Brief an die Gesellschaft: Das ist nicht fair, Deutschland!
Unser Autor ist psychisch krank und war obdachlos. Wer einmal aus dem System fällt, musste er erfahren, dem wird es schwergemacht, wieder reinzufinden.
Liebes Deutschland, ich bin scheiße sauer auf Dich. Ich darf an Deiner Titte hängen, abhängig von Deiner Großzügigkeit, mich nicht verhungern und verwahrlosen zu lassen. Das hat mir mal geholfen. Doch was passiert, wenn jemand ganz unkonventionell nach der Zukunft greift? Wie viel traut Deine Elite mir zu und wie muss ich sein? Wer muss ich vielleicht sogar werden … bevor …?
Ich habe viel versucht, manches erreicht und ich kämpfte dabei oft gegen Windmühlen. Zehn Jahre ist es her, dass ich mich am eigenen Schopf aus der Gosse gezogen habe. Ich bin psychisch krank und lebte lange auf der Straße. Ich hatte selten den Eindruck, dass Du wirklich da bist und mich haben willst. Einmal unten angekommen, scheint es nicht vorgesehen zu sein, hinaufzuklettern. Das ist auch der Grund, weshalb ich diesen Brief unter einem anderen Namen schreibe: Viele würden mich wohl für meine Geschichte verurteilen, anstatt sie als Erfolg zu sehen. Ich bin ein Mensch, so wie alle anderen Menschen. Vielleicht könnte ich Arzt werden oder Feuerwehrmann! Oder ich schreibe ein Buch und werde berühmt!
Ich habe mich tatsächlich letztes Jahr bei der Berliner Feuerwehr beworben. Ich bestand sämtliche Prüfungen, doch dann machte der polizeiärztliche Dienst alle Bemühungen zunichte mit dem Befund, dass meine psychischen Diagnosen mit der Feuerwehrdiensttauglichkeit unvereinbar seien. Einfach so, in einem Dreizeiler per Mail, bekam ich die Absage. Im öffentlichen Dienst müssen Schwerbehinderte bei gleicher Eignung bevorzugt werden. Ich legte meinen Schwerbehindertenausweis vor und wurde nicht eingestellt, weil die Diagnosen, die den Schwerbehindertenausweis begründen, mich untauglich machen.
Ich wollte mit Dir Frieden schließen und mich in Deinen Dienst stellen. Doch mein Berufswunsch ist an genau dem Punkt gescheitert, den ich seit mittlerweile zehn Jahren mit Ausdauer und mit vorzeigbarem Erfolg zu meiner wichtigsten Baustelle erklärt habe: meiner psychischen Gesundheit. Ich habe dafür gesorgt, dass ich stabil werde, dass ich clean bleibe, dass ich eine Wohnung beziehen kann, dass ich meine Vergangenheit trotz all des damit verbundenen Schmerzes aufarbeite, dass ich mich bilde, dass ich mich integriere und anpasse, und ich habe Verantwortung für etwas übernommen, das ich in seinem Ursprung gar nicht zu verantworten hatte. Das ist nicht fair, Deutschland.
Kindheit und Jugend voller Gewalt
Ich gewähre Dir einen Einblick in meine Vergangenheit. 2012 stand ich nach Jahren der Obdachlosigkeit mit Hund und ansonsten mit nichts da. Ich war verschuldet und hatte gerade einen Drogenentzug im Krankenhaus hinter mir. Kaum jemand glaubte daran, dass ich nicht bald rückfällig werde. Die einzigen nüchternen Menschen, die ich kannte, waren Kund*innen der Sparkasse. Denen versuchte ich die Straßenzeitung Motz zu verkaufen. Ich wusste mit 22 Jahren nicht, wie man Reis kocht, und meine Pizza buk ich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit in der Bratpfanne.
Aus meiner heutigen Sicht bin ich stolz auf mich. Ich habe eine Kindheit und Jugend voller Gewalt und Demütigung überlebt und dann aus freien Stücken beschlossen, dass ich es doch noch einmal mit Dir und auch „in Dir“ versuchen will. Ich hätte Schutz und Halt gebraucht. Ich hätte mir echte Chancen außerhalb von Armut und Beschäftigung gewünscht. Ich steckte voller Energie und Tatendrang. Idealerweise hätte man mir Therapie angeboten. Diese Therapie hätte unbedingt unbefristet genehmigt werden müssen, weil ich sie nun mal brauchte. Da das nicht denkbar war, bin ich lange auf dem gleichen Fleck herumgetrampelt.
Neulich war Gesundheitsminister Karl Lauterbach in der taz zu Gast, um sein neues Buch vorzustellen. Ich habe ihn bei dieser Gelegenheit gefragt, wann die im Koalitionsvertrag angekündigten Reformen zur Versorgung psychisch Kranker angegangen werden. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir verbessern die ambulante psychotherapeutische Versorgung insbesondere für Patienten mit schweren und komplexen Erkrankungen und stellen den Zugang zu ambulanten Komplexleistungen sicher. Die Kapazitäten bauen wir bedarfsgerecht, passgenau und stärker koordiniert aus.“ Gesundheitsminister Lauterbach meinte, dass diese Passage im Jahr 2023 Beachtung finden werde.
Übergang in die „normale Welt“ nicht vorgesehen
Für mich kommt das mindestens elf Jahre zu spät. Die Stundenkontingente für die Psychotherapie meines komplexen Störungsbildes reichten gerade einmal aus, um Vertrauen aufzubauen. Danach gab es eine zweijährige Zwangspause, die ich mit Psychiatriehopping füllte. 6 Jahre habe ich das so veranstaltet. Durch den Status quo war ich außen vor. Meine Heimat war eine Art Parallelwelt. So hangelte ich mich durch die Sozialgesetzbücher und landete schließlich in der Grundsicherung. Der Aufstieg aus Sozialamt, Beschäftigung und Therapie und der Übergang in die „normale Welt“ ist fast nicht schaffbar.
Ich glaube, dass dieser Übergang auch nicht vorgesehen ist. Auch Werkstätten für Behinderte sollen in den Arbeitsmarkt vermitteln und Teilhabe ermöglichen. Es gibt eine Quote, die Unternehmen verpflichtet 5 Prozent Behinderte einzustellen, wenn sie insgesamt mehr als 20 Menschen beschäftigen. Laut dem Jahresbericht des Landesamtes für Gesundheit und Soziales in Berlin erreichen zwei Drittel der Unternehmen diese Quote nicht.
Kurz nachdem ich einen Platz im Wohnheim bekam und entgiftet hatte, suchte ich Hilfe. Ich kontaktierte viele Träger Berlins für einen Platz im betreuten Wohnen oder zur ambulanten Suchttherapie. Alle lehnten mich ab oder rieten mir ab, weil mein Erfolgschancen zu gering seien. Mir wurde vom sozialpsychiatrischen Dienst alternativlos und im Hinblick auf meine sehr ausgeprägt-desolate Gesamtsituation nahegelegt, eine stationäre Langzeittherapie zu machen und dort meine Wiedereingliederung zu proben.
Ich wollte das alles nicht. Ich wollte meinen eigenen Weg gehen und selbstbestimmt meine Zukunft gestalten. Ich wollte keinesfalls in einen Mikrokosmos gesperrt werden. Deswegen weigerte ich mich, und da mich die „Leistungswelt“ auch nicht wollte, kämpfte ich mich alleine durch und war dabei einsam. Wo warst Du? Haben Menschen mit psychischen Erkrankungen, Obdachlose und Junkies ihre Chance auf ein freies chancengleiches Leben verwirkt?
Ich wurde mit 25 Jahren für arbeitsunfähig erklärt und berentet. Damit hatte ich die unterste Stufe der sozialen Sicherung erreicht. Als Beschäftigung konnte ich in einer inklusiven Wäscherei als psychisch Kranker im Zuverdienst arbeiten. Dort bekam ich 1,50 Euro die Stunde als sogenannte Motivationszuwendung. Die Sozialarbeiterinnen waren engagiert und halfen mir sehr. Für mich bedeutete es trotzdem Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, nicht dabei sein zu können. Bei allem eigentlich. Doch ich ließ nicht los. Die Kraftanstrengung, mich aus dem Morast von Drogen und Szene und Obdachlosigkeit zu arbeiten, schaffe ich kein zweites Mal.
Von der Bevölkerung gemieden
Mir blieb einzig die Flucht nach vorne. So beschloss ich, mein Abitur nachzuholen. Da ich keine Ausbildung und keine Berufstätigkeit vorweisen konnte, sagte man mir, dass ich nicht zu dem Personenkreis gehöre, für den dieses Angebot gedacht sei. Es ist unsagbar schwer, dabei zu sein, wenn man immer schon dabei gewesen sein muss, um dabei zu sein. Verstehst Du das? Ein Jahr später wandte ich mich an eine links-alternative Schule in Kreuzberg. Dort konnte ich erfolgreich einen Härtefallantrag stellen und daraufhin zur Schule gehen. 2020 habe ich nach dreijähriger Vorbereitung meine allgemeine Hochschulreife erworben und war stolz wie Bolle.
Ich habe folgende Hypothese: Die Art und Weise, wie auf institutioneller Ebene mit mir umgegangen wird, fördert die Haltung der Restgesellschaft, dass ich „einfach nicht will“. Diese Aussage bekam ich häufiger zu hören. Durch die exklusiven Angebote entstehen nämlich kaum Berührungspunkte. Arme Menschen ohne Back-ups leben in völlig anderen Bubbles; genau so Behinderte wie ich, oder sonst wie marginalisierte Gruppen.
Für Betroffene ist es doppelt fatal, denn sie werden vom System separiert und von der Bevölkerung gemieden. Das deutsche System forciert, dass wir Unbekannte sind, und Unbekanntes macht bekanntlich Angst und Vorbehalte. Ich möchte darauf hinweisen, dass Du, Deutschland, etwas verpasst. Wir könnten eine Bereicherung sein, wir bringen Perspektiven ins Land und wir könnten sicher auch wirtschaftlich von Nutzen sein.
So ist meine Geschichte und ich bin nun offiziell Pionier. Meine Mission ist die Inklusion der Andersartigen. Aber heute feier ich erst einmal meinen zehnten Clean-Geburtstag. Ich bin jetzt Stipendiat und langsam traue ich mich Zukunftsvisionen zu entwickeln.
Leser*innenkommentare
adagiobarber
ist dem gastautor nicht aufgefallen ...
daß in den amtsstuben menschen arbeiten, denen die tägliche erfahrung der bedürftigkeit anderer, derart zur eigenen belastung geworden ist, da sie sich davor verschließen und ausschließlich formal öffnen.
Nachtsonne
Schön, dass Sie es in die Normalität geschafft haben. Eine Normalität mit Randbedingungen, die für alle gelten. "Ich wollte mit Dir (Deutschland) Frieden schließen und mich in Deinen Dienst stellen." Sie sollten vielleicht erwähnen, dass Sie Beamter werden wollten. Eine amtsärztliche Untersuchung/Bewertung ist hier obligatorisch. Beamter aus Lebenszeit wird man nur, wenn nichts gegen ein zuverlässiges Arbeitsleben bis zur Pensionierung spricht (Fausregel)
. Diese Untersuchung haben Sie leider nicht bestanden. Ihre Entäuschung darüber ist sehr verständlich. Falls Sie mit dem Ergebnis nicht einverstanden sind, können Sie Widerspruch einlegen. Der Rechtsweg steht Ihnen anschließend offen. Da Sie jetzt in der Normalität angekommen sind, könnte es Sinn machen, sich mit der Realität anzufreunden, wie sie sich für Normalos darstellt - man bekommt nicht immer was man will. Oder wollten Sie priviligiert behandelt werden beim Auswahlverfahren für Beamte? Falls ja, würde ich gerne verstehen, mit welcher Berechtigung Sie das in Anspruch nehmen wollen oder wollten.
Anonyma
Danke, danke, danke, danke!!! Vielen Dank für deinen Mut, deine Geschichte zu erzählen. Das gibt mir gerade Mut und Kraft, nicht aufzugeben. Ich kämpfe noch gegen das System. Aus "guter" Familie, wegen psychischer Erkrankung das Studium nicht gepackt. Freunde, die mich verarscht haben und häusliche Gewalt und Isolation u.a. in meiner Beziehung, die mich am Ende auf die Straße gebracht haben. Ohne meinen Sport wäre ich auch ganz raus aus der Gesellschaft und ich merke immer wieder, dass mein Leben ganz anders ist als das der anderen (obwohl ich nie Drogen/Alk angefasst habe). Nach 3Jahren Obdachlosigkeit und 1,5Jahren Notwohnung (WG) mit nur 200€ für alle Belange inkl. Wohnungsnutzungsgebühren bin ich seit 9 Monaten in einer Wohnung, habe Hartz IV. Ich habe weiterstudiert, während all der Zeit, ein Abschluss durch die Umstände nicht in Sicht. Jetzt bin ich in einem Pilotprojekt, dass wirklich gut ist, das mir hilft, ausm Studium rauszukommen, mich neu zu orientieren. Das habe ich, Logopädie, Ergotherapie, irgendetwas in die Richtung wäre klasse. Das Amt hat schon angekündigt, dass sie das nicht unterstützen. Die Jobs, die ihnen am liebsten wären, weil ich da während der Ausbildung Geld verdiene, sind nichts für mich. Pflege, wenn man keine Körperflüssigkeiten sehen kann? Einzelhandel mit Rechenschwäche? (Nebenbei, den Aushilfsjob musste ich wegen meiner Erkrankung nach 1Woche wieder aufgeben). Handwerk mit 2linken Händen?
Auch ich bin nicht faul, sogar ehrenamtlich tätig. Nur dass ich eben nicht vollzeit-arbeitsfähig bin. Und die Ämter mir lange Unterstützung verweigert haben. Und mir auch jetzt noch Steine in den Weg legen. Aber was soll ich in einem Job, der so wenig was für mich ist, dass ich nach ein paar Monaten krankheitsbedingt wieder im H4 lande?
Danke, du machst mir Mut, weiterzukämpfen, für mein Recht auf ein Leben.
Eva_Who
Hallo Samuel Andreas, lieber Autor dieses bewegenden Essays. So schade dass du aus vermutlich berechtigter Angst vor Diskriminierung nicht mit deinem echten Namen über dein Leben zu schreiben kannst. Es macht mich sehr traurig und wütend wie das System und die Gesellschaft versagt und Menschen mit einer Geschichte wie deiner so vielen Hürden ausgesetzt sind. Da ich selbst mit Menschen arbeite, die sucht- und psychisch krank sind, weiß ich um viele Baustellen im System und finde es echt tragisch. Dein Essay bringt vieles davon gut auf den Punkt und ich werde den Artikel mit ganz vielen Menschen teilen, in der Hoffnung, dass es was ändert. Danke für diesen Bericht und den Einblick und weiter her mit der Kritik!! Das ist so gut, wenn Menschen laut werden und sich beschweren.
Moon
Das wirft mich um, ich denke, kann das wahr sein? Das ist es:
„Mir blieb einzig die Flucht nach vorne. So beschloss ich mein Abitur nachzuholen. Da ich keine Ausbildung und keine Berufstätigkeit vorweisen konnte, sagte man mir, dass ich nicht zu dem Personenkreis gehöre, für den dieses Angebot gedacht sei. (…) Ein Jahr später wandte ich mich an eine links-alternative Schule in Kreuzberg. Dort konnte ich erfolgreich einen Härtefallantrag stellen und daraufhin zur Schule gehen. 2020 habe ich nach dreijähriger Vorbereitung meine allgemeine Hochschulreife erworben und war stolz wie Bolle.“
Ich bin 1960 eingeschult worden. Die Jahrzehnte der Bildungsoffensiven waren gekommen. Man hat so viel getan, um Bildung zu ermöglichen. Arbeiterkinder sollten zum Abitur geführt werden, so sagte es der Schuldirketor.
Jetzt, nicht erst 2022, lese ich Berichte wie oben häufig. Immer wieder und immer wieder in der einen oder anderen Art. Da ist es eine Jugendberufsagentur, die einer Schülerin trotz Begabung abrät, die weiterführende Schule zu besuchen. Dort soll eine nicht aufs Gymnasium“ gehen, weil man „fürchtet“, die psychosoziale Situation der Herkunftsfamilie erlaube keine ausreichende Unterstützung beim Lernen. Und dann eben die geschilderte Situation. Also Deutschland, das hätte auch schief gehen können. Wenn der Autor nicht selbst alles versucht hätte, hättest du einen „Sozialfall“ mehr.
Was ist da los mit dir, Deutschland? Was stimmt da nicht mit dir?
Vielleicht:
"Es ist unsagbar schwer, dabei zu sein, wenn man immer schon dabei gewesen sein muss, um dabei zu sein. Verstehst Du das?"
Ausschliessi
Guter Artikel, und noch eine mutgebende Botschaft:
Eigentlich kann fast niemand vernünftig Reis kochen ; )
Grauton
Glückwunsch, daß Sie es bis hierher geschafft haben. Ich drücke die Daumen, daß es weitergeht. In der Tat braucht es mehr Inklusion und Durchlässigkeit.