Lili Sommerfeld über den Nahost-Konflikt: „Lass mir nicht den Mund verbieten“
Lili Sommerfeld ist Sängerin, Chorleiterin, queerpolitisch unterwegs. Und aktiv beim Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“.
wochentaz: Frau Sommerfeld, wann waren Sie das letzte Mal auf einer Demonstration?
Lili Sommerfeld: Das war wohl Mitte Mai auf dem Hermannplatz in Berlin-Neukölln. Es war eine spontane Demo, die tatsächlich von der Polizei erlaubt wurde. Es ging um den Nakba-Tag am 15. Mai, den „Tag der Katastrophe“, womit die Palästinenser die Staatsgründung Israels aus ihrer Perspektive meinen.
Die Berliner Polizei hatte zuvor eine Demonstration zum Thema verboten.
Lili Sommerfeld wird 1987 in Berlin als einziges Kind einer Israelin und eines Deutschen geboren. Sommerfeld wuchs auf dem Land bei München auf, zwei Jahre lebte sie in Rom, besuchte dort eine Jüdische Schule, mit vier Jahren beginnt der Klavierunterricht. Nach dem Abitur 2006 studierte sie in den USA und Israel Musik sowie von 2016–18 an der Humboldt Universität in Berlin Gender Studies und Musikwissenschaften. Sommerfeld hat eine Chorleiterausbildung, bietet Fortbildungen für Chorleiter an und leitet die Chöre „Klangwerk 306“ und „The Voices of Europe“. Als Sängerin tritt sie u. a. auf Kreuzfahrten in Deutschland auf, in ihren Programmen mischt sie Pop-Hits mit eigenen Songs. (sum)
Ja, eine Demo zu dem Tag ist – wieder einmal – verboten worden. Voriges Jahr haben sie auch eine Demo von uns, dem Verein Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost am Nakba-Tag, verboten. Dieses Jahr haben wir darum bei der Aktion „They ban, we Dabke“ Dabke getanzt.
Dabke?
Ja, den palästinensischen Kreistanz. Es gab keine Plakate, es wurde nichts skandiert – einfach nur getanzt. Wir trugen die Farben rot, weiß, grün, das sind die palästinensischen Farben, manche trugen eine Kufiya, das Pali-Tuch.
Sie sind Jüdin. Wieso engagieren Sie sich für die palästinensische Sache?
Da muss ich mal ausholen. Ich hatte das große Glück, mit einer Mutter aufzuwachsen, die mir politisch ein großes Vorbild war. Meine Mutter ist gebürtig aus Eilat, das ist ganz im Süden von Israel. Ihr Vater war deutscher Jude. Sein Vater wiederum, mein Urgroßvater Rolf Julius Sommerfeld, schickte seinen Sohn, ebenfalls Rolf, zunächst 1934 mit 14 Jahren auf ein Schweizer Internat und 1937 auf ein Schiff nach Haifa. Er selbst blieb in Europa und wurde von den Nazis deportiert und umgebracht. Im selben Jahr, in dem er seinen einzigen Sohn nach Palästina schickte, ist in Jerusalem meine Oma mütterlicherseits geboren: Sie hat sich selbst als palästinensische Jüdin bezeichnet.
Wieso?
Ihre Familie war jüdisch und sehr, sehr früh aus Marokko nach Palästina eingewandert, schon Ende des 19. Jahrhunderts. Es treffen sich also diese arabische Jüdin, meine Oma, und der 18 Jahre ältere Rolf Sommerfeld, ein aschkenasischer, geflüchteter Jude, 20 Jahre später im Süden des damals noch jungen Staates Israel, heiraten sie und bekommen meine Mutter. Als sie sechs oder sieben Jahre alt ist, sind sie weg aus Israel. Sie waren in Kenia, in Tansania und dann landen sie irgendwann in Deutschland – Rolf hatte ja eine Verbindung hierhin. Leider habe ich ihn nie kennengelernt, er starb 1980 an Krebs.
Wann kamen Sie?
Ich bin 1987 in Berlin geboren, aber nach der Trennung meiner Eltern, als ich ein Baby war, sind wir nach Bayern gezogen und ich bin mit meiner Mutter und Oma aufgewachsen. Sie waren die prägenden Personen.
Wie war es als Jüdin in Bayern?
