Ein Mann im Schneidersitz zeigt den Stinkefinger

Foto: Doro Zinn

Obdachlosigkeit und Aufbruch:Mein Leben auf der Straße

Unser Autor ist auf der Straße groß geworden, der Berliner Hermannplatz war sein Wohnzimmer. Eine Geschichte von Gewalt, Drogen und Zusammenhalt.

Ein Artikel von

14.5.2023, 11:23  Uhr

Ich öffne die Haustür, und dort steht er. Er sieht gesünder aus, als ich ihn in Erinnerung habe, scheint weniger Knochen im Gesicht zu haben. „Was machst du denn hier?“, frage ich erstaunt. Ich wollte das Haus verlassen, verabredet waren wir nicht. „Hi, ich bin gerade zwei Tage raus und dachte, ich komme mal vorbei“, antwortet er.

Er ist frisch aus dem Knast entlassen worden.

Wir sind etwas unbeholfen, nesteln an unseren Sachen herum. Über ein Jahr haben wir uns nicht gesehen. Jetzt, an einem Sonntag im April 2023, ist er plötzlich wieder da.

„Komm her, lass dich drücken“, sage ich. Wir umarmen uns. Ich fühle mich verbunden. So verbunden, wie ich es sonst kaum kenne. Pascal D. zählt zu meiner Berliner Straßenfamilie.

Wir lernten uns vor langer Zeit am Hermannplatz kennen – zwischen Karstadt und U-Bahn, zwischen Sonnenallee und Hasenheide. Dort war unser gemeinsames Wohnzimmer. Wir gehörten zu einer Gruppe drogenabhängiger Obdachloser, die sich hauptsächlich an diesem Platz aufhielten.

Ich habe den Absprung geschafft. Seit etwa zehn Jahren bin ich weg von der Straße.

Ich bin clean.

Ich arbeite.

Ich wohne.

Er nicht, zumindest nicht dauerhaft. Pascal lebt derzeit in einem Übergangswohnheim, „Carpe Diem“ heißt es. Nüchtern scheint er auch zu sein. „Erste Schritte in ein anderes Leben“, sagt er.

Ich freue mich, ihn zu sehen. Zugleich schlägt unsere Begegnung wie eine Bombe in meine Gegenwart ein. Eben noch sitze ich an meinem Macbook, pünktlich zum Mittag will ich los, einkaufen im Bioladen. Nun steht Pascal vor mir. Und mit ihm mein altes Leben.

Erinnerungen tauchen auf: Vanillepudding für 29 Cent, Schrippe dazu. Das Kupfergeld, das wir zusammensuchen, um an der Kasse bezahlen zu können. Lange her.

Ich bin auf der Straße groß geworden. Mit 12 Jahren haue ich erstmals von zu Hause ab, mit 13 erneut. Zunächst pendele ich noch zwischen meinen geschiedenen Elternteilen und der Obdachlosigkeit. Bald hänge ich nur noch am Alexanderplatz und am Bahnhof Zoo ab. Manchmal chille ich in der Potse, einem Jugendclub in Schöneberg.

Ich suche Hilfe, aber keiner hört mir zu. Auch das Jugendamt erkennt meine Not nicht. Als ich im Frühjahr 2004 meine Situation dort schildere, sagt eine Mitarbeiterin zu mir: „Wir sind für Fälle mit echten Problemen da. Nicht für Teenies, die mal kurz keine Lust auf ihre Eltern haben.“ Ich verlasse ihr Zimmer, verlasse das Haus. Ein Weg aus Steinplatten führt auf die Straße. Er kommt mir unendlich lang vor.

Mitte der Nuller Jahre leben mehrere tausend Kinder und Jugendliche auf der Straße. Heute sind den Schätzungen des Deutschen Jugendinstituts zufolge mindestens 6.500 unter 18-Jährige obdachlos. Sie würden am ehesten durch die sogenannten Überlebenshilfen aufgefangen, heißt es. Das ist ein feststehender Begriff für Essen, Schlafsack, Dusche und Ähnliches. Sozialarbeitende, zum Beispiel vom Verein Straßenkinder, fahren mit einem Bus durch Berlin und verteilen Tee und Essen. Sie hören zu, wenn jemand reden möchte. Auch ich habe von denen schon eine Suppe gelöffelt.

Das Straßenleben verbindet. Es ist zu kalt, zu warm, zu gefährlich, zu drauf, zu viel für eine Seele

Warum ich damals von zu Hause weg bin? Ich kenne kein Straßenkind, bei dem es „diesen einen Grund“ gibt. Die meisten kennen kein schönes Leben, und irgendwann sind sie alt genug, um etwas zu ändern. Wir wehren uns, indem wir fortgehen. Auf der Straße gehören wir dazu und beweisen uns. Wir versuchen, Spaß zu haben und den Rest zu vergessen. Das Straßenleben verbindet. Es ist zu kalt, zu warm, zu gefährlich, zu drauf, zu viel für eine Seele.

