Philosophin über Wahlrecht für Kinder: „Sie werden politisch entmündigt“
Kinder nicht wählen zu lassen, ist für die Philosophin Mich Ciurria eine Form der Diskriminierung. Sie fordert ein Wahlrecht ab der Geburt.
wochentaz: Frau Ciurria, die Regierungsparteien in Deutschland wollen das Jugendwahlrecht ab 16 Jahren einführen. Doch Ihre Position ist radikaler. Was fordern Sie?
Mich Ciurria: Ich denke, Kinder jeden Alters sollten das Recht haben zu wählen, wie jeder andere Mensch auch. Vielleicht ist ein sechs Monate altes Kind dazu körperlich noch nicht in der Lage. Aber sobald ein Kind wählen kann, dann sollte es das auch dürfen.
Und ab wann kann das ein Kind?
Eigentlich sobald es eine politische Meinung bilden kann. Ein sechs Monate altes Baby natürlich nicht, das kann sich nicht einmal im Spiegel erkennen. Es hat kein Ichbewusstsein, also kann es kein politisches Interesse haben. Sobald ein Kind jedoch anfängt, seine Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken, sollte das ausreichen, um es wählen zu lassen.
Sollte es dann nicht ein Mindestwahlalter geben, das beginnt, wenn man solche Wünsche und Bedürfnisse ausdrücken kann?
Es gibt keinen guten Grund für ein festgelegtes Mindestwahlalter. Erwachsene, die zum Beispiel wegen einer Behinderung kein Ichbewusstsein haben, werden ja auch nicht vom Wahlrecht ausgeschlossen. Man geht davon aus, dass sie gar nicht erst wählen, da sie kein Interesse daran haben. Das Gleiche kann man auch bei Kindern annehmen.
Mich Ciurria,
42, ist Philosophin und lehrt an der University of Missouri in den USA. Sie forscht hauptsächlich zu marxistischem Feminismus und kritischer Behindertentheorie.
Aber Menschen mit Behinderung haben diese oft ihr Leben lang. Kind ist man dagegen nur für eine begrenzte Zeit. Ist das nicht ein wichtiger Unterschied?
Niemand bleibt im Laufe seines Lebens gleich. Man verändert sich körperlich und geistig. Manche werden geistig behindert, und dennoch haben sie weiterhin ihr Wahlrecht, weil es als unantastbar gilt. Die Tatsache, dass Kinder irgendwann keine Kinder mehr sind, bedeutet nicht, dass sie kein Recht haben sollten zu wählen.
Versauen wir Kindern nicht die Kindheit, wenn sie sich so früh schon mit dem Ernst der Politik beschäftigen müssen?
Kindheit ist ein soziales Konstrukt. Das ist also etwas, was wir uns als Gesellschaft ausgedacht und wofür wir Regeln erfunden haben. Deshalb haben wir dieses Bild im Kopf, dass Kinder unschuldig, passiv, verletzlich und schutzbedürftig sind. Ein ganz ähnliches Bild hatte man im 20. Jahrhundert von der Hausfrau.
Das ist kein Zufall, diese bestimmte Vorstellung von Kindheit erfüllt in unserer Gesellschaft einen Zweck: Es geht darum, Kinder politisch zu entmündigen. Ihr Protest wird von Erwachsenen oft als trotzig oder irrational abgestempelt. Es wäre aber sinnvoller, Kindern die Macht zu geben, ihre Interessen zu vertreten.
Aber woher weiß man, dass ein Kind bereit ist zu wählen. Bräuchte es da so etwas wie politische Kompetenztests?
Diesen Vorschlag gibt es, und auch hier lassen sich historische Parallelen ziehen. In den 1970er Jahren gab es in den USA Alphabetisierungstests als Teil der Wahlregistrierung: auch eine Art Kompetenztest. Afroamerikaner_innen wurde damals der Zugang zu Bildung verwehrt und sie waren daher oft Analphabet_innen. Der Test diente dazu, ihnen das Wahlrecht zu verweigern. Er war Produkt rassistischen Gedankenguts und wurde schließlich verboten. Kompetenztests diskriminieren außerdem Menschen mit Behinderung, da einige Behinderungen die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben beeinträchtigen.
Aus philosophischer Sicht sind solche Tests ungerechtfertigt, besonders wenn sie nur für eine bestimmte Gruppe gelten. Im Fall von Kindern wären sie altersdiskriminierend. Viele Erwachsene treffen inkompetente Wahlentscheidungen, aber das ist kein Grund, sie zu testen oder vom Wahlrecht auszuschließen.
Sind Kinder in Bezug auf Wahlen nicht viel anfälliger für Manipulation als Erwachsene? Eltern könnten sie beeinflussen und auf diese Weise Wahlen manipulieren.
Ich glaube nicht, dass Eltern ihre politischen Werte so einfach an ihre Kinder weitergeben können. Kinder haben oft ganz andere Überzeugungen und werden eher von Gleichaltrigen als von ihren Eltern beeinflusst.
Ist das so?
Ja. Untersuchungen zeigen zwar, dass Kinder bis zum Alter von 10 Jahren stärker von ihren Eltern beeinflusst werden als von Gleichaltrigen. Ab da lehnen Kinder das, was ihre Eltern denken, in vielen Fällen fast vollständig ab. Viele junge Menschen sind Goths oder mögen K-Pop oder Justin Bieber, obwohl ihre Eltern das nicht tun.
Aber wenn Kinder in den ersten 10 Jahren ihres Lebens doch von ihren Eltern manipuliert werden könnten, sollte man solche Stimmen nicht verhindern?
Nein, ganz im Gegenteil. Wenn ein Wahlrecht ab 0 Jahren tatsächlich dazu führen würde, dass viele Eltern ihre Kinder derart manipulieren, würde das eher noch mehr für das Wahlrecht sprechen. Denn nur dann können diese Kinder eine Politik wählen, die sie vor dem manipulativen Verhalten ihrer Eltern schützen kann.
Die gleiche Sorge der Manipulation kam damals auf, als Frauen für das Wahlrecht kämpften. Man glaubte, sie würden wie ihre Ehemänner wählen. Und das stimmt sogar, auch heute noch stimmen einige Frauen wie ihr Mann ab. Kein vernünftiger Mensch glaubt aber, dass man Frauen deshalb grundsätzlich politisch entmündigen muss.
Wenn Eltern versuchen zu kontrollieren, wie ihre Kinder wählen, müssen wir eigentlich die Kinder schützen, indem wir ihre Rechte stärken. Kinder werden gerade sogar auf doppelte Weise unterdrückt.
Wie meinen Sie das?
Kinder sind eine besonders vulnerable Gruppe. In der Schule erfahren sie Mobbing und hier in den USA sogar so schlimme Dinge wie Schulschießereien. Zu Hause sind sie oft kaum geschützt vor Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt innerhalb der Familie. Die US-amerikanische Autorin und Feministin bell hooks hat geschrieben, dass viele Kinder in einem lieblosen Umfeld aufwachsen und nichts dagegen tun können, weil sie politisch entmündigt sind.
bell hooks politisiert die Situation von Kindern und zeigt auf, dass es sich um ein Systemproblem handelt, das eine politische Lösung erfordert. Die politische Entmündigung von Kindern geht mit vielen weiteren Ungerechtigkeiten einher, die sich auflösen könnten, wenn man sie wählen lässt.
Was für Ungerechtigkeiten sind das zum Beispiel?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Aktuell gilt es als völlig in Ordnung, Kinder zu zwingen, in die Kirche zu gehen, Klavierunterricht zu nehmen oder Französisch zu lernen. Im Grunde objektivieren Erwachsene sie dadurch aber und behandeln sie, als wären sie eine Erweiterung ihrer selbst.
Sie üben Kontrolle über Körper und Geist ihrer Kinder aus, weil sie sie nicht als autonome Individuen ansehen. Und deshalb erkennen sie auch ihr Wahlrecht nicht an. Wenn Kinder das Wahlrecht hätten, würde das die Menschen dazu bringen, sie als individuelle, autonome Menschen anzuerkennen.
Warum setzen sich noch nicht mehr Kinder und Jugendliche dafür ein, wählen zu dürfen?
Viele junge Menschen wissen gar nichts von der Debatte. Man nennt das epistemische Ungerechtigkeit. Das bedeutet, dass Kinder keinen Zugang zu dem Wissen haben, das sie brauchen, um ihre Unterdrückung zu verstehen. Das kommt bei politisch unterdrückten Gruppen häufig vor.
Und was kann man dagegen tun?
Kinder sollten über das Jugendwahlrecht und politische Gruppen, die das Jugendwahlrecht unterstützen, informiert werden. Das würde ihnen helfen, ihr eigenes Handeln als politisch bedeutsam wahrzunehmen.
Wenn die Politik stärker in Strukturen investieren würde, die Kindern zugutekommt, würde das nicht einen großen Teil der Probleme schon lösen?
Die Ungerechtigkeiten, mit denen Kinder konfrontiert sind, können niemals angemessen angegangen werden, wenn sie nicht selbst wählen dürfen. Wir können nicht darauf vertrauen, dass Erwachsene richtige Entscheidungen für sie treffen, ohne sie in den Entscheidungsprozess einzubeziehen.
Es ist einfach falsch, jungen Menschen das Wahlrecht zu verweigern. In der Vergangenheit wurde auch gesagt, dass Frauen nicht wählen müssten, weil ihre Ehemänner, die in ihrem Namen abstimmten, nur ihr Bestes im Sinn hätten. Das ist nicht logisch. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass jemand im Namen einer unterdrückten Person Entscheidungen trifft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Obergrenze für Imbissbuden
Kein Döner ist illegal
Wahl in den USA
Sie wussten, was sie tun
Streitgespräch über den Osten
Was war die DDR?
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
SPD nach Ampel-Aus
Alles auf Olaf
Ausschreitungen in Amsterdam
Ein hitziges Nachspiel