Neue Studie zur Treuhandanstalt: Traumatisierungsanstalt Treuhand
Der radikale Privatisierungskurs kurz nach der Wende hat ein Trauma im Osten hinterlassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie.
Jetzt wurde der mehr als 130 Seiten starke Abschlussbericht veröffentlicht, und er hilft dabei, die politischen Strukturen zu verstehen, die sich im Osten zusehends stabilisieren. Man muss sich das einmal vorstellen: Ausschließlich westdeutsche Industriemanager, Unternehmer und Beamte bekommen über Nacht die Verfügungsgewalt über 8.000 ostdeutsche Betriebe mit mehr als vier Millionen Beschäftigten.
Sie dürfen entscheiden, welche Firmen geschlossen oder ob Mitarbeitende zu Hunderttausenden entlassen werden. Und die BRD-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl nennt das Ganze einen „alternativlosen Einsatz“.
Dabei gab es sehr wohl Überlegungen aus dem linken politischen Lager, die Treuhand nicht als eine rein betriebswirtschaftliche Agentur, sondern vielmehr als eine sozial und volkswirtschaftlich eingebundene Institution zu installieren. Doch der marktradikale Privatisierungskurs setzte sich durch.
Eine ostdeutsche „Bad Bank“
Die Treuhand wurde in der Erinnerung so zu einer „ostdeutschen Bad Bank“, schreiben die Autoren der Studie, die Bochumer Zeithistoriker Constantin Goschler und Marcus Böick. Weitgehend unbeachtet von öffentlichen, politischen oder wissenschaftlichen Wahrnehmungen habe sich so langfristig ein „ausgesprochen negativ konnotierter Erinnerungsort in der ostdeutschen (Teil-)Gesellschaft etabliert“.
Auf diese Weise habe sich ein „negativer Gründungsmythos“ verfestigt, der in der artikulierten Wahrnehmung symbolhaft für eine „rigorose Unterwerfung der Ostdeutschen“ stehe. „Das war die Initialerfahrung von Fremdbestimmung, Kolonialisierung und Unterwerfung“, sagt Wissenschaftler Böick. „Die allerersten Erlebnisse mit der sozialen Marktwirtschaft haben Deklassierungsgefühle hervorgerufen.“
Ursprünglich sollten die beiden Historiker nur die Akteure von damals interviewen, ehemalige Treuhandmanager, Politiker, Berater, Gewerkschafter und Betriebsräte. Doch dann führten sie zusätzliche Gespräche mit mehr als 500 Personen im thüringischen Eisenach und im sächsischen Leipzig.
Bei einer Schlagworterhebung wurde die Treuhandanstalt bevorzugt mit Begriffen wie „Abwicklung“ oder „Ausverkauf“ verknüpft, insgesamt lediglich mit einer Note von 4,1 bewertet (Schulnoten von 1 bis 6). „Vor allem unter den älteren Ostdeutschen gärt etwas“, sagt Böick.
„Wir kannten Arbeitsämter nicht“
All das deckt sich mit den Erfahrungen von Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD). „Diejenigen, die bei der Wende um die 40 waren, bekommen jetzt ihre Rentenbescheide und sehen, wie wenig für sie übrig bleibt, obwohl sie sich angestrengt haben“, sagte sie der taz. Für viele von ihnen wurden Pegida und die AfD zum Sprachrohr.
Schon lange plädiert Köpping dafür, die Zeit nach der Wende politisch und wissenschaftlich zu begleiten. „Der Umbruch damals war gigantisch, alle hatten unheimlich zu kämpfen.“ Dann wechselt sie das Personalpronomen: „Wir kannten die Erfahrung nicht, als Bittsteller zum Arbeitsamt zu gehen.“ Sie zögert kurz. „Wir kannten Arbeitsämter nicht.“
Wie auch die Autoren der Studie fordert sie, ausnahmslos alle Treuhandakten zu öffnen, die derzeit noch in einem privaten Logistikdepot in Großbeeren südlich von Berlin lagern. Die meisten sollen noch bis 2020 unter Verschluss bleiben – das Bundesfinanzministerium ist an einer früheren Öffnung nicht interessiert. „Dabei brauchen wir endlich die Grundlage für eine Debatte, in der die Ostdeutschen nicht immer nur die Bösen sind“, so Historiker Böick.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften