ÖPNV auf dem Land: Im Kuhdorf abgehängt
Mit Bus und Bahn kann nicht jeder fahren. 99 Prozent aller Dorfbewohner haben keinen vernünftigen Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr.
Landeier lieben ihren Golf, den sie jeden Samstag abschäumen, polieren, dabei die Motorwäsche nicht vergessen und stets auch daran denken, die silbern glänzenden Felgen abzutrocknen. Landeier fahren jeden, wirklich jeden Weg mit ihrem Kraftfahrzeug. Sie sind seit ihrer Schulzeit in keinen Bus mehr gestiegen und hassen Bahnhöfe, soweit ihnen überhaupt bekannt ist, was das ist. Sie haben wahlweise Benzin oder Diesel im Blut. Deshalb verpesten Landeier die Umwelt und beschleunigen den Klimawandel.
Die Wahrheit aber ist: Die allermeisten Dorfbewohner in Deutschland können gar nicht anders.
Diese Diagnose war bisher nur ein Gefühl, begründet durch ellenlanges Herumstehen an ländlichen Bushaltestellen und verzweifeltes Warten auf eine Regionalbahn. Nun ist dieses Gefühl wissenschaftlich untermauert. Eine Studie der Bahn-Tochter ioki kommt nun zu dem Schluss, dass rund 55 Millionen Menschen, also eine deutliche Mehrheit, vom öffentlichen Personennahverkehr mehr oder weniger abgehängt sind.
Von Grundversorgung träumen
Dabei sind die Ausgangsbedingungen gar nicht so schlecht. Denn 93,5 Prozent aller in der Bundesrepublik lebenden Personen wohnen so, dass die nächste Haltestelle fußläufig entfernt liegt, was die Studie mit einer Entfernung von maximal 600 Metern definiert. Nur: Das dichte Netz an Haltestellen hilft nichts, wenn diese viel zu selten bedient werden. Als ausreichend betrachtet die Studie dabei eine Abfahrt pro Stunde zwischen 6 und 21 Uhr, also eine Verkehrsfrequenz, die Großstädter wohl als absolut unerträglich betrachten würden. Das Land aber bleibt davon weit entfernt: Mehr als ein Drittel der dort lebenden Menschen kann von so einer Grundversorgung nur träumen.
Aber auch wenn ein Bus tatsächlich fährt, heißt das noch lange nicht, dass man in einem erträglichen Zeitraum auch am gewünschten Zielort ankommt. Die Studienmacher haben beim Vergleich zwischen Pkw und öffentlichem Nahverkehr sehr freundlich gerechnet. Selbst wenn man mit Bus oder Bahn doppelt so lange unterwegs ist wie mit dem eigenen Wagen, die Fahrt sich aber insgesamt nur um maximal zehn Minuten verlängert, wird dies noch für „akzeptabel“ erklärt. Das Ergebnis bleibt dennoch vernichtend: „In dörflichen Räumen von ländlichen Regionen stehen für 99 Prozent der Personen keine akzeptablen ÖV-Verbindungen zur Verfügung, um die werktägliche Mobilität zu bewerkstelligen“, heißt es. Man möchte gar nicht wissen, wie es am Wochenende zugeht.
Wir hatten so etwas schon geahnt. Aber es bleibt ein vernichtendes Resultat für ein Land, dessen kommende Regierung mit dem Ziel antreten will, wirklich wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel einzuleiten. Zumal auf dem Dorf hinzukommt, dass auch die Anschaffung eines E-Autos Probleme bereitet, weil sich dort nur in den seltensten Fällen Ladesäulen finden. Die Studie der Bahn hat sich zudem die Mühe gemacht, auch alternative Verkehrsmittel vom E-Scooter über Leihräder bis zu Car-Sharing zu berücksichtigen, ein Angebot, das in urbanen Zentren ganz selbstverständlich ist. In ländlichen Regionen dagegen beträgt die entsprechende Dichte niederschmetternde 0,1 Fahrzeuge auf 1.000 Einwohner, ist also praktisch nicht vorhanden.
Steigende Benzinkosten
An diesem Punkt angekommen könnten sich Landeier nun in ihr Schicksal fügen, den Golf besteigen und über die steigenden Treibstoffkosten fluchen. Wer bitte sollte einen halbstündigen Busverkehr zwischen Dietldorf und Burglengenfeld finanzieren? Aber es gebe, so verspricht zumindest die Studie, da einen Ausweg.
Der lautet Ruf-Sammeltaxi, das bei Bedarf vor Ort losfährt und den Reisenden bis zur nächsten Bahn- oder Busstation bringt. Dazu muss man sagen, dass es so etwas schon länger gibt. Kleinbusse oder Taxen fahren in die nächste Kreisstadt. Allerdings sind solche Angebote bis dato nur mit der Lupe zu finden.
Wie schön wäre es, wenn solch ein Service bundesweit fahren würde? Wenn damit auch noch gähnend leere Großbusse, deren Ökobilanz miserabel ausfällt, eingespart werden könnten? Wenn die Oma nicht mehr zwei Stunden warten muss, bis der Enkel vom Job kommt und sie zur Schwester kutschieren kann? Wenn schließlich der Golf-Fahrer keine Felgen mehr polieren will?
Ein Traum. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“