piwik no script img

Osteuropaexperte über Teilmobilisierung„Putin ist unter Druck“

Die Teilmobilisierung ist eine Reaktion auf den Druck der extremen Rechten, sagt Charles Gati. Ein Gespräch über mögliche Kriegsszenarien.

Redet immer noch von Spezialoperation statt von Krieg: Wladimir Putin Foto: Gavriil Grigorov/ap
Ralf Leonhard
Interview von Ralf Leonhard

taz: Putin hat eine Teilmobilisierung verkündet. Welche Konsequenzen hat das?

Charles Gati: Das ist schwer zu verarbeiten. Er will 300.000 Mann mobilisieren. Ich denke, Putin steht unter Druck der Kriegsfalken unter seinen Kritikern. Er reagiert also auf Druck der extremen Rechten und nicht einer liberalen Gruppe, die ein Friedensarrangement mit der Ukraine anstrebt. Das ist sehr gefährlich.

epa/picture alliance
Im Interview: Charles Gatti

88, war Professor für Politikwissenschaft am Union College und an der Columbia University in New York. Auch hat der Osteuropa- und Russland­experte das US-Außen­ministerium strategisch beraten.

Bedeutet das eine Eskalation des Konflikts?

Auf alle Fälle. Schauen wir uns einmal an, was das in der Praxis bedeutet. Reden sind Reden. Normalerweise kann man daraus einen Trend ableiten. Ich würde einmal abwarten, ob das ein Bluff ist oder in die Realität umgesetzt wird.

Kann man da die Erzählung von der Spezialoperation aufrechterhalten?

Nein, sie werden sich einen neuen Namen für diesen Krieg ausdenken müssen. Ich glaube, das macht aber keinen großen Unterschied. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung will nichts davon wissen, dass Russland in einem Krieg steht. Deswegen nennen sie es Spezialoperation. Sie wollen damit auch die Illusion aufrechterhalten, dass die Ukraine Teil Russlands ist.

Gleichzeitig werden überstürzt Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten angesetzt.

Sie sprechen bereits von der Eingliederung dieser Territorien in die Russische Föderation. Das ist hochgefährlich und ich glaube, in Europa und selbst in den USA herrscht ein naiver Optimismus, der die Gefahr, die von diesem Konflikt ausgeht, unterschätzt.

Wenn Russland die Gebiete annektiert, dann würde die Ukraine nach russischer Lesart russisches Staatsgebiet angreifen, wenn sie ihr Territorium zurückerobern will.

Das wird die russische Aggression noch steigern, aber gleichzeitig den Zusammenhalt des Westens befördern. Bisher verweigert der Westen der Ukraine ja bestimmte Waffen, mit denen Russland attackiert werden könnte. Ich denke, auf westlicher Seite wird die Mobilisierung zunehmen. Das Ziel bleibt, Russland aus der Ukraine zu vertreiben, nicht Russland anzugreifen.

Welche Fehler hat der Westen in diesem Konflikt gemacht? Es wird ja immer von Zbigniew Brzezinski gesprochen, der schon in den 1990er Jahren die Ukraine in den Westen holen wollte.

So stimmt das nicht. Brzezinski, mit dem ich gut befreundet war, hat gesagt, ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht. Außerdem hat er gemeint, dass ein Neutralitätsstatus der Ukraine erwogen werden sollte. Ich habe mit Brzezinski ein Buch geschrieben und war in fast allen Punkten einer Meinung mit ihm. Nicht in diesem Punkt allerdings.

Viele Experten meinen, es wird weder einen militärischen Sieg, noch ein formales Friedensabkommen geben, sondern einen eingefrorenen Konflikt.

Das ist möglich. Sicher ist, dass Russland nicht gewinnen wird. Das wird die Nato nicht erlauben. Auch die USA und vor allem die ukrainische Bevölkerung werden das verhindern. Ihre Entschlossenheit ist bewundernswert. Ich glaube aber auch nicht an einen militärischen Sieg der Ukraine. Sie kann einen Großteil und vielleicht sogar alle besetzten Gebiete zurückerobern. Bisher sehe ich das aber noch nicht. Die größte Gefahr sehe ich derzeit in der Möglichkeit, dass die europäischen Staaten in einem harten Winter ihre Unterstützung verringern. Dann könnte Russland einige Gebiete erobern. Die USA wollen Russland nicht besiegen. Erstaunlicherweise weiß die Biden-Regierung genau, was sie tut. Russland wird immer da sein und immer einen gewissen Einfluss auf die Ukraine ausüben. Ich denke, damit muss man sich abfinden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

8 Kommentare

 / 
  • Bis heute frage ich mich, warum die Ukraine sich nicht einfach zu Polnischem Staatsgebiet erklärt. Nach Putinscher Logik geht das ja problemlos. Damit würde Russland Polen angreifen und somit würde der Bündnissfall eintreten. Damit wären die Kämpfe vermutlich sofort beendet.

    • @Gnutellabrot Merz:

      So ein Beitritt müsste vermutlich auch von Polen akzeptiert werden. Ganz abgesehen davon, dass die Ukraine ja primär um ihre Unabhängigkeit kämpft und so ein Betritt zu einem anderen Staat sich ja auch nicht so ohne weiteres rückgängig machen lässt.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Nicht nach Putinscher Logik ist es so, es war historisch mal tatsächlich so … bis zu den Polnischen Teilungen 1772 - 1795, als das polnische Staatsgebiet - also auch die Westukraine - zwischen den europäischen Mächten Preussen, Österreich-Ungarn und Russland aufgeteilt wurde.

      de.m.wikipedia.org...i/Teilungen_Polens

      Nicht alle Verweise auf historische Gegebenheiten entspringen also dem kranken Hirn Putins … es ist nur die Frage, inwieweit geschichtliche Fakten für das moderne Völkerrecht relevant sind bzw. etwaige Gebietsansprüche daraus abgeleitet werden können. Sonst dreht sich das Rad von Nationalismus und Revanchismus noch ewig … nicht nur am Dnipro, sondern auch an anderen Schauplätzen Europas.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Tatsächlich gab es die Idee, ob Moldawien/Moldau nicht Rumänien beitreten sollte. Dann wäre es Teil des Westens und wäre unter NATO-Schutz. Das war, als man noch dachte, Russland marschiert durch...

      • @Kartöfellchen:

        Wussten Sie übrigens, dass das östliche Moldawien, damals Bessarabien, erst 1918 infolge des WK1 unter rumänische Herrschaft kam … bei der Staatsgründung 1859 verblieb dieser Teil in russischem Besitz. 1945 fiel Moldawien dann an die UdSSR, bis zu deren Zusammenbruch 1991.

        de.m.wikipedia.org...%A4nien_und_Moldau

        Meinen Sie wirklich, derartige Vorschläge seien in irgendeiner Weise hilfreich und zielführend, nur weil man unbedingt in die gleiche Revanchismus-Kerbe hauen muss, wie dies Putin hinsichtlich der Krim und des Donbass tut? Mit dem friedlichen Zusammenleben innerhalb Europas ist es dann jedenfalls ganz vorbei, sollte so etwas Schule machen.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Steile These, aber auf jeden Fall bemerkenswert.

    • 4G
      49732 (Profil gelöscht)
      @Gnutellabrot Merz:

      Wie immer, was ich machen darf, dürfen andere noch lange nicht. Da unterscheidet sich Putin nicht von Trump.

    • @Gnutellabrot Merz:

      Wäre formal möglich ja.