Die Schule besuche ich in dieser Zeit nicht mehr, meine Versetzung in die 10. Klasse „scheint ausgeschlossen“, steht auf einem Zeugnis. Ich trinke Alkohol, zu viel davon. Ich probiere vieles, auch Heroin. Mit 16 Jahren schleppe ich mich erneut ins Jugendamt. Dieses Mal hört mir ein Mitarbeiter zu. Jetzt bin ich offenbar „ein Fall mit echten Problemen“. Er sagt: „Wir werden mit Cleanpeace sprechen. Aber auf jeden Fall musst du zur Entgiftung für zehn Tage.“ Cleanpeace ist eine Koordinierungsstelle von Karuna, einem Verein für Kinder und Jugendliche in Not. Ich möchte so gerne alleine wohnen, mit Betreuung wäre auch in Ordnung, denke ich. Ich willige ein.

In der Psychiatrie, in der ich entgifte, steht nach fünf Tagen eine Amtsärztin vor mir. Sie bringt mich in einer geschlossenen therapeutischen Einrichtung in Brandenburg unter. Davon war vorher nie die Rede, es wurde nicht mit mir abgesprochen. Wieso seid ihr nicht ehrlich? Ich hasse Euch.

Mit richterlichem Beschluss werde ich in dem Heim zehn Monate eingesperrt, hinter einem grünen Zaun. Ich darf das Grundstück nicht verlassen, darf kaum Kontakt nach außen haben, soll rigide Regeln befolgen, die mir nicht einleuchten. Was habe ich eigentlich verbrochen?

Später wird der Alltag etwas lockerer. Ich lerne eine liebe Therapeutin kennen und stehe die Zeit durch, zwei Jahre. Doch ich schaffe es nicht, drogenfrei zu leben. Als ich wiederholt rückfällig werde, muss ich gehen. Auch weil stationäre Jugendeinrichtungen sich nicht mehr in der Verantwortung sehen, wenn ihre Schützlinge erwachsen sind.

Ich packe meine Sachen und steige in den Zug nach Berlin. 18 Jahre alt, Wanderrucksack, Alexanderplatz. Ich kiffe, trinke, schmeiße Tabletten ein. Für den Rückfall gibt es sogar ein Wort: Ehrenrunde heißt es im Psychiatrieslang, wenn jemand erneut auf der Straße und in der Sucht landet.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Doch von nun an begleitet mich immerhin eine Hündin: mittelgroß, weiß-braun, vier Pfoten. Ich nenne sie Flöckchen. Sie ist in der Köpi geboren, einem linken Hausprojekt in Kreuzberg. Ein Punk vom Alex kümmert sich um sie. Weil er wegen Körperverletzung verhaftet wird, übernehme ich sie. Erst ist es eine Katastrophe mit uns beiden, weil ich keine Ahnung von Hunden habe. Sechs Monate später möchte ich nicht mehr ohne sie leben. Am Fernsehturm gammeln wir herum. Flöckchen und ich. Gestrandete, Alkies, Punks.

Wir trinken, lachen, und manchmal steigen die Fans vom BFC Dynamo aus dem Zug, um uns zu verprügeln. Es ist egal, ob sie ihr Fußballspiel verloren oder gewonnen haben. Das macht denen einfach Spaß.

Über Paul, einen Altpunk vom Alex, gelange ich irgendwann in die Sparkasse am Hermannplatz. Paul habe ich über unsere Hunde besser kennengelernt, er gibt mir manchmal ein Bier aus. Er sagt: „Ich habe in einer Sparkasse einen Platz gesichert und brauche den nicht mehr.“ Gute Schnorrplätze bekommt man auf der Straße oft über Beziehungen. In der Bank gibt es Schichten, um den Platz unter mehreren Leuten aufzuteilen. Dieses System ist an begehrten Plätzen wie diesem üblich. Begehrt sind sie, wenn es dort „gut läuft“, überdacht und windstill ist.

Paul ist für mich so etwas wie ein Vorbild. Die Altpunks vom Alex heißen „die Saubande“, sie haben sich über die Zeit Respekt erarbeitet. Sie bestimmen, was geht und was nicht. Wenn es Stress gibt, dann regeln sie das. Oft müssen sie nur auftauchen, und die Sache klärt sich wie von Zauberhand. Ansonsten wird die Hand zur Faust.

In ein paar Jahren gehöre ich auch dazu, bin stark und unberührbar. Das ist alles, was ich will.

Eine Hand drückt auf einen Türöffner

Unser Autor geht an die Orte zurück, wo er früher lebte: Türöffnen als Dienstleistung, Sparkasse Foto: Doro Zinn

In der Sparkasse am Hermannplatz breite ich von nun an fast täglich meine Lederjacke für meinen Hund aus und verkaufe die Straßenzeitung motz. In meiner Freizeit sitze ich am Alex, zum Geldverdienen fahre ich in die Bank. Das läuft erstaunlich gut. Doch nach ein paar Wochen kommt es zu einem Moment, der einiges ändert: Ich will am Kottbusser Tor Gras kaufen, doch es gibt nur Heroin. Ich sage „okay“, bezahle und bin wieder angefixt. Unter den Punks ist Heroinkonsum verpönt. Ich habe keine Lust, darauf angesprochen oder schief angeguckt zu werden. Ich löse mich vom Alex und bleibe am Hermannplatz.

