Menschen auf der Flucht: Weder Druckmittel noch Handelsware

Die Flüchtenden an der belarussisch-polnischen Grenze werden als eine Art biopolitische Waffe benutzt. Die EU hat vergessen, dass sie es mit echten Menschen zu tun hat.

Drei Männer, davon zwei in Decken vom Roten Kreuz gehüllt, an der polnisch-belarusischen Grenze

Flüchtende an der polnisch-belarussischen Grenze und ein ehrenamtlicher Helfer Foto: Jakub Kaminski/imago

Flüchtende sind kein Druckmittel, mit dem man andere bedrohen kann. Wir sind keine Handelsware, mit dem man seine Menschlichkeit messen kann. Die Politik hat vergessen, vielleicht schon seit mehreren Jahren, dass es MENSCHEN sind, die sich an den ach-so-souveränen Grenzen Europas reiben. Vielleicht war die Politik sich dessen nie bewusst – wirft man einen Blick auf die griechischen Inseln, liegt dieser Eindruck nahe.

Mit der Türkei hat die EU damals einen guten Deal für sich selbst gemacht, als sie einige Milliarden Euro an Erdoğan zahlte, um uns zurückzuhalten. Das hat für etwa drei oder vier Jahre funktioniert, und die Mitte- und Rechtsparteien haben darüber lange Zeit gejubelt. Jetzt aber ist es anders.

Die Art und Weise, wie die EU die wenigen Tausend Migranten behandelt, die derzeit an der polnisch-belarussischen Grenze festsitzen, wirkt wie eine sehr deutliche Drohung und Bedrohung. Als seien diese Migranten bis an die Zähne mit kulturellen Minen und ideologischen Raketen bewaffnet, die das glorreiche westliche sozioökonomische Bergmassiv erschüttern werden. Polen und Deutschland rüsten ihre Grenzen auf und überwachen sie, um nicht noch mehr von uns hereinzulassen.

Sie wollen damit einen Racheplan Putins und Lukaschenkos vereiteln. Dieser Plan besteht darin, Geflüchtete in die EU zu schleusen. Als seien die Kriege in Syrien, Irak, Jemen, Libyen, Afghanistan oder anderswo auf der Welt schon vorbei! Als gäbe es keine Gründe mehr für Massenflucht! Sie dürfen nicht vergessen, dass wir nicht verschwunden sind, nur weil Sie eine Weile nichts von uns gehört haben – unsere Verhältnisse haben sich nicht verändert.

Wenn wir nicht an euren Grenzen sterben, sterben wir anderswo unter Diktatur und Hunger. Das Problem ist: Wir werden so behandelt, als wären wir so oder so fast tot und die Hilfe, die uns angeboten wird, wird als Großzügigkeit verstanden. Das ist aber eine weitere Ebene der Entmenschlichung, die nicht einmal die Tatsache berücksichtigt, dass es sich hier in erster Linie um Menschen handelt, die vor Krieg und Ausbeutung geflohen sind, Menschen mit individuellen Motiven und Kämpfen.

Als wären wir schon fast tot

Es handelt sich also um Lebewesen, die Traumata erfahren haben und nun hier erneut bis in den Tod traumatisiert und gefoltert werden. Wir werden jetzt nicht nur als Geflüchtete behandelt, auch nicht nur als eine wirkliche Seuche, die entweder verborgen oder bekämpft werden muss, sondern als biopolitische und bioökonomische Waffe, die von außen auf Europa gerichtet ist. Dies hat schwerwiegende Folgen.

The Guardian berichtete, dass Polen den Ausnahmezustand über seine Grenzen verhängt hat, ein Grenzregime, das sich schon vollständig militarisiert hat, um unbewaffnete, unterernährte, schlaf-, wärme-, und hilflose, fast nackte Menschen von der Einreise abzuhalten. Deutschland, nach Horst Seehofer, ist völlig bereit, dabei zu sein. Es sei eine europäische Pflicht, die Grenzen aufzurüsten.

„Natürlich nicht mit Schusswaffengebrauch, aber mit den anderen Möglichkeiten, die es ja auch gibt“, sagte Seehofer. Und dann heißt es, Belarus solle aufhören, das Leben von Menschen in Gefahr zu bringen? Ist das ernst gemeint? Diejenigen, die Menschen in Not die Durchreise gewähren, bringen ihr Leben in Gefahr? Nicht diejenigen, die sie draußen sterben lassen? Auch nicht diejenigen, die sie zu geschlossenen Grenzen drängen?

Dann muss sich die EU wirklich als eine unmenschliche Institution begreifen – oder man kann das auch anders verstehen: Wer sich in einem Ausnahmezustand befindet, wird entmenschlicht—in diesem Fall, wer nicht Eu­ro­päe­r:in ist (was das auch immer bedeuten soll), ist kein Mensch und daher unwürdig. So ist es, ob es uns komplett bewusst ist oder nicht: Mit diesen Tatsachen lebt je­de*r Flüchtende.

Mbembe nannte das Nekropolitik, und dies ist eines ihrer unverblümtesten Gesichter. Die Nekropolitik ist die Ausübung der höchsten Befugnisse, über die ein souveränes Land oder eine Union verfügt. Sie bedeutet, dass Deals und Geschäfte über die Verletzlichkeit und Sterblichkeit von Menschen, die in einen Ausnahmezustand versetzt werden, gemacht werden dürfen.

Für einen geflüchteten Menschen beginnt der Ausnahmezustand oft schon in ihren Heimatländern, da der Ausnahmezustand das beste politische Mittel für eine Regierung ist, ohne Rechenschaftspflicht zu handeln und alle Arten von Gräueltaten zu begehen. In Syrien zum Beispiel bedeutet das willkürliche Verhaftung und gewaltsames Verschwindenlassen von normalen Bürgern aus ihrem Alltag.

In Polen bedeutet das eine erzwungene Rückführung von Einreisenden, ohne sie über ihr Ziel zu informieren sowie ein Blackout der Medien. Ausgenommen aus der Sphäre der Menschenrechte zu sein bedeutet, dass es keine Regierung oder offizielle Behörde gibt, die für den geflüchteten Menschen kämpft. Wenn er oder sie getötet oder ausgebeutet wird, wird diese Tötung und Misshandlung problemlos legal.

Missbrauch als biopolitische Waffe

Das hört nicht auf, wenn eine Grenze überschritten wird, es endet nicht mit einem Antrag oder einem Dach über dem Kopf. Wir bleiben darin, bis wir sterben oder eine andere Staatsangehörigkeit erhalten. Dennoch, innerhalb dieses ganzen Spektrums der Sterblichkeit, in dem wir leben, ist das, was die EU jetzt vorschlägt, die hässlichste Seite und die näheste zum vollen Tod.

Ich weiß nicht, was schlimmer ist – die Tatsache, dass wir als biopolitische und bioökonomische Waffe gegen die EU eingesetzt werden; dass die EU lieber Ressourcen spart, um uns draußen zu halten, anstatt uns als Menschen zu behandeln; oder dass wir nirgendwo anders legal hin dürfen. Das Problem ist immer vielfach. Jetzt ist es noch komplizierter geworden: Wenn man als bioökonomische Waffe benutzt wird, infiziert das den ganzen Diskurs darüber.

Der syrische Lyriker Sam Zamrik liest am Mittwoch, 17.11.2021, im Roten Salon der Volksbühne in Berlin zusammen mit Abdalrahman Alqalaq eigene Gedichte und Texte.

Ak­ti­vis­t*in­nen werden zu Verbrecher*innen, Hel­fe­r*in­nen werden zum Menschenhändler*innen, Geflüchtete herein zu lassen wird zu einem Anschlag oder einer Gefahr – einer Gefahr, für die Europa bereit zu sein scheint, in einen Krieg zu ziehen, jetzt, nachdem sie nochmal ihre souveränen Muskeln spielen lässt. Sind Sie bereit, in einen Krieg zu ziehen? Wenn nicht, erheben Sie bitte die Stimme und schreien: KEIN DRUCKMITTEL! KEINE HANDELSWARE!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist ein in Damaskus geborener Lyriker, Übersetzer und Musiker, der auf Englisch und Deutsch literarisch schreibt. Er arbeitet als Gast-Kurator für das Archiv der Flucht am Haus der Kulturen der Welt. Im Herbst 2022 erscheint seine Lyriksammlung „Sophistry of Survival“ im Hanser Berlin Verlag. Daneben ist er in der Untergrund-Musikbewegung „New Wave of Syrian Metal“ aktiv sowie Manager und Texter der Metal-Band „Eulen“.

Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.