelkonform. Auch vor der Schule meines Sohnes. Da gilt Tempo 30 und einspuriges Fahren. So weit die Regel – an die Autofahrer sich jedoch mehrheitlich nicht halten. Die Fahrspur ist ja auch so breit, dass sogar bequem nebeneinander gerast wird. Eine Anwohnerinitiative hat inzwischen einen Zebrastreifen und permanente Geschwindigkeitskontrollen beantragt. Abgelehnt. Kinder sollen sich halt früh genug an die Hauptregel gewöhnen: Klein und gefährdet hat sich groß und gefährlich unterzuordnen.
Fußgänger und Radfahrer brauchen keine „Regeln, die für alle da sind“, sondern Platz, sichere Übergänge und Rücksicht. Und Autofahrer bräuchten Regeln, deren Einhaltung kontrolliert wird, damit sie weniger Menschen als bisher verletzen und töten. Das derzeitige „Regeln sind für alle da“ ist kein Prinzip, sondern ein Märchen, in allen Bereichen. Für Ministerien gibt es neue Büros für Milliarden, für Kinder vor Schulen nicht mal einen Zebrastreifen. Regeln sind nicht neutral – sie folgen der Macht. Und die ist im Verkehr immer noch auf vier Rädern unterwegs.
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