Ein Altpunk werde ich wohl nicht mehr.

Am Alex war oft Party, am Hermannplatz lebt es sich gar nicht mehr unbeschwert. Ich lerne Wohnungslose kennen, die harte Drogen nehmen, und werde Teil dieser neuen Gemeinschaft. Die Leute sind ernster und viel älter als ich. Mit 20 bin ich der Jüngste unserer Gruppe. Es geht oft ums bloße Überleben. Rund um den Hermannplatz leben viele Menschen aus türkischen und arabischen Familien, aber die Gruppen der Obdachlosen mischen sich kaum. In unserer Straßenfamilie sind wir zu neunt.

Das sind unsere Namen:

Pascal D.;

Jürgen G.;

Christiane F.;

Dude;

Renate M.;

Sabine weißichnichtmehr,

Björn von H.,

Goldlöckchen.

Und ich, Sam Andreas.

Ich heiße in Wirklichkeit allerdings anders. Weil nicht jeder meine Biografie im Internet finden soll, schreibe ich diesen Text unter einem Pseudonym.

Am Hermannplatz leben wir in einer Parallelwelt. Das große Einkaufszentrum, Karstadt, ist unsere Basis. Die umliegenden Hausflure, Dachböden und Keller unser Bett. Den Menschen das Geld aus der Tasche zu fragen, ist unsere Arbeit. Freundlich, zuvorkommend, „bitte“, „danke“ und nicht zu aufdringlich. Jeden Tag und ohne Urlaub. Dieser Job ist für beide Seiten nicht leicht zu ertragen, schätze ich. Manchmal klauen oder dealen wir auch. Das ist noch unbefriedigender und funk­tio­niert oft nur kurz.

Wir sind für die meisten unsichtbar. Wir erfinden eigene Regeln. Wir kämpfen uns durch

Jürgen G.: Jürgen steht an einem der Eingänge zu Karstadt und schnorrt. Ich kenne niemanden, der Jürgen nicht leiden kann. Er redet nicht viel. Jürgen hat sogar eine Visitenkarte: „vor Karstadt, Montag bis Samstag“, steht darauf. Die hat ein Student für ein Projekt drucken lassen. Total absurd, und trotzdem ist Jürgen sehr stolz darauf. Er verschenkt sein Kärtchen an seine „Stammkunden“ und wartet dann auf die irritierten Gesichter. Jürgen und mein Hund sind verknallt ineinander – kann man echt nicht anders sagen. Flöckchen spaziert manchmal von selbst los, um ihn zu suchen. Wenn sie ihn findet, wedelt ihre Rute so sehr, dass sie beinahe umfällt.

Eine Frau schaut in die Kamera

Christiane Foto: privat

Christiane F.: Jürgens zweite große Liebe heißt Christiane. Diese Frau ist nicht totzukriegen. Sie verabscheut alle, die sich klein machen. Wenn einer von uns rumnörgelt, was alles scheiße läuft, hält sie dagegen. Sie sieht immer das Positive. Christiane F. wurde durch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ deutschlandweit bekannt; am Hermannplatz redet niemand groß darüber, sie ist einfach eine von uns. Sie hätte eigentlich genug Geld und Möglichkeiten, um sich zu lösen. Aber sie bleibt bei uns, ihren Freunden.

Pascal D. und Dude: Pascal besucht uns mehrmals täglich. Er ist immer auf Achse, grast die Mülleimer und Mülltonnen nach Flaschen ab oder arbeitet sich mit einer Straßenzeitung durch die U-Bahn. Meistens ist Dude mit dabei. Während Pascal bereits seine Dritten trägt und so dünn ist, dass man auf seinen Rippen Klavier spielen könnte, hält sich der jüngere Dude noch für etwas Besseres. Er sagt immer: „So wie ihr werde ich nicht. Ich habe eine Wohnung, und es ist alles unter Kontrolle.“ Dafür lachen wir ihn aus. Er weiß als angehender Junkie noch nicht, mit wem er sich angelegt hat: Die Königin H ist unbarmherzig und verschlingt jeden.

Renate M.: Renate ist am Hermannplatz eine Institution. Sie schnorrt mit ihrem Hund Lumpi beim Übergang zwischen U-Bahnhof und Karstadt. Renate ist nur 1,60 Meter groß, aber kaum jemand wagt, ihren Platz unabgesprochen zu besetzen. Sie kann ausrasten – aber wie. Als ein Obdachloser von einem benachbarten U-Bahnhof einmal ihren Platz belegt, schreit sie ihn an: „Wenn ich dich Fatzke hier noch einmal sehe. Nein, unterbrich mich nicht.“ Schimpfworte schallen durch den Schacht. Mit der motz verpasst sie ihm Ohrfeigen. Lumpi bellt, ununterbrochen. Der Neue haut fluchend ab, Renate setzt sich fluchend hin. Für Kino brauche ich hier am Hermannplatz echt kein Geld ausgeben.

Sabine: Nach meinem ersten Jahr stößt eine jüngere Frau zu unserer Gruppe dazu: Sabine. Sie ist für die anderen keine Unbekannte, weil sie nur kurz auf Erholung war, im Knast. Das Gefängnis kann ein überlebenswichtiger Ort sein. Dort können wir auftanken, werden medizinisch versorgt, es ist warm, und es gibt regelmäßig Essen. Ich kenne mehrere Obdachlose, die sich zu Beginn der kalten Jahreszeit freiwillig stellen, um in den Knast zu kommen. Wir haben ein Dauerticket dahin, weil Kontrolleure uns regelmäßig wegen Schwarzfahrens in Bus und Bahn erwischen. Sabine besucht uns zunächst nur. Sie jobbt in einem Café und wohnt bei einem Kumpel. Sie versucht sich im normalen Leben, aber die Sucht ist bald stärker. Nach ein paar Monaten verliert Sabine ihre Arbeit, fängt wieder an zu schnorren. Manchmal kommt sie zu uns in die Sparkasse.

Björn von H.: Dort arbeiten Björn und ich mit Goldlöckchen im Schichtdienst. Mit Björn verstehe ich mich anfangs nicht gut. Er gehört wie ich zu den Jüngeren, aber er ist mir zu weich, zu schlau. Bevor er wegen Depressionen auf der Straße landete, hat er eine Familie gegründet. Er hat sogar studiert. Und so redet er auch. Überhaupt will Björn immer alles mit Worten klären. Unsere Beziehung ändert sich jedoch im Laufe der Zeit. Wir wachsen zusammen, lernen voneinander. Irgendwann ist Björn mein bester Freund.

Goldlöckchen: Mit dem etwas älteren Goldlöckchen habe ich nicht viel zu tun. Wir nennen ihn wegen seiner hellblonden Locken so. Er bekommt Substitutionsmedikamente, daher hat er einen anderen Tagesablauf: Goldlöckchen kriegt seinen Stoff zugeteilt und verdient sich etwas hinzu. Ich hingegen muss etwas verdienen und kann mir dann den Stoff kaufen.

Damals sind wir 9 von etwa 22.000 Obdachlosen bundesweit. Seitdem hat sich die Situation noch mal deutlich verschärft. Viele osteuropäische Obdachlose kamen nach Deutschland. Inzwischen trifft man vermehrt auch Frauen. 37.400 Menschen leben heute bundesweit auf der Straße. So steht es zumindest im Wohnungslosenbericht der Bundesregierung, der 2022 erstmals veröffentlicht wurde. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen. Im Bericht heißt es, dass „insgesamt relativ lange Phasen der Wohnungslosigkeit von über einem Jahr dominieren“. Anders gesagt: Wenn jemand ganz unten ist, kommt er oder sie schwer (wieder) hoch.

Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden. Ein großes Ziel, das Teil einer europäischen Strategie ist. Geht es nach dem EU-Parlament, sollen die Mitgliedsstaaten zu Wohnungslosigkeit forschen, sie sollen Obdachlosigkeit entkriminalisieren, für Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Wohnraum sorgen und genügend Gelder für Hilfen zur Verfügung stellen. Bei der Forschung mag Deutschland inzwischen ganz gut dastehen. Was die anderen Forderungen angeht – Entkriminalisierung, Gleichberechtigung und Geld –, ist noch viel zu tun.

Meine Biografie ist vom jeweiligen Gegenteil dieser Worte durchsetzt: Verurteilung, Ungleichheit und Armut.

Der Vorraum der Sparkasse ist um das Jahr 2010 herum unser Dreh- und Angelpunkt. Wenn jemand jemanden sucht, kommt er oder sie bei uns in der Sparkasse vorbei. Handys, um sich abzusprechen, haben wir keine – oder nur kurz, bis wir sie zu Geld machen. „Unsere“ Bank halten wir sauber. Die offiziellen Mitarbeitenden akzeptieren uns.

Wenn der Geldtransporter kommt, dürfen wir als Einzige in der Sparkasse bleiben. Der Kastenwagen stellt sich komplett auf den Gehweg mit der Seitentür zum Eingang der Bank. So kommt keiner mehr hindurch, während die bewaffneten Angestellten die Geldkassetten auswechseln.

Ich könnte manchmal auch eine Waffe gebrauchen. Es muss im Herbst 2011 gewesen sein, als ein Typ mit Skimaske über dem Kopf in den Vorraum kommt. Er hebt, mit dem Blick zu mir, den Zeigefinger an die Stelle, wo ich den Mund vermute. Ich soll still sein. Ich bleibe sitzen und umklammere meinen Hund. Ganz fest. Nein, eigentlich will ich keine Waffe. Ich möchte viel lieber im Boden verschwinden. Die Skimaske bedroht den einzigen Kunden am Automaten. Der junge Mann scheint pleite zu sein, er kann nichts geben, er schluchzt und bebt. Und ich sitze einfach da und schaue zu. Da holt die Skimaske plötzlich ein Messer raus, die Klinge so lang wie mein Unterarm. Er setzt es nicht ein, sondern schlägt dem Geldlosen mitten ins Gesicht. Der rennt, stolpert um sein Leben, raus aus der Bank. Blut fließt, wahrscheinlich aus der Nase. Der Maskierte geht langsam hinterher und verschwindet in eine andere Richtung.

Ich drehe mir erst mal eine Zigarette und atme. Danke, Heroin, dass du mich vor einem Nervenzusammenbruch bewahrst. Diese Droge wirkt nach Gewöhnung nur kurz berauschend, aber durchgängig gefühls- und schmerz­tötend.

Gewalt und Straße gehören zusammen wie Nudeln und Tomatensoße. Der Vergleich klingt harmlos, banal, normal. Aber genau das ist der Punkt: Für mich ist das normal. In der Studie zur Wohnungslosigkeit der Bundesregierung heißt es, dass „unter den wohnungslosen Suchtkranken ohne Unterkunft 84 Prozent Gewalterfahrungen“ machen. In unserer Straßenfamilie sind es 100 Prozent.

Jahre später finde ich unser damaliges Leben in dem Song „Löwenzahn“ von Sido wieder, er geht mir ständig durch den Kopf:

„Wenn du Scheiße laberst, trifft dichne Gerade / Auf jedes krumme Ding folgt gewiss eine Strafe / Doch dieser Mann hat keine Zeit für eure Faxen / An der Scheiße kann man eingehen oder wachsen.“

Dann der Refrain: „Zwischen Demut und Größenwahn / All die Probleme, die zu lösen waren / Gott, vergib uns, weil wir böse waren / Auf der Straße aufgewachsen wie Löwenzahn.“

Am Schlimmsten finde ich die Gewalt von Außenstehenden, die gegen uns gerichtet ist: Menschen spucken uns an, beleidigen uns, treten, beklauen und belästigen uns. Meistens grundlos. Manchmal bewerfen mich Menschen mit Centstücken: „Hier, du kleiner Drecksjunkie, kauf dir was Schönes“, so etwas sagen sie.

Aber auch untereinander werden wir handgreiflich. Viele soziale Normen kennen wir gar nicht. Außer Björn vielleicht. Wir verteidigen unsere Schnorrplätze, um unsere Einkommensquellen zu schützen. Nach einer Schlägerei ist die Sache geregelt, keiner ruft die Polizei. Mit denen zusammenzuarbeiten gilt als Verrat, meistens haben wir alle „etwas offen“ – das wäre ein Eigentor. Außerdem wird wohl kaum eine Streife geschickt, wenn jemand die 110 wählt und sagt: „An meinem Stammplatz sitzt ein Fremder, und wenn er nicht geht, werde ich heute hungern und entzügig. Er ist aggressiv, und ich bräuchte daher dringend Hilfe. Wann sind Sie hier?“

Die Po­li­zis­t:in­nen wirken genauso überfordert mit uns wie alle anderen auch

Die Polizist:innen, mit denen wir zu tun haben, sind selten böse, manchmal geben sie uns sogar Geld. Sie wirken genauso überfordert mit uns wie alle anderen auch.

In den Jahren am Hermannplatz kommen kaum Sozialarbeitende vorbei. Nur im Winter gibt es Krümmeltee. Das ist ein Klassiker unter den Überlebenshilfen. Im Sommer kalt serviert und im Winter aus der Thermoskanne. Ansonsten haben sie in der kalten Jahreszeit manchmal einen Schlafsack dabei, oft sind die aber schon weg.

Zum Glück ist der Vorraum der Sparkasse relativ warm. Dort kann ich mich im Winter ab und zu aufwärmen. Nachts kommt aber die Sicherheit vorbei, dann finde ich Unterschlupf auf Dachböden oder penne auf den obersten Etagen in Hausfluren. Aus den Mülltonnen hole ich Material und baue ein Bett aus Styropor und Pappe. Die BVG öffnet im Winter manche U-Bahnhöfe über Nacht für Obdachlose. Manchmal suche ich dort Zuflucht.

Besonders schlimm ist der Winter 2010/11. Viele von uns haben Erfrierungen an den Füßen oder Händen. Kälte zermürbt. Ich bin im Januar und Februar so erschöpft, dass ich aufgeben will. Aber das geht ja nicht, schon wegen Flöckchen. Im Zweifel ziehe ich ihr mein buchstäblich letztes Hemd über. Hund mit Hoodie. Ich halte es nicht aus, wenn sie zittert. Das ist schlimmer als selber frieren.

Im Winter bietet die Stadt Notschlafplätze an. In diese Kältehilfe geht keiner von uns. Die Regeln sind zu streng: Es gibt Taschenkontrollen. Oft sind keine Hunde erlaubt. Die Gäste müssen in einem bestimmten Zeitfenster dort sein und morgens um 7 Uhr wieder gehen. Das schaffen wir nicht.

Wir sind füreinander da. Vereint als Team an den guten und notgedrungen an allen anderen Tagen. Wir besuchen uns im Knast, im Krankenhaus, leihen uns Geld und passen auf unsere Hunde auf. Diese Menschlichkeit wirkt intensiver auf der Straße als im normalen Leben. Obdachlose sind authentisch. Sie sagen und zeigen, was ist. Ungeschminkt, könnte man sagen.

Wir brauchen ein Krankenhaus für Obdachlose. Es kann nicht sein, dass Menschen am lebendigen Leibe verwesen

Es gibt keinen Platz für uns, außer in der Klapse und anderen Stationen im Krankenhaus. Doch dort fühlen wir uns minderwertig, bekommen zu wenig Substitutionsmedikamente. Das Personal steckt uns in die „Junkie-Schublade“. Aus Krankenhäusern werden wir in die Obdachlosigkeit entlassen. Wir brauchen ein Krankenhaus für Obdachlose. Es kann nicht sein, dass Menschen am lebendigen Leibe verwesen oder wie Geister durch die Städte wandeln: Alle wissen, dass sie da sind, und keiner sieht sie.

Nur in der allergrößten Not suchen wir medizinische und psychologische Hilfe. Es ist entwürdigend. In vielen Köpfen ist wie eingespeichert, dass wir schwach oder faul wären.

Da gab es dieses Erlebnis in der Notaufnahme: Ich habe mir meinen großen Zeh fünffach gebrochen. Der Knochen ist verrutscht, „disloziert“ nennt sich das. Nach dem Röntgen schaut sich ein Arzt meinen Fuß an. Er greift ohne Vorwarnung, ohne mir Schmerzmittel zu geben, an meinen Zeh und richtet ihn. Das bedeutet: ruckartig ziehen und drehen, bis die Knochen wieder in Position sind. Nachdem ich aufgehört habe zu schreien, frage ich ihn unter Tränen, was das sollte. Seine Antwort: „Na, in Ihrer Akte steht: Heroinabusus. Sie kriegen von mir keine Schmerzmittel.“

Wir sind Menschen. Und wir wollen auch so behandelt werden.

Beziehungen können helfen. In der Sparkasse lerne ich einige Menschen über die Jahre besser kennen. Eine junge Frau bringt mir zum Beispiel jeden Mittwoch etwas Warmes zu Essen in die Sparkasse. Dank ihr entdecke ich die Vorfreude wieder. Sonst kenne ich nur die existenziellen Fragen für die kommenden Stunden: Hundeversorgung, Geld, Drogen, Schlafplatz, Trinken, Essen. In dieser Reihenfolge gestaltet sich mein Dasein.

Nun plötzlich Vorfreude. Wegen dieser Frau denke ich manchmal schon Montag an Mittwoch. Das ist anders und schön. Es geht nicht um die Frau persönlich, sondern um die Zuwendung. Das Essen durchbricht meine Einsamkeit. Da denkt jemand an mich.

Auch ein Sporttrainer spricht mich immer mal wieder an. Er stellt mir in Aussicht, Boxen zu lernen, wenn ich clean bin. „Du kannst gern mal vorbeikommen. Wir kriegen das auch hin mit den Mitgliedsbeiträgen. Also wenn du dich entscheidest, ich würde mich freuen“, sagt er.

Auch wegen solcher Erfahrungen entscheide ich irgendwann, etwas zu ändern. Ich will aus der Sparkasse in die Klapse, zur Entgiftung von Heroin.

Der Schritt dahin ist nicht leicht: Die meisten Obdachlosen werden eher früher als später beklaut. Dann sind der Ausweis und die Krankenkassenkarte weg. Um einen Platz im Krankenhaus zu bekommen, muss aber eine Krankenversicherung bescheinigt werden. Dafür braucht es einen Personalausweis.

Nach Monaten habe ich beides, ich melde mich zur Entgiftung an. Flöckchen gebe ich am Hermannplatz bei Jürgen in Obhut. Am Bahnhof verabschieden wir uns. Ich drücke meine Hand von innen an die Scheibe der U7. Vier Jahre waren wir nie länger als ein oder zwei Stunden voneinander getrennt. Ohne sie wegzufahren, fühlt sich an, als würde ich einen Teil meines Körpers dalassen.

Station 85 im Neuköllner Krankenhaus. Ich werde mit Methadon entwöhnt. Nach zwölf Tagen Hölle bin ich clean, mit 22 Jahren. Ich stehe plötzlich nüchtern vor den Trümmern meiner Existenz.

Ein Mann mit Kapuze hockt auf dem Boden

Das Problem liegt im System Foto: Doro Zinn

Vielleicht hätte mir damals eine eigene Wohnung geholfen. Der übliche Weg, um aus der Obdachlosigkeit herauszukommen, ist: erst Psychia­trie, dann betreutes Wohnen, Therapie und schließlich die eigene Wohnung. Inzwischen gibt es ein Modell, das die Obdachlosigkeit direkt beenden will: Housing First. Dabei bekommen Obdachlose eine eigene Wohnung, ohne dass vorher geprüft wird, ob der Mensch wohnfähig ist.

Die Wohnung ist die Basis für alles. Als ich kürzlich von dem Projekt hörte, war ich begeistert. Das könnte für viele Obdachlose tatsächlich eine Lösung sein.

Ich rufe Sebastian Böwe an, Wohnraumkoordinator bei Housing First Berlin. Er sagt: „Unsere Sozialpädagogen helfen, einen Ausweis zu beantragen, und unterstützen bis zum Einzug.“ Von dort kläre sich alles Weitere wie Beschäftigung, Entzug oder Therapie. Zurzeit würden sie fieberhaft daran arbeiten, die Bewerberliste abzuarbeiten, sagt Böwe. Das Berliner Projekt nimmt seit Januar 2023 niemanden mehr auf, weil die Nachfrage so hoch ist. Über 600 Menschen hätten sich schon beworben. Allerdings würden davon „eine ganze Menge“ nicht ins Profil passen. Seit 2018 seien 58 Mietverträge unterschrieben worden.

Ganz bedingungslos arbeitet auch dieses Modell nicht. Läuft jemand mit Decke umwickelt durch die Straße und redet wirr, dann ist er oder sie zu krank für Housing First.

Für einige wenige baut sich also allmählich eine Alternative zum bestehenden System auf. Für die meisten gibt es weiterhin keine Anlaufstellen, außer der Klapse.

Ich hätte eine Wohnung nach meinem Entzug dringend gebraucht, aber Housing First gibt es damals noch nicht. Ich besorge mir einen Platz in einem Wohnheim. Flöckchen ist endlich wieder bei mir. Ich muss übermenschlich viel Kraft aufbringen, um clean zu bleiben. Die Mitbewohner konsumieren, die Wände engen mich ein, und das Bett überfordert mich: Es knarrt, die Matratze ist weich unter mir. Ich schlafe die ersten Wochen lieber neben dem Bett.

Seit vier Jahren bin ich zum ersten Mal mehrere Tage nüchtern. Die Welt ist bunt, sie riecht so intensiv. Ich starre Bäume an, als wären sie das Krasseste der Welt: die Farben, die kleinen Ästchen, der Himmel darüber. Mein Körper ist schwach. Ich kann kaum drei Stockwerke laufen, ohne zu verschnaufen. Jahrelang hat mich das Heroin betäubt. Jetzt sind die Gefühle wieder da. Ich fange unvermittelt an zu weinen, fühle mich wie ein Spielball in meinem entgleisten System.

Ich bin weder stabil genug, um zu arbeiten, noch bereit, nur noch in betreuten Einrichtungen zu leben. Nach zwei Jahren kümmert sich ein Sozialarbeiter ehrenamtlich um mich. Er hilft mir dabei, eine eigene Wohnung zu suchen. Drei Monate später finde ich eine Bleibe. Als ich den Mietvertrag unterschreiben kann, beichte ich, dass ich einen Hund habe. Das hatte ich verschwiegen, weil meine Chancen dadurch noch geringer sind. Der Hausverwalter sagt: „Ich hätte die Möglichkeit, den Vertrag zurückzuziehen. Aber ich gebe Ihnen eine Chance: Wo kein Kläger, da kein Richter.“

Ich bin Mitte 20 und habe es geschafft. Meine Wohnung. Ich werde diesen Tag, den 4. März 2014, nie vergessen: Flöckchen, der Schlüssel und zwei große blaue Müllsäcke mit unseren Sachen. 40 Quadratmeter, keine Einrichtung. Ich setze mich auf die Dielen, stehe wie im Wahn auf, ziehe den Schlüssel aus der Tasche, schließe auf, schließe ab und setze mich wieder hin. Immer und immer wieder. Dann heule ich.

Ich brauche noch weitere zwei Jahre, bis ich aufhöre zu schnorren und mich an einen anderen Alltag gewöhne. Auf der Straße gab es immer etwas zu tun. Irgendein Grundbedürfnis war immer unbefriedigt. Eine Krise jagte die nächste. Nun habe ich ein Dach über dem Kopf und Geld vom Staat. Mir geht es nicht gut, aber die Not ist nicht existenziell.

Der Boxtrainer aus der Sparkasse nimmt mich tatsächlich im Verein auf, ich trainiere dort mehrere Jahre. Das Boxen ist ein Anker für mich; ich lerne dort meine neue beste Freun­d:in kennen.

Ansonsten schleppe ich mich von Tag zu Tag und bin froh, wenn es Abend wird. Dann kann ich schlafen. Ich komme über die Runden. Aber in dieser neuen Welt fühle ich mich unwillkommen, ungeeignet. Ich sehne mich häufig nach einem Leben im Rausch und zu meiner Straßenfamilie zurück.

Sidos Song geht mir wieder durch den Kopf:

„Zwischen Kreuzberg und Lichtenberg / Wo man all diese Geschichten hört / Da wächstne gelbe Blume ausm Dreck / An einem Fleck, an dem sonst keine Blume wächst / Keiner beachtet sie, alle trampeln drauf / Doch sie gibt nicht auf, was die Rose kann, das kann sie auch / Wir kämpfen, bis wir irgendwann mal Pusteblumen sind / Und wir warten auf den Wind.“

Manchmal frage ich mich sogar, ob ich überhaupt leben darf. Nicht weil ich besonders selbstlos bin oder gar lebensmüde, sondern weil es so zufällig wirkt, wer überlebt und wer nicht. Das macht mich fix und fertig.

Björn: Björn, der immer so wortgewandt war, entscheidet sich, clean zu werden. Er hört 2015 von einem zum anderen Tag auf zu trinken. Eine Woche später stirbt er im Urban-Krankenhaus an multiplem Organversagen und Delirium tremens. Sein Körper verkraftet den Entzug nicht.

Jürgen: Ein gutes Jahr später sitzt Jürgen, der früher vor Karstadt stolz seine Visitenkarten verteilt hat, im Reuterpark in Neukölln und kann nicht mehr aufstehen. Sein Bein ist offen, infiziert. Eine typische Junkie-Krankheit. Ein Fremder ruft den Krankenwagen, Jürgen kommt ins Urban-Krankenhaus. In seinem Bett erleidet er einen Herzstillstand. Keiner weiß, wie lange sein Gehirn nicht mit Blut versorgt war, weil er nicht sofort gefunden wird. Er kommt auf die Intensivstation und liegt im Koma. In einem Eilverfahren werde ich sein gerichtlicher Betreuer. Zusammen mit Christiane entscheide ich nach ein paar Tagen, dass die Maschinen ausgestellt werden können. Jürgen ist hirntot. Ich bin bei ihm, als er seinen letzten Atemzug tut. Auf der gleichen Intensivstation wie Björn. Ein Zimmer weiter, ein Jahr später. Jürgen wurde 62 Jahre alt.

Christiane kann seinen Tod nicht verarbeiten und zieht sich zurück. Ich sehe sie jahrelang nicht mehr.

Renate: Renate erkrankt 2017 an Lungenkrebs. Sie kümmert sich nicht darum, sie wird irgendwann gelb. Ihre Leber versagt. Eines Tages sitzt keiner mehr am Übergang zwischen U7 und Karstadt.

Sabine: Ich glaube, Renates Tod ist zu viel für sie. Sabine verwahrlost, ist auf einem Auge blind und redet wirres Zeug. Ihr Gehirn ist irgendwie kaputt. Sie muss um die 40 sein, als sie in einem Streit am Hermannplatz 2018 vor die U-Bahn fällt. Sie stirbt im Krankenhaus.

Dude: Dude, der immer dachte, er sei etwas Besseres, ist in den vergangenen Jahren kleiner geworden. Er besteht nur noch aus Haut und Knochen. Er fährt mit Rollstuhl durch die Stadt, weil seine Beine offen und faulig sind. Genau wie bei Jürgen. Eine Wohnung hat er schon lange nicht mehr. Als Pascal mich an meiner Haustür besucht, sagt er: „Ich kann es kaum ertragen, Dude so zu sehen. Er macht nicht mehr lange.“

Pascal: Es ist fast Mai. Ich erreiche Pascal nicht. Ich mache mir Sorgen, dass auch er wieder an der Nadel hängt. Dann endlich eine SMS. Er schreibt: „Hi, Sorry das ich mich nicht gemeldet habe. Dein Gedanke war richtig ich hab konsumiert und gehe morgen zum Arzt“.

Christiane: Nach Jürgens Tod hatten wir keinen Kontakt, jetzt reden wir wieder miteinander. Im Mai 2023 kann sie endlich die Unterkunft für Obdachlose verlassen, nach sieben Jahren. „Ich ziehe aufs Land, wo ich schon immer hinwollte. Mit Kühen und Schweinen kann ich in einem kleinen Bauernstübchen alt werden“, erzählt sie. Sie will dort nüchtern bleiben.

Ein Mann von hinten blickt aus einem Parkhaus ins Grün

Am Hermannplatz mit Blick auf die „Neue Welt“ Foto: Doro Zinn

Und ich? Ich habe Björn, Jürgen und Sabine versprochen, für sie weiterzuleben, für sie stark zu sein. Jede Niederlage zwingt mich, dieses Versprechen neu einzulösen. Manchmal stelle ich mich einfach auf die Straße, schaue in den Himmel und schreie.

Und dann mache ich weiter.

Anm: an einer Stelle wurden in der ursprünglichen Fassung des Textes Fans von Dynamo Dresden erwähnt. Tatsächlich waren es Fans des BFC Dynamo Berlin.

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