Polizei greift hart durch: Europa im Corona-Strafwahn
Wer gegen Corona-Maßnahmen verstößt, muss in Europa je nach Land mit unterschiedlichen Konsequenzen rechnen – ein Überblick.
Ein Verstoß gegen die Maßnahmen kann vielerorts dank üppiger Bußgelder teuer kommen. Doch nicht nur das: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warnt vor zunehmenden Einschränkungen von Grundrechten in Europa im Zuge der Coronakrise. Viele Maßnahmen seien zum Schutz der Gesundheit zwar notwendig, erklärte Amnesty International am Donnerstag. Doch einige Regierungen würden die Pandemie zur Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit, Diskriminierung, Repression oder Zensur nutzen.
Vor allem Ungarn, Polen und die Türkei kritisierte Amnesty. In Ungarn zum Beispiel missbrauche Ministerpräsident Viktor Orbán die Krise als Vorwand, um sich unbegrenzte Macht zu verschaffen. Gemeint ist ein Gesetz, das es der Regierung erlaubt, auf unbestimmte Zeit per Dekret zu regieren.
Doch auch in Ländern, deren Regierungen nicht unter Verdacht stehen, die Epidemie zum Griff nach der Macht auszunutzen, hatten BürgerInnen es in den vergangenen Wochen nicht immer leicht – manchmal auch wegen übereifriger PolizistInnen oder MitbürgerInnen. Unsere taz-Korrespondenten geben einen Einblick in die Situation in ihren Ländern.
Serbien: Zwangsisolation zum orthodoxen Osterfest
Kaum hatte die Bevölkerung gedacht, dass die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus in Serbien gar nicht härter werden können, da belehrte die Regierung sie eines Besseren: Nach einer absoluten Ausgangssperre am vergangen Wochenende für die Dauer von 60 Stunden, müssen die Menschen von Freitag um 17 Uhr bis Dienstag um 5 Uhr zu Hause bleiben. Der 84 Stunden lange Hausarrest soll Versammlungen zum orthodoxen Osterfest verhindern.
Es herrscht der Ausnahmezustand. Menschen, die älter als 65 sind, haben sogar seit einem Monat absolutes Ausgangsverbot. Wer während der Ausgangssperre auf der Straße erwischt wird muss 1.300 Euro zahlen.
Noch härter sind die Strafen für die Verletzung der Selbstisolation von Menschen unter Coronaverdacht. Bei Verstoß drohen bis zu 12 Jahre Haft, falls nachgewiesen wird, dass derjenige jemanden, womöglich auch mit tödlichem Ausgang, angesteckt hat. Über 200 Personen befinden sich deshalb in Haft, Prozesse gegen sie werden in Schnellverfahren über Skype geführt. Viele Juristen halten das für verfassungswidrig.
Zumal so mancher Angeklagter behauptet, nichts davon gewusst zu haben, sich in Selbstisolation begeben zu müssen, da sie darüber nicht informiert worden seien. In der Anklageschrift eines 45-Jährigen aus Novi Sad steht buchstäblich, er habe sich „an den Appell von Staatspräsident Aleksandar Vučić nicht gehalten“, dass sich alle Bürger, die nach dem Corona-Ausbruch in Serbien aus dem Ausland gekommen sind, in Selbstisolation zu begeben haben.
Andrej Ivanji, Belgrad
Spanien: Bußgelder oft für die Ärmeren
Die unterschiedlichen Polizeikräfte Spaniens haben bis Anfang der Woche knapp über eine halbe Million Bußgeldbescheide wegen Verstoß gegen die Ausgangssperre verhängt. Hier darf seit dem 14. März nur noch auf die Straße, wer einkaufen geht, den Arzt oder eine Apotheke aufsucht, den Hund Gassi führt oder zur Arbeit muss. Alles andere ist strengstens untersagt. Wie hoch die jeweiligen Bußgelder ausfallen, legt nicht der Polizist vor Ort fest. Das macht die Behörde, bevor die Bescheide verschickt werden. Die Strafe für „Verstoß gegen den Alarmzustand“ bewegt sich zwischen 600 und 60.000 Euro.
Der Coronahausarrest ist nicht für alle die gleiche Bürde. Was in einer Wohnung mit Balkon, mit einer Internetverbindung und Geld für Netflix einigermaßen leicht auszuhalten ist, kann in einem armen Stadtteil schnell unerträglich werden.
Das schlägt sich auch in der Bußgeldstatistik in Madrid nieder: Zwei Stadtteile, Puente de Vallecas und Tetuán, stechen bei den Bußgeldbescheiden besonders hervor. Es sind die zwei ärmsten Viertel der Madrider Innenstadt. In Puente de Vallecas haben sich so viele Menschen am Virus infiziert, wie sonst nirgends in Madrid. Vor dem Virus sind nicht alle gleich.
Die Bevölkerung von Puente de Vallecas übertrifft die von vielen spanischen Provinzhauptstädten auf wesentlich weniger Raum. Wer hier wohnt, hat, wenn überhaupt, ein sehr niedriges Einkommen. Viele der Bewohner sind Immigranten der ersten Generation. Die Wohnungen sind eng, haben meist keinen Balkon und oft nicht einmal ein Fenster direkt auf die Straße. Die Innenhöfe sind klein und dunkel. Oft leben Eltern mit ihren erwachsenen Kindern zusammen.
Wenn wundert es da, dass im Regionalfernsehen Bilder von Menschen aus diesen Vierteln zu sehen waren, die auf der Straße spazieren oder auf einer Parkbank ausruhen?
Reiner Wandler, Madrid
Italien: Einkaufen nur im eigenen Viertel
Egal ob an den Ausfallstraßen, die aus Rom hinaus führen, an den Autobahnein- und -ausfahrten, oder an wichtigen Kreuzungen in den Städten: An den Kontrollposten der italienischen Staatspolizei, der Stadtpolizei und der Carabinieri ist kein Vorbeikommen. Mit quer gestellten Fahrzeugen haben sie die Strecken auf schmale Spuren verengt. Und jede_r, wirklich jede_r wird genauestens befragt, wo es denn hingehen soll.
Die Italiener_innen kennen diese engmaschigen Kontrollen vor allem aus dem Fernsehen. Denn kaum noch jemand wagt sich auf die Straßen, es sei denn, er oder sie hat wirklich einen „triftigen Grund“. Das Wichtigste, so scheint es, ist ohnehin die mediale Berichterstattung über die Kontrollen, damit die Bürger_innen auch wirklich zu Hause bleiben. Gut 10.000 Menschen werden täglich im ganzen Land kontrolliert, die Geldbuße von 400 bis 3.000 Euro wird bloß für fünf Prozent von ihnen fällig.
Mittlerweile überprüft die Polizei auch Passagiere in städtischen Bussen. Einkäufe sollen im eigenen, nicht im Nachbarviertel erledigt werden. Die Ausrede einer Frau, sie sei auf der Suche nach Karotten fürs Kaninchen quer durch Rom gefahren, brachte auch ihr Bußgeld ein.
Das Resultat lässt sich in allen italienischen Städten besichtigen. Über die Ostertage waren die Straßen völlig verwaist, genauso wie die üblichen Ausflugsziele am Meer und im Grünen. Auch unter der Woche rollen die Busse fast leer durch die Städte und niemand strebt zu Fuß dem nächsten Park zu – der ist nämlich geschlossen.
Michael Braun, Rom
Österreich: Der Denunziant, dein Freund und Helfer
In der Krise blühen in Österreich nicht nur Nachbarschaftshilfe und Solidarität, sondern auch Denunziantentum. Die Polizei ist angehalten, Personen, die sich nicht an die Abstandsregeln und Ausgangsbeschränkungen halten, zu ermahnen und notfalls zu bestrafen. Manche Polizisten legen das recht großzügig aus und Boulevard-Zeitungen stellen gerne vermeintliche „Coronasünder“ bloß.
Der Sender Ö1 berichtete am Dienstag von einer Frau, die mit ihrer Tochter eine Freundin und deren Tochter getroffen habe – mit vorgeschriebenem Abstand auf einer Wiese am Donauufer. Ein Mann habe ihnen daraufhin mit 500 Euro Strafe gedroht, denn er werde die Polizei holen. Die Frau war der Meinung, nichts falsch gemacht zu haben: „Ich will nicht behandelt werden, als wäre ich in einem Polizeistaat.“
Viele Medien berichteten zudem über einen jungen Mann, der von der Polizei angezeigt wurde, weil er „längere Zeit auf einer Parkbank gesessen“ habe und „aufgrund des regen Fußgängeraufkommens nicht den nötigen Mindestabstand von 1 Meter zu anderen Personen eingehalten“ habe. Wegen offensichtlicher Willkür und regen Medienechos wurde die Anzeige zurückgezogen. Auch der Kundin einer Drogerie drohte eine Anzeige, weil sie ein Schulheft gekauft hatte – das sei nicht lebensnotwendig.
Die teilweise unscharf formulierten Verordnungen lassen einen Spielraum, in dem Denunzianten und Erbsenzähler kreativ werden können. Allein am Osterwochenende wurden laut Polizei österreichweit 2.246 Anzeigen und 380 Geldstrafen ausgestellt.
Ralf Leonhard, Wien
Frankreich: Polizei teilt ordentlich aus
Es sollte nicht bei der leeren Drohung bleiben: Seit dem offiziellen Beginn der Ausgangssperren in Frankreich am 17. März hat die Polizei bei mehr als 10 Millionen Kontrollen fast 600.000 Bußgeldformulare wegen Nichtbeachtung der Lockdown-Regeln ausgefüllt.
Die besagen: Wer zu Fuß oder mit einem Fahrzeug auf der Straße unterwegs ist, muss dies erklären können. Dazu steht ein Formular zum Download zur Verfügung, auf dem einer der wenigen zugelassenen Gründe für das Verlassen der Wohnung angekreuzt und samt Personenangaben wie Geburtsdatum und -ort sowie der Unterschrift bestätigt wird. Wer arbeiten geht, braucht zusätzlich einen schriftliche Bescheinigung des Arbeitgebers.
Ein schlecht ausgefülltes Formular kommt teuer zu stehen. Das anfänglich auf 38 Euro festgelegte Bußgeld wurde rasch auf 135 Euro erhöht, um die abschreckende Wirkung zu verstärken. Wer mehrfach erwischt wird, muss mit einer Geldstrafe von 1.500 Euro oder in krassen Fällen sogar mit Haft rechnen.
Auch Fälle von Übereifer sind bekannt. Einige Beamte fühlen sich anscheinend ermächtigt, zu beurteilen, was bei Einkäufen „notwendig“ sei. Eine Twitterin namens „Anlya Modest Fashion“ behauptet, der Kauf eines Schwangerschaftstests in der Apotheke sei von einer Polizeibeamtin als „nicht ausdrücklich dringlich“ eingestuft worden.
Rudolf Balmer, Paris
Großbritannien: Kontrolle zwischen Einkaufsregalen
Alle nicht essenziellen Einkäufe seien zu stoppen, erklärte die britische Regierung ihrer Bevölkerung. Menschen dürfen in Großbritannien nur für Notwendigstes auf die Straße oder zur körperlichen Ertüchtigung. Die Einhaltung kontrolliert die Polizei, die mit 60 Pfund (68 Euro) Bußgeld Bürger*innen Tacheles lehren soll – bei Zahlung innerhalb von zwei Wochen muss nur die Hälfte gelöhnt werden. Seit Beginn der Ausgangssperre wurden 3.204 Strafzettel ausgehändigt, wurde am Mittwoch bekannt.
Eine all zu eifrige Polizeieinheit in Cambridge landete jedoch selbst in der Kritik, als ihr einfiel, dass es in Supermärkten ganze Regalgänge mit nicht essenziellen Waren gibt und man kontrollieren könnte, ob sich dort jemand herumtreibt. Mit samt eines Bildes ihres Einsatzwagens vor dem Supermarkt wurde der Einsatz auch noch auf dem Twitter-Profil der Polizei Cambridge gepostet.
Das Resultat? In einem Shitstorm hinterfragten Tausende den Einsatz und diskutierten, was denn essenziell sei. Wenig später kam die offizielle Entschuldigung der Polizei – die Aufgabe der Polizei sei es nicht, zu überprüfen, was die Menschen kauften: „Die Nachricht wurde mit guter Absicht von einem übereifrigen Polizeibeamten verschickt, mit dem nun ein Wörtchen gesprochen wurde.“
Daniel Zylbersztajn, London
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