Migrationsexpertin zum Belarus-Konflikt: „Wenig erfolgversprechend“
Wird Putin bei der Lösung im Konflikt mit Belarus helfen? Migrationsexpertin Petra Bendel über die Handlungsoptionen der Bundesregierung.
taz: Frau Bendel, pünktlich zu den Ampel-Koalitionsverhandlungen haben Sie Empfehlungen für eine nachhaltigere Migrationspolitik vorgelegt. Unter anderem fordern Sie von der neuen Bundesregierung, den Flüchtlingsschutz oben anzustellen und reguläre Zugangswege zu schaffen. Bezogen auf die dramatische Situation der Geflüchteten an der polnisch-belarussischen Grenze: Was könnte schnell Hilfe bringen?
Petra Bendel: Zunächst muss man feststellen, dass die EU auch deshalb in so eine Situation geraten konnte, weil Schutzsuchende keine Möglichkeit finden, auf regulärem Weg in die EU oder andere sichere Länder zu kommen. Die neue Bundesregierung ist gut beraten, wenn sie diese Wege ausbaut und beispielsweise die Kontingente für Resettlementprogramme oder die Familienzusammenführung transparenter und effizienter gestaltet.
Jenseits der humanitären Zuwanderung kann sie Migration beispielsweise auch mit einer Überarbeitung der Blue Card, des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und durch den Ausbau von Ausbildungspatenschaften weiter begünstigen. In diesen Bereichen wäre für eine Ampel-Koalition Luft nach oben. Am Drängendsten ist jetzt aber die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge an der polnischen Grenze.
Die scheidende Bundesregierung scheint sich vor allem um den Schutz der EU-Außengrenze und verschärfte Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime zu bemühen. Steht das Signal, nicht erpressbar zu sein, hier über Menschenleben?
geboren 1965, ist Professorin für Politische Wissenschaft und Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) sowie Leiterin des Forschungsbereichs Migration, Flucht und Integration (MFI) des Instituts für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Das Signal, nicht erpressbar zu sein, ist natürlich ein wichtiges. Seit Monaten erhöht Belarus' Machthaber Lukaschenko den Migrationsdruck auf EU-Mitgliedsstaaten, um Außenpolitik zu betreiben. Darauf muss die EU reagieren und dafür stehen ihr verschiedene Maßnahmen zur Verfügung, darunter Sanktionen gegen das belarussische Regime und an der Schleusung beteiligte Fluglinien sowie diplomatische Verhandlungen mit Transit- und Herkunftsstaaten.
Ende September hat die EU-Kommission eigens wegen Belarus den Aktionsplan gegen staatlich geförderte Schleusung von Migrant:innen geschaffen. Natürlich muss die EU aber auch Polen dabei unterstützen, die Grenze zu schützen und Menschen, die sich um Asyl bemühen, zu registrieren und aufzunehmen. Die Menschen haben ja ein Recht auf ein rechtsstaatliches und faires Asylverfahren.
…das Polen ihnen verweigert, genauso wie humanitäre Hilfe. Macht sich die Bundesregierung nicht mitschuldig an den Menschenrechtsverletzungen, wenn sie nicht auf ein baldiges Einlenken Warschaus drängt?
Das stimmt, Polen muss die humanitäre Versorgung und die medizinische Betreuung der Flüchtlinge gewährleisten. Verschiedene Hilfsorganisationen und auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR stehen bereit, um vor Ort zu helfen. Sie werden aber nicht durchgelassen. Und: Das EU-Recht erlaubt nicht, dass Polen rechtsstaatliche Asylverfahren für Schutzsuchende aussetzt. Das ginge nur temporär und für den Fall, dass Polen eine Gefahr für die innere Sicherheit oder einen internationalen Konflikt geltend macht. Wenn sich Warschau in diesem Punkt nicht bewegt, könnte die EU-Kommission mit einem Vertragsverletzungsverfahren drohen.
Zwei der drei Ampelparteien – SPD und Grüne – kritisieren Polen scharf für die Pushbacks an der Grenze und fordern Solidarität mit den Migrant:innen. Angenommen, die Bundesregierung wollte dem nachkommen: Was könnte sie tun?
Die Bundesregierung kann auf die EU-Mitgliedstaaten einwirken und auch gemeinsam mit anderen Mitgliedern der EU-Kommission agieren, etwa indem sie das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) oder die europäische Grenzschutzagentur Frontex einschaltet – was Polen bislang aber ablehnt. Wichtig ist, dass die anderen EU-Staaten signalisieren, dass sie sich solidarisch an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Hier kann die Bundesregierung selbst mit gutem Beispiel vorangehen und Schutzsuchende unbürokratisch aufnehmen.
Solche Signale sendet aktuell weder die Bundesregierung noch die Ampelparteien. Offenbar möchte niemand die falschen Signale – Stichwort 2015 – aussenden.
An der polnisch-belarussischen Grenze werden zurzeit Bilder evoziert, die nahe legen, dass wir es mit einem Kontrollverlust zu tun haben und weitere Pull-Faktoren generieren könnten. Das sind Ängste, die für die politische Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle spielen.
Vorgewagt hat sie die Grünen-Spitze mit dem Vorschlag, potentielle Migrant:innen in den Herkunftsländern mit einer gezielten Informationskampagne von der Flucht abzuhalten. Ist das naiv oder ein Vorgeschmack auf ein „Weiter so“ in der Migrationspolitik?
Solche Aufklärungskampagnen alleine verhindern nur begrenzt, dass Menschen in Not migrieren. Das haben wir zum Beispiel auf dem Westbalkan oder auch in afrikanischen Ländern gesehen. Aber die Kampagnen können ein kleiner Baustein sein, um Menschen vor Ort vor falschen Versprechen zu warnen. Deshalb ist es wichtig, umfassendere Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitstaaten zu schließen, um zu verhindern, dass Schleuser in diesen Ländern aktiv Werbung machen und Staaten wie Belarus Migration für ihre Zwecke instrumentalisieren können und damit Menschenleben gefährden.
Apropos naiv. Bundeskanzlerin Merkel hat den russischen Präsidenten Putin um Hilfe gebeten…
Der Versuch scheint mir wenig erfolgversprechend, denn Putin stützt ja Lukaschenko.
Hunderte Gemeinden und Städte in Deutschland und ganz Europa würden freiwillig Geflüchtete aufnehmen – in Deutschland hat das Innenminister Horst Seehofer stets blockiert. Sollte die künftige Bundesregierung den Kommunen mehr Spielraum geben?
Definitiv. Aus meiner Sicht wäre sehr wichtig, dass der Bund und auch die Bundesländer die Aufnahmebereitschaft von Kommunen als Chance begreifen. Auch integrationspolitisch ist es ja sinnvoll, die Menschen dorthin zu bringen, wo sie auf Aufnahmebereitschaft stoßen und wo entsprechende Strukturen aufgebaut wurden.
Aktuell schreibt das Aufenthaltsgesetz vor, dass die Bundesländer eigene Aufnahmeprogramme nur mit Zustimmung des Bundes auflegen dürfen, von den Kommunen ist gar nicht die Rede. Muss der entsprechende Paragraf geändert werden?
Das ist gar nicht nötig. Es reicht, wenn der künftige Bundesinnenminister oder die künftige Bundesinnenministerin sich nicht mehr gegen die Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer stellt.
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