Ich habe im Landkreis Ebersberg bei München gewohnt. Mein einziger Kontakt mit Juden kam so zustande, als ich mit einem jüdischen Mädchen aus meiner Parallelklasse ein Jahr lang zur jüdischen Gemeinde nach München gefahren bin zum Religionsunterricht. Ich wollte das ausprobieren, aber weil ich nie gläubig war, verlor ich schnell das Interesse. Trotzdem habe ich schon früh gespürt, so mit 14 oder 15, dass von mir erwartet wird, dass ich eine ganz bestimmte Haltung zum Staat Israel habe.
Als Teenagerin begann Lili Sommerfeld sich mit dem Israel-Palästina-Konflikt zu beschäftigen, verarbeitete ihre Gedanken und Erfahrungen in ihren Songs, schrieb darüber auf Facebook. Politischen Aktivismus begann sie im Queer-Bereich mit der „Ehe für Alle“-Kampagne 2015/16. Heute moderiert sie CSDs, tritt dort auch als Künstlerin auf. Zudem ist sie aktiv im Vorstand der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“. Der Verein, dem laut Satzung nur Jüdinnen und Juden angehören können, setzt sich für den Abzug Israels aus den besetzten Gebieten und die Gleichberechtigung aller Bürger*innen Israels ein. 2011 schloss sich der Verein dem palästinensischen Boykott-Auftruf gegen israelische Waren (BDS) an; das brachte ihm viel Kritik ein. Dem Verein wurde 2019 „für unermüdliches Engagement, eine gerechte Friedenslösung zwischen zwei souveränen Nachbarstaaten, zwischen Israelis und PalästinenserInnen, anstreben und erreichen zu können“, der Göttinger Friedenspreis verliehen. In Berlin wurde im vorigen Jahr eine Demo des Vereins von der Polizei verboten. Dagegen hat die Jüdische Stimme Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht. (sum)
Wer erwartete das?
Die Gesellschaft. Das war ein sehr diffuses Gefühl. Ich bin aufgewachsen mit einem sehr starken Gefühl von othering – so nenne ich es heute. Damals kannte ich den Begriff nicht.
Sie gehörten nicht dazu?
Ja. Ich habe keinerlei Antisemitismus erfahren – nie. Niemand hat mich je spüren lassen, ich sei schlechter, blöder, weniger wert, weil ich Jüdin bin. Was ich gefühlt habe: Du bist ganz anders als wir, das ist spannend und sehr, sehr schön. Ich habe ganz viel, gerade von Eltern von Freunden von mir, das Gefühl vermittelt bekommen, wie toll sie es finden, dass ihr Kind mit einer Jüdin befreundet ist. Und spätestens beim zweiten Treffen hat man über den Holocaust geredet.
Und Israel?
Israel war für mich als Kind und Jugendliche in erster Linie das Land, wo ich relativ regelmäßig meine erweiterte Familie besucht habe. Meine Mutter hat zwar keine Geschwister, aber meine Oma hat einige, und die haben wieder Kinder, die haben wieder Kinder, die dann meine Generation waren. Und natürlich habe ich „den Konflikt“ dort, so habe ich es damals noch genannt, mitbekommen. Und jetzt kommt meine Mutter ins Spiel.
Wie das?
Meine Mutter war und ist politisch links und hat mir beigebracht, dass Menschenrechte das allerwichtigste sind. Gleichzeitig bekam ich zum arabisch-israelischen Konflikt in Deutschland aus den Nachrichten, von meinen Freundinnen, deren Eltern und den Lehrern und so weiter immer nur Floskeln zu hören: Israel ist von Feinden umzingelt, die Juden werden immer angegriffen und haben das Recht, sich zu verteidigen, es ist die einzige Demokratie im Nahen Osten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Stimmt das etwa nicht?
Es ist einseitig! In Deutschland sieht man immer nur die jüdisch-israelische Perspektive – und plappert entsprechend die ganze Propaganda nach.
Wo haben Sie die palästinensische Seite mitbekommen?
Zwischen 14 und 21 habe ich mit etwas angefangen, dass ich heute gerne als Falafel-Aktivismus bezeichne. Also Aktivismus auf der Ebene: Wir essen gerne Falafel, ihr esst gerne Falafel, lasst uns zusammen Falafel essen. Ich dachte: Es gibt auf der kulturellen und menschlichen Ebene so viele Gemeinsamkeiten zwischen Arabern und Juden, es gibt ja ein gemeinsames Leben! Und die einzigen, die keinen Frieden wollen, sind die korrupten Politiker da oben. Das war ein paar Jahre mein Stand.
Und heute?
