Neue Doppelspitze der Grünen: Realos setzen sich durch
Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover wählen die Grünen Annalena Baerbock und Robert Habeck zu ihren Vorsitzenden.
Sie plädiert für eine grüne Europapolitik und für Radikalität im Klimaschutz: „Wenn die Koalitionäre von SPD und Union sich von den verbindlichen Klimazielen verabschieden, da muss ich Ihnen sagen: Die Arktis schmilzt sehr verbindlich. Die Klimakrise ist die größte Bedrohung unseres Planeten“.
Außerdem wolle sie jeden Bundestagsabgeordneten auf den Familiennachzug ansprechen: „Stellen Sie sich vor, es wäre Ihr Kind. Liebe Bundestagsabgeordnete, Ihr würdet alles tun. Also tut verdammt nochmal alles, um diese Kinder zu retten“. Baerbock vom Realoflügel sendet damit deutliche Signale an die Linksgrünen in ihrer Partei, doch sie brilliert auch rhetorisch, setzt die Pausen an den wirkungsvollsten Stellen.
Die anfangs noch etwas wackelige Stimme wird von Minute zu Minute stärker. So, wie schon zu Beginn ihrer Rede, bleibt sie auch nach dem Ende länger als nötig auf der Bühne stehen, saugt die begeisterten Blicke auf, die sie da erreichen, badet im Meer aus Jubelrufen und Applaus.
Nicht nur Habeck
Annalena Baerbock ist ein Gesicht der Erneuerung bei den Grünen, eines des Aufbruchs. „Und das ist erst der Anfang“ lautete das Motto der außerordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover, zu der rund 800 Delegierte gekommen waren. Baerbock verkörpert einen solchen Anfang. Sie hat gegenüber Robert Habeck das noch unbekanntere Gesicht, doch auch Habeck steht für den Neubeginn.
Er hatte seinen großen Auftritt bereits am Vortag, als es ihm gelang, die Satzung der Grünen so ändern zu lassen, dass er für eine achtmonatige Übergangszeit seinen Ministerposten in Schleswig-Holstein und sein neues Amt als Bundesvorsitzender behalten darf. Den gewaltigeren Applaus, die mitreißenderen Emotionen bekommt am Samstag die 37-jährige, auch, weil sie gleich zu Beginn ihrer Bewerbungsrede klarstellt: „Wir wählen heute nicht nur die Frau an Roberts Seite“.
Sie sei stolz, gemeinsam mit ihrer Konkurrentin Anja Piel um diesen Platz streiten zu dürfen. Zwei starke Frauen. Auch Piel bekommt für ihre Rede viel Applaus, doch ist er auch deutlich verhaltener, weniger enthusiastisch. Dabei ist die linksgrüne Piel diejenige, die noch abzuwenden versucht, was es bei den Grünen nie zuvor gab: eine Realo-Doppelspitze. Sie wolle, dass die Grünen, „verdammte Axt“, nicht länger als reine Ökopartei wahrgenommen würden, weil man die ökologische Frage eben nicht ohne die soziale denken dürfe. Vielmehr müssten alle Anliegen der Grünen gemeinsam gedacht werden. „Eine ungerechte Gesellschaft wird niemals eine nachhaltige Gesellschaft werden können“, ist der stärkste Satz ihrer Rede und auch der, bei dem es für einen kurzen Moment danach aussieht, als habe sie gegen Baerbock wenigstens eine kleine Chance.
Solide, aber nicht mitreißend
Doch die anschließende Abstimmung ist deutlich: Annalena Baerbock erhält 504 der abgegebenen 782 Stimmen und gewinnt die Wahl mit mehr als 64 Prozent. Gegen Robert Habeck auf dem freien Platz tritt dann niemand an – es wäre angesichts seiner Beliebtheit wohl auch verlorene Liebesmüh.
Vielleicht strengt sich der Posterboy aus dem Norden deshalb dann in seiner Rede auch nicht mehr so richtig an – oder aber er nutzt die Gelegenheit, um seinen Intellekt zu betonen: Habecks Rede ist abstrakt, bisweilen wolkig. „Wir müssen der Durchökonomisierung des Privaten Grenzen setzen“, sagt er etwa oder auch: „Der postmoderne Kapitalismus ist schon viel zu lange dabei, unsere Arbeit, Zeit, Glück, Intimität in Wert zu gießen und diesen Wert auszuquetschen und auszuwringen. Wir müssen die Ordnungsfunktionen des Staats weiterdenken“.
All das klingt gut, doch es reißt die Delegierten weniger mit als die leidenschaftliche Rede von Annalena Baerbock. Habeck positioniert sich links von seiner künftigen Amtskollegin, sagt, es sei unstrittig, dass es Umverteilung brauche und eine härtere Besteuerung von Kapital und Vermögen notwendig sei.
Kaum Missgunst
Mit 81 Prozent wird er schließlich zum Parteivorsitzenden gewählt, zum „Mann an Annalenas Seite“, wie er selbst sagt. Es scheint tatsächlich, als habe ihm die Brandenburgerin vorab ein wenig die Show gestohlen, zumindest sind der Jubel und das mediale Interesse für ihn nicht mehr ganz so groß wie am Freitag nach der erfolgreichen Satzungsänderung.
Annalena Baerbock und Robert Habeck – damit ist die erste Realo-Spitze in der Geschichte der Grünen perfekt. Missgünstige Töne darüber hört man in Hannover allerdings kaum, die Stimmung ist positiv, bisweilen ausgelassen. Auch die Linksgrünen scheinen mit dem Ergebnis einverstanden zu sein: Sven Kindler, linksgrüner Haushaltsexperte der Fraktion, sagt: „Ich glaube, wir haben zwei starke Bundesvorsitzende, mit denen wir ins Jahr starten können“. Doch es sei wichtig, dass der Bundesvorstand insgesamt alle Strömungen abdecke. Und er erwarte, dass Baerbock und Habeck dieses Versprechen einlösten.
Der ehemalige Bundesvorsitzende Reinhard Bütikofer war indes vor Begeisterung kaum zu halten, munter gestikulierte er Richtung Bühne, Richtung der Gewählten: „Mir gefällt vor allem, dass man spürt, dass der Wille zur Umgestaltung deutlich wird. Wir hatten zu lange: Dabei sein ist alles.“ Beide strahlten eine Bereitschaft zur Offenheit für neue Wählermilieus aus – diese sei aber gepaart mit klaren Prioritäten. Und der linke Oberstratege Jürgen Trittin sagte der taz, er habe zumindest in seinem Umfeld „keine Angst“ wahrgenommen, dass von nun an die realpolitischen Positionen bei den Grünen vorherrschen.
Nachdem Annalena Baerbock gewählt ist, erhält sie von ihrem Landesverband ein Stofftier – einen grünen Brandenburg-Adler, mit dem sie bei ihrer Dankesrede herumwedelt. Eine Frau aus dem niedersächsischen Landesverband murmelt ihrer Begleitung zu: „Ich würde mich mehr freuen, wenn er halb grün, halb rot wäre“. Die Begleitung nickt. Es gibt sie also doch noch, die Linksgrünen in dem großen Meer an Realo-Grünen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen