Neuwahlen in Berlin: Demokratische Rutschpartie
In Berlin muss wohl die Wahl von Bundestag und Abgeordnetenhaus wiederholt werden. Das könnte massive Folgen haben.
V or wenigen Tagen liefen Tausende von Menschen in Leibchen durch Berlin – es war Marathon. Mein erster Reflex: Himmel, sie werden doch heute nicht sonst noch etwas Großes veranstalten wollen, Wahlen etwa?
Vor einem Jahr fanden am Tag des Berlin-Marathons Wahlen statt – die Bundestagswahl, die Wahl zum Abgeordnetenhaus (das hiesige Landesparlament) und zu den Bezirksparlamenten (eine Ebene drunter). Dazu gab’s noch ein Volksbegehren. Dem Marathon hat das nicht geschadet, den Wahlen schon. Deshalb müssen Letztere nun wiederholt werden. So jedenfalls hat es das Berliner Landesverfassungsgericht bei der Verhandlung diese Woche in Aussicht gestellt.
Überrascht schienen davon nicht nur die rot-grün-roten Regierungsparteien zu sein. Nun sind viele Berliner PolitikerInnen wirklich gut darin, Dinge zu ignorieren, die nicht klappen oder nicht klappen könnten. Anders lässt es sich sowieso nicht erklären, dass Wahlleitung und Innenbehörde den Herausforderungen des Wahltags, sagen wir: so gelassen entgegenblickten.
So hatte offenbar niemand gedacht, dass die WählerInnen angesichts der Vielzahl und des Ausmaßes der Wahlzettel in den Kabinen ins Grübeln geraten könnten. Das hatte unter Coronabedingungen zur Folge, dass sich vor den Wahllokalen lange Schlangen bildeten. Außerdem aber gab es zu wenige Wahlzettel – wobei besser von Wahlpapyrusrollen zu sprechen wäre. Um Nachschub zu holen, wurden Boten losgeschickt, doch ach, sie kamen nirgends durch – der Marathon! –, sie kamen zu spät, weshalb mancherorts die Kopierer angeworfen wurden (verboten) und vielerorts die 18-Uhr-Grenze gerissen wurde (auch problematisch).
Geschrumpfte Freude
Meine Freundin war Wahlhelferin und berichtete von kommunikativen Ausschreitungen im Wahllokal. Co-Helferinnen hätten zu entrinnen versucht – Kind allein daheim etc. –, doch der überforderte Wahllokalleiter habe schreiend Bußgelder angedroht. Ihre Wahlhelferinnenfreude dürfte arg geschrumpft sein.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Zu niedlich, wie nun die PolitikerInnen der rot-rot-grünen Koalition sich gegenseitig dazu aufrufen, es gebe so viel zu tun, man möge bitte nicht sofort in den Wahlkampfmodus verfallen. Die regierende Bürgermeistern Franziska Giffey von der SPD hat im Laufe des Jahres ohnehin schon Federn gelassen.
Doch auch die Linkspartei kann sich ausrechnen, dass die Sache für sie nicht gut ausgeht. Zumal ja auch noch eine Wiederholung der Bundestagswahl in Berlin droht, worüber freilich die Ampelkoalition entscheidet. Zur Erinnerung: Die Linke sitzt überhaupt nur wegen der Berliner Direktmandate im Bundestag. Werden Berliner Mandate neu vergeben, könnten noch ganz andere Dinge ins Rutschen geraten.
Man möge aus Rücksicht auf die demokratische Gesamtlage nicht zu harsch mit Berliner Umständen ins Gericht gehen, kritisierten WahlanalystInnen diese Woche das Landesverfassungsgericht. Es war eine Variante des Too-big-to-fail-Arguments: Wer jetzt die Wahlen komplett wiederholen lasse, riskiere zu viel – auch, dass die Leute das Wählen nicht mehr ernst nähmen.
Mein Gegenvorschlag wäre, Wahlen so auszurichten, dass man sie auch ernst nehmen kann. Dann klappt das auch mit der Legitimität.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?