2006 habe ich Abitur gemacht, 2007 ist meine Mutter mit meiner jüngeren Schwester und meinem Stiefvater nach Tel Aviv gezogen. Das war ihr Kindheitstraum. Aber sie sind nach 2 Jahren wieder zurückgekommen.
Warum?
Damals gab es die Gaza-Offensive „Gegossenes Blei“ zwischen Dezember 2008 und Januar 2009. Es war ein Krieg mit über 2.000 Toten, schrecklich. Ich war kurz vorher drei Monate in Tel Aviv, in der Zeit ist mit meiner Mutter eine Veränderung vorgegangen – und mit mir auch. Ich fing an, mich auf einem anderen Niveau mit diesem Thema zu beschäftigen. Seitdem nenne ich es nicht mehr „Konflikt“, weil das suggeriert, dass da zwei Parteien miteinander streiten, die mehr oder weniger auf Augenhöhe sind.
Aber hat Israel nicht das Recht, sich zu verteidigen, wenn die Hamas mit Raketen aus Gaza schießt? Die Hamas will Israel vernichten, wie es in ihrer Gründungscharta heißt. Wie soll da Frieden möglich sein?
Selbstverständlich darf Israel sich verteidigen und selbstverständlich lehne ich die Gewalt der Hamas ab und verurteile sie regelmäßig. Aber warum gelingt es uns nicht, auch diese Gewalt als Reaktion auf etwas zu betrachten? Die Nakba ist kein Ereignis aus dem Jahr 1948, sie ist ein bis heute kontinuierlicher Prozess aus systematischer Vertreibung und Vernichtung von palästinensischem Leben, die von einer Regierung mit enormer militärischer Macht vollzogen wird. Natürlich regt sich dagegen Widerstand, auch wenn man die Methode verurteilen mag. Aber jetzt komme ich zurück zu mir.
Gerne.
Dieser Gaza-Krieg war ein Weckruf für mich und meine Mutter, sie hielt es nicht mehr aus, in diesem Land zu leben. Als sie zurückkamen, hat sie einen traurigen Witz gemacht: Die gute Nachricht ist, es gibt eine ganz tolle Friedensbewegung in Israel, sehr engagierte, kluge Leute. Die schlechte Nachricht: Nach zwei Jahren kenne ich sie alle!
Weil sie so klein ist?
Ja, klar! Die Leute sind nun in der dritten Generation an diesen „Zustand“ gewöhnt, er wird von den meisten Israelis als notwendiges Übel wahrgenommen. Es gibt auch jetzt innerhalb der großen Anti-Netanyahu-Bewegung nur wenige, die das System der „jewish supremacy“ hinterfragen. Denn die zionistische Idee ist unser täglich Brot, Frühstück, Abendessen – du nimmst sie auf mit der Muttermilch. Es geht um das ganze Geflecht der jüdischen Vorherrschaft zwischen Mittelmeer und Jordan, von der Belagerung und regelmäßigen Bombardierung von Gaza, zur Besatzung des Westjordanland, zur Annexion Ost-Jerusalems bis hin zur Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen Juden und Palästinenser*innen innerhalb der „Grenzen von 1967“.
Bitte zurück zu Ihnen. Wie kamen Sie zum Verein Jüdische Stimme?
Da muss ich nochmal ausholen. 2014 war wieder Gaza-Krieg und ich war in Jerusalem, um ein Musikvideo für meinen Song „Jerusalem“ zu drehen. Zum ersten Mal habe ich selber Raketenbeschuss erlebt, was eine krasse Erfahrung ist – auch wenn wir uns sicher fühlen konnten, weil Israel ja das Raketenabwehrsystem Iron Dome hat. Zur selben Zeit war Fußball-Weltmeisterschaft und wir haben das Finale am Strand von Tel Aviv gefeiert. Dort sah man regelmäßig die Militärflugzeuge Richtung Süden nach Gaza fliegen – und ein paar Leute am Strand haben geklatscht. Diese Gleichzeitigkeit – wir feiern hier, dort fallen Bomben – hat mir das Herz zerrissen. Als ich zurück kam nach Berlin, hatte ich einen Burn-out.
Wegen Israel?
Auf vielen Ebenen. Ich konnte keine Songs mehr dazu singen, denn für wen sollten die sein? Ich wollte meine eigene jüdisch-israelische Familie wachrütteln: Könnt ihr mal gucken, was mit dieser Gesellschaft passiert? Man hat euch so viel Angst eingeflößt über Generationen: dass ihr von Feinden umzingelt seid, dass mit diesen Arabern kein Frieden möglich ist. Diese Angst ist nicht produktiv, jemand muss den Hebel umlegen, und die einzigen Menschen, die wirklich Zugang zu einem Hebel haben, seid ihr, die Israelis! Aber nun dachte ich, sie zu überzeugen, ist vergeblich.
Was haben Sie getan?
Ich habe mich von dem Thema verabschiedet. Nachrichtenstopp. So nach neun Monaten habe ich aber wieder Hummeln im Hintern bekommen – einfach weil ich eine Aktivistin war und bin. Ich hab dann, weil ich frisch verliebt war, den Hashtag #Ehefüralle ins Leben gerufen. Das Schlagwort „Ehe für alle“ stammt von mir.
Echt?
Ja! Ich kannte mich nicht wirklich aus in der queer-aktivistischen Welt. Ich war einfach selber relativ frisch out und es hat mich aufgeregt, wie viele Unterschiede zwischen Ehe und „Lebenspartnerschaft“ es gab. Wussten Sie, dass die „Homo-Ehe“ bei 150 Rechten benachteiligt war?
Ehrlich gesagt, nein.
Da dachte ich, ich muss das in die Hand nehmen und habe mir den Namen „Ehe für alle“ überlegt – nach dem französischen Vorbild „mariage pour tous“. Ich habe das ins Internet gepustet, eine Facebook-Seite erstellt, Handyvideo gemacht und so weiter. Dann kam der Volksentscheid in Irland, wo die Ehe für alle per direkter Bürgerabstimmung Realität wurde. Auf einmal haben sich auch wieder deutsche Medien für das Thema interessiert – und da war ich mit meinem Hashtag die richtige Ansprechpartnerin. Sechs Wochen später hatten wir das größte LGBTQ-Bündnis in der Geschichte von Deutschland und ich habe mich gemeldet, um diese Kampagne zu koordinieren. Damals habe ich Aktivismus gelernt und wie es ist, gemeinsam für eine politische Sache zu kämpfen. Aber bald bin ich wieder ausgestiegen.
Warum?
Die Sache war auf einem guten Weg, andere konnten das fortführen – und 2017 wurde die Ehe für alle Gesetz. Ich wollte noch mal studieren und eine Chorleiterausbildung machen, seit 2009 leite ich nämlich einen Chor. Um 2016/17 war ich auch wieder bereit, mich mit dem Thema Nahost zu beschäftigen. Es hat mich nicht in Ruhe gelassen, dass die Regierungen in Israel immer behaupten, eine Politik im Namen aller Juden der Welt zu betreiben. Dagegen habe ich so einen inneren Widerstand, weil ich absolut nicht möchte, dass diese Politik in meinem Namen geschieht. Aber es ist nicht einfach, hier in Deutschland kritisch gegenüber Israel zu sein.
Wie meinen Sie das?
Meine Mutter, die auch Musikerin ist, hat wegen ihres Engagements schon diverse Auftritts- und Konzertverbote bekommen, weil sie als BDS-Unterstützerin gilt. Mir ist das auch einmal passiert.
Sie meinen die palästinensische Kampagne „Boykott Desinvestitionen und Sanktionen“, die 2019 vom Bundestag als antisemitisch verurteilt wurde. Wie stehen Sie zu BDS?
Ich persönlich erlaube mir, israelische Produkte als Konsumentin zu boykottieren, genauso wie ich mich bemühe, kein Fleisch aus Massentierhaltung zu kaufen. Und was Divestment und Sanctions angeht: Staaten, die Menschenrechte verletzen und Völkerrechte missachten, sollten keine U-Boote von Deutschland geschenkt bekommen. Die BDS-Kampagne ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich differenziert von Antisemitismus abgrenzt und drei konkrete und legitime Ziele mit dezidiert gewaltfreien Mitteln verfolgt. Dass wegen BDS erst meiner Mutter und dann mir deswegen Auftritte untersagt wurden, war ein Schock.
Hat Sie das überrascht?
Man muss sich das vorstellen, mit meiner Familiengeschichte! In dieser Gesellschaft, die sich damit rühmt, dass hier Platz ist auch und besonders für Juden! Weil wir ja der Beweis dafür sind, dass sich die Deutschen geläutert haben! Aber wenn ich sage: „Nein, Netanjahu, deine Politik ist nicht in meinem Namen!“ – dann verbieten mir die Deutschen aufzutreten.
Ihnen wurde Antisemitismus vorgeworfen?
Nicht direkt. Das würde schlecht aussehen, wenn nicht jüdische Deutsche einer Jüdin sagen, du bist Antisemitin. Aber man kann ja heute einfach „BDS-Nähe“ sagen, das ist gleichbedeutend, und trotzdem was anderes.
Haben Sie überlegt, weniger laut zu sein, um Ihrer Musikerinnenkarriere nicht zu schaden?
Nee, aber ich war mehrfach an einem Punkt, wo ich mir überlegt habe, Deutschland zu verlassen. Ich lasse mir nicht den Mund verbieten, weder als Sängerin noch als Aktivistin! Aber ich liebe das Leben in Berlin sehr! Fürs erste wird Deutschland also meine Komplexität aushalten müssen. Natürlich lebe ich in ständiger Gefahr, dass meine Auftraggeber*innen und Kolleg*innen mich nicht mehr als Sängerin oder Moderatorin buchen, weil ihnen nicht passt, wie ich mich politisch engagiere. Das wird immer wieder vorkommen. Ich hoffe einfach darauf, dass es sich nicht durchsetzen können wird, dass immer wieder Deutsche mit Täterhintergrund einer Jüdin ihr Recht auf eine eigenen politischen Kopf absprechen können und sich stattdessen mit meinen Argumenten auseinandersetzen, anstatt mit stumpfen Vereinfachungen. Ich lebe in vielen Welten, der politischen Nahost-Bubble, dem queerpolitischen Berlin, der Musikindustrie – und natürlich der Chorszene.
Was ist Letztere für eine Welt?
Ich habe wie gesagt einen Popchor, der heißt „Klangwerk 306“. Wir sind sehr erfolgreich, nach Zuschauerzahlen der erfolgreichste Popchor Berlins. Dann habe ich noch einen Chor: „The Voices of Europe“.
Was macht der?
Das ist ein Chor des Vereins „Tu was für Europa“, ein ganz toller Verein, gegründet unter anderem von Martin Schulz von der SPD. Er wurde kurz nach dem Brexit gegründet für Leute, die sagen, die europäische Idee ist eine gute, wir wollen sie verbessern, wir wollen europäische Bande schaffen. Dafür haben sie unter anderem diesen Chor geschaffen – und mir die Leitung angeboten. Ich habe die 25 Sänger ausgesucht …
… aus ganz Europa?
Nein, aus ganz Deutschland. Die meisten haben irgendeinen europäischen Migrationshintergrund, wir haben bestimmt 15 Muttersprachen im Chor und singen auf 12 europäischen Sprachen. Neben den Chören bin ich auch tätig als Vocal Coach für Chöre.
Was ist mit Ihrer Gesangskarriere?
Eigentlich mache ich seit 2014 nur noch ganz selten meine eigene Musik.
Warum? Sie hatten damals den Berlin Song Contest gewonnen.
Ja, das sah zunächst aus wie mein Durchbruch. Es gab Interviews mit allen Zeitungen, viele Auftritte – aber alles ist nahezu im Nichts verpufft. Die PR-Agentur hat quasi nichts für mich getan. Das alles war sehr frustrierend. Ich habe gemerkt: Je näher ich der Musikindustrie kam, dieser Popwelt, wo ich immer hin wollte, desto ätzender fand ich es da.
Wieso?
Weil die zwei Sachen, die mir wirklich wichtig sind, dort völlig irrelevant sind. Erstens die Inhalte, also das, worüber ich singe und was ich zu sagen habe, zweitens meine Fähigkeiten als Musikerin. Wichtig ist vor allem: Was für Produkte kann ich mit dir verkaufen, bist du gerade trendy? Und das war ich nicht. Also habe ich mich im Sommer 2014 nach dem Contest, meinem Krisensommer mit erneutem Gaza-Krieg und Burn-out, davon abgewandt. Ich habe mich für Jahre von der Bühne zurückgezogen.
Und heute?
Ich trete wieder sehr gerne auf, liebe es auf der Bühne zu stehen. Ich singe die Songs meiner Heldinnen und Vorbilder von Aretha Franklin über Freddy Mercury bis Lady Gaga. Ich streue in meine Shows auch eigene Songs ein. Aber ansonsten mache ich kaum noch eigene Musik. Denn ich habe bisher keinen Weg gefunden, wie ich meine eigene Musik mit meinen Botschaften auf die Bühne bringen kann, ohne mich oder andere auszubeuten. Die Musikindustrie ist eine Industrie – und wie alles andere den Regeln des Kapitalismus unterworfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit