Migration und der Zerfall Europas: Menschenrechte: egal
Hätte die EU die Verhandlungen über Migration nicht auf die lange Bank geschoben, stünde sie weniger ratlos da.
D ie Situation an der türkisch-griechischen Grenze ist eine Krise mit Vorlauf. Sie war erwartbar, aber nicht unvermeidlich. Hätte die Europäische Union die Verhandlungen über einen Plan für den Umgang mit Migration nicht auf die lange Bank geschoben, hätte sie nicht mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan ein in mehrfacher Hinsicht dubioses Abkommen geschlossen und sich so erpressbar gemacht, hätte sie nicht so viel Angst vor Rechtsextremisten innerhalb der eigenen Grenzen gehabt: Sie stünde nun weniger hilflos da.
Hätte sie doch nur. Aber sie hat nicht. Und nun ist guter Rat teuer.
Die Europäische Union versteht sich nicht als Wirtschaftsverbund, sondern als Wertegemeinschaft. Von welchen Werten ist eigentlich die Rede? Der Achtung von Menschenrechten? Dem Ziel, internationalem Recht möglichst umfassende Geltung zu verschaffen? Dem uneingeschränkten Respekt vor der Würde des Menschen?
All diese Ziele werden im Zusammenhang mit Geflüchteten seit Jahren verletzt. Um nur ein Beispiel zu nennen: die europäische Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache – laut der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ein Zusammenschluss von Milizionären, Menschenschmugglern und Menschenhändlern –, die keine andere Absicht verfolgt, als Geflüchtete von Europa fernzuhalten.
Das hat bisher, bis zu einem gewissen Grad, funktioniert. Pech für Geflüchtete, die in Libyen strandeten. Auch deshalb, weil Aufnahmen von einzelnen Booten weniger gute Fernsehbilder liefern als Tausende von Leuten, die eine Grenze stürmen wollen.
Nun aber gibt es diese Bilder. Was es nicht gibt, ist ein Plan. Was es auch nicht gibt: eine „Wertegemeinschaft“. Gut möglich, dass wir gerade die innere Auflösung der Europäischen Union besichtigen.
Das wäre das tragische Scheitern einer großen Idee. Aber nicht die Schuld der Geflüchteten. Sondern auf den Egoismus und die Feigheit derer zurückzuführen, die – glücklich und unverdient – in friedliche Staaten hineingeboren wurden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Donald Trump wählt seine Mannschaft
Das Kabinett des Grauens
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist