Nach der Hamburg-Wahl: Republik mit Bildstörung

Rot-Grün kann regieren, die AfD steht am Rand: In Hamburg ist die Welt noch in Ordnung. Doch die Wahl zeigt auch, wie tief das Land gespalten ist.

Kartons mit der Aufschrift: ·Grüne·, ·AfD·, CDU·, ·SPD·, ·Linke·, ·FDP·, und ·Sonstige· stehen auf einem Tisch während der Stimmzettelauszählung

Mit einem Ergebnis in den Zwanzigern könnte man den oder die nächste Kanzler*In stellen Foto: Georg Wendt/dpa

Nach Hamburg scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. Eine starke SPD wird dort mit ebenfalls starken Grünen reden, um vernünftige Politik für die Stadt zu machen. Es gibt ein stabiles, besonnen wählendes Bürgertum, staatstragende Parteien und eine an den Rand gedrückte AfD: In Hamburg funktioniert das alte, westdeutsche Modell des moderierten Interessenausgleichs noch. Aber wenn man aus Hamburg herauszoomt, von Michel, Rathaus und Hafen weg und von oben auf die Republik schaut, verändert sich das Bild. Alles flackert und wird unruhig, wie bei einer Bildstörung.

Die Wahl in Hamburg ist nämlich auch ein Beleg dafür, dass in diesem Land komplett verschiedene Lebensrealitäten nebeneinander existieren. Die reiche Hansestadt an der Elbe und Thüringen, das sind zwei Welten. Sie haben – von der Amtssprache Deutsch einmal abgesehen – nicht mehr viel miteinander zu tun, ihre BewohnerInnen blicken verständnislos aufeinander. Und bisher fehlt die zündende Idee, was sie in Zukunft verbinden könnte. Wer in Apolda, Birkenfelde oder auch in der sächsischen Provinz lebt, versteht die Hamburger Verhältnisse nicht und umgekehrt. Der größte Fehler wäre deshalb, nach Hamburg in den Normalbetrieb zu schalten und die Spaltung, oder besser: die fortschreitende Verinselung der Republik zu ignorieren.

Dass das Leben in West und Ost, in Städten und auf dem Land sehr unterschiedlich ist, dass Mi­lieus erodieren und auseinanderdriften, ist nichts Neues. Neu ist aber, wie ratlos die Politik vor dieser Entwicklung steht. Das Alte löst sich auf, aber wie das Neue aussieht, weiß keiner. Hamburg suggeriert eine Scheinstabilität, die sich auf das große Ganze nicht übertragen lässt.

Intellektuelles Vakuum

Besorgniserregend ist zum Beispiel, dass die CDU als stabilisierende Kraft Deutschlands zunehmend ausfällt. In Thüringen wehrte sich die Landes-CDU erst mit Händen und Füßen dagegen, Bodo Ramelow zu wählen, den konservativsten Linken der Welt. Dann weigerte sie sich ebenso verbissen, die Christdemokratin Christine Lieberknecht zur Ministerpräsidentin zu machen. Jetzt will sie Ramelow lieber doch ins Amt heben, trifft aber auf den erbitterten Widerstand der Bundespartei. Verantwortungslos ist eine vorsichtige Beschreibung für dieses jämmerliche Verhalten.

Die CDU hat sich immer als pragmatische, an der Realität orientierte Partei verstanden. Wenn es Europa nutzt, wirft sie die Deutsche Mark über Bord. Wenn ein GAU in Fukushima passiert, schaltet sie Atomkraftwerke ab. Wenn die Deutschen den Mindestlohn wollen, führt sie ihn eben ein. Was die CDU in Sachen Thüringen vorführt, ist fortgesetzte Realitätsleugnung. Der Unvereinbarkeitsbeschluss im Bund, der blind gegenüber regio­nalen Besonderheiten ist, macht das Land unregierbar – und andere Länder in Zukunft vielleicht auch. Doch aus Angst vor dem Tod ist die CDU nicht in der Lage, ihn zu korrigieren.

Bei der nächsten Bundestagswahl gehen alle Parteien ins Offene. Keine wird mit Amtsbonus starten

In Hessen verlor die CDU 2018 11 Prozentpunkte gegenüber der vorherigen Wahl, auch in Bran­denburg und Sachsen rutschte sie dramatisch ab. In der westdeutschen Großstadt Hamburg kratzt sie nun an der Einstelligkeit. Angela Merkels Stärke verdeckte lange, wie leer die CDU ist – und dass sie unter einem ähnlichen Zerfallsprozess leidet wie die SPD. Der naive Glaube, ein Friedrich Merz könne die AfD halbieren und die CDU zu ­alter Größe führen, ist nur ein weiterer Beleg dieses intellektuellen Vakuums. Die Zeit der Volkspartei CDU ist ebenso vorbei wie die der Volkspartei SPD.

Für die nächste Bundestagswahl führt das zu einer simplen Erkenntnis: Alle gehen ins Offene. Es wird die erste Wahl im Bund sein, bei der keine Partei mit dem Bonus des Amtsinhabers antritt. Es wird die erste sein, bei der ein Ergebnis in den Zwanzigern reichen könnte, um den oder die Kanzlerin zu stellen. Und eine, deren Ergebnis allen das Denken jenseits der gewohnten Leitplanken abverlangen wird. Nichts davon ist gelernt, es könnte die Beteiligten an ihre Grenzen führen. Das Agieren der CDU in Thüringen und die Rufe der SPD nach einem Lagerwahlkampf zeigen, wie groß die Sehnsucht nach dem überschaubaren Gestern ist.

Klimaschutz polarisiert

Die Ironie ist, dass die Grünen im Vergleich wie ein Hort der Stabilität wirken. Sie geben sich staatstragender als seinerzeit Helmut Schmidt, sind im Osten und auch anderswo bereit, alle (un)möglichen Kooperationen einzugehen, und agieren geschlossen wie nie. Nimmermüde bieten sie sich an, die Rolle der ordnungsgebenden Kraft zu übernehmen. Parteichef Robert Habeck sagt, dass die Erosion des demokratischen Zentrums, die man in Thüringen erlebt habe, nicht aus der Welt geschafft sei. Auftrag der Grünen sei es, Orientierung zu geben – für die „Breite der Gesellschaft“.

Nun kann man fast froh sein, dass überhaupt noch eine Partei ungebrochen Lust aufs Regieren verströmt. Aber was heißt das eigentlich, Orientierung geben? Habecks Satz hat auch etwas Phrasenhaftes. Er kommt daher wie eine neue Erkenntnis, beschreibt aber nur das, was seit jeher Aufgabe der Politik ist. Es bleibt zudem recht vage, wie eigentlich die grüne Orientierung aussieht. Die Partei verspricht, hohe Vermögen stärker zu besteuern, sagt aber nicht, wie. Oder sie wirbt für den Abschied von Hartz IV, spart sich aber die nicht unwichtige Info, wie hoch denn die Regelsätze sein sollen. Präzise Äußerungen gehören aber zur Orientierung dazu.

Nicht zuletzt ist die große Frage, ob das grüne Megathema Klimaschutz geeignet ist, versöhnend zu wirken. Oder ob es Gräben nicht vertieft. Bisher spricht viel dafür, dass Klimaschutz eher po­larisiert, weil CDU, FDP und AfD ihn zur Abgrenzung von den erfolgreichen Grünen nutzen. ­Habecks Partei wäre gerne der Fixpunkt, an dem sich die bürgerliche Mitte orientiert. Ob ihr das gelingt, ist unklar. Auch die Grünen gehen ins Offene.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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