Lehrstuhl vor dem Aus: Verdrängung der Psychoanalyse

In Frankfurt ist einer der letzten psychoanalytischen Lehrstühle in Gefahr. Dabei könnte er helfen, die Corona-Protestbewegung zu verstehen.

Behandlungscouch von Sigmund Freud im Freud Museum London

Symbol der Psychoanalyse: Die Behandlungscouch von Analyse-Begründer Sigmund Freud Foto: Freud Museum London

Besorgte Bürger heften sich gelbe Sterne an die Kleidung, auf denen „ungeimpft“ steht. Sie versammeln sich auf öffentlichen Plätzen und schwadronieren davon, Bill Gates wolle ihnen Mi­krochips einpflanzen, Corona sei eine Erfindung der Medien und die Maßnahmen dagegen der geheime Plan einer globalen Verschwörung.

Wenn sich das Verhalten dieser Menschen nicht mehr rational erklären lässt, sie ihren Interessen und der Vernunft zuwiderhandeln, dann kommt die Psychoanalyse ins Spiel. Mit ihr lässt sich solches Verhalten auf Motive befragen, die den Menschen selbst verborgen sind.

So notwendig das Vokabular der Psychoanalyse aber ist, um Gesellschaft zu verstehen, so prekär ist ihr Status an deutschen Universitäten. Die akademische Psychologie hat die Psychoanalyse erfolgreich entsorgt. Während die Disziplin in anderen Fachbereichen wie Kulturwissenschaften, Soziologie, Erziehungswissenschaften und Soziale Arbeit nach wie vor gelehrt wird, spielt sie in der Ausbildung von Psychologiestudierenden außerhalb teurer Privat­unis keine nennenswerte Rolle.

Und jetzt wird an der Frankfurter Goethe Universität offenbar versucht, einen der letzten beiden der 61 deutschen Lehrstühle für klinische Psychologie, der psychoanalytisch besetzt ist, abzusägen. Eine „Studentische Interesseninitiative Psychoanalyse der Goethe Universität“ beklagt, dass die Professur nach ihren Informationen verfahrensoffen ausgeschrieben werden soll. Sie haben Mitte April eine Online-Petition gestartet. Über 7.800 Personen haben für den Erhalt des psychoanalytischen Lehrstuhls unterschrieben.

Reparieren statt analysieren

Bei einer verfahrensoffenen Ausschreibung hätten Be­wer­be­r*in­nen mit mehr Publikationen und mehr Drittmitteln bessere Aussichten. Strukturell würde das Psy­cho­ana­ly­ti­ke­r*in­nen benachteiligen, weil es für ihre aufwändigen Verfahren weniger Forschungsgelder und Zeitschriften gibt. Auf Nachfrage der taz, ob die Professur tatsächlich verfahrensoffen ausgeschrieben werde und somit eine psychoanalytische Professur nicht garantiert sei, antwortete die derzeitige Dekanin Prof. Dr. Sonja Rohrmann, dass sie zur Ausschreibung „zum jetzigen Zeitpunkt keine Auskunft geben“ könne.

Das Ende der psychoanalytischen Ausrichtung würde Studierenden die Möglichkeit nehmen, ein krankenkasslich anerkanntes Therapieverfahren kennenzulernen. Auch auf das gesellschaftstheoretische Potenzial der Psychoanalyse würde fahrlässig verzichtet. Die Entscheidung hätte über die Frankfurter Lehrpläne hinaus Signalwirkung, was die gesellschaftliche Akzeptanz des psychoanalytischen Zugangs zu sozialen Phänomenen angeht.

Der Lehrstuhl für Psychoanalyse in Frankfurt hat eine traditionsreiche Geschichte. Erstmals besetzt wurde er 1966 mit Alexander Mitscherlich, der die Psychoanalyse nicht nur als klinische Behandlungspraxis weiterentwickelte, sondern auch für die Sozialpsychologie nutzbar machte. Ein Jahr später veröffentlichte er zusammen mit Margarete Mitscherlich-Nielsen „Die Unfähigkeit zu trauern“, einen Schlüsseltext der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

Die Mitscherlichs bemerkten in der denkwürdigen Indifferenz der Deutschen gegenüber den eigenen Verbrechen ein Klammern an das idealisierte Objekt der Volksgemeinschaft, von dem sie sich nie gelöst hatten, das – psychoanalytisch gesprochen – nie betrauert wurde. Nachfolge­r*in­nen wie Herman Argelander und Christa Rhode-Dachser setzten diese Linie fort und trugen dazu bei, dass Frankfurt zu einem der lebendigsten Orte psychoanalytischer Theoriebildung wurde.

Unter dem gegenwärtigen Lehrstuhlinhaber Tilmann Habermas wurde die Psychoanalyse in das Institut für Psychologie eingegliedert und führte dort dann ein Nischendasein. Umgeben war sie von Pro­fes­so­r*in­nen verfeindeter Theorietraditionen, die wegen angeblicher Antiquiertheit der Psychoanalyse deren wissenschaftliche Legitimität anzweifelten. Das Misstrauen hat Tradition.

Der Verhaltenstherapie ist es gelungen, mit ihrem Versprechen auf schnelle Symptomreduktion, vereinheitlichten Behandlungsplänen und kostengünstigeren Ausbildungen mehr Professuren zu besetzen, mehr Drittmittel einzuwerben und so die Psychoanalyse aus den Universitäten zu verdrängen. Sie verträgt sich besser mit dem Kapitalinteresse, den Ausfall von Arbeitskräften kostengünstig zu minimieren. Anstatt über Jahre hinweg Lebens- und Familiengeschichten mit unklarem Ausgang aufzuarbeiten, setzt sie an der Störung an, versucht sie sinngemäß zu reparieren.

Theorie geht über Bord

Die Eigenständigkeit der Psychoanalyse wurde zwar auch am psychologischen Institut nicht gänzlich aufgegeben, doch hinterließ die positivistische Verwertbarkeitslogik der Psychologie ihre Spuren. Die Ausrichtung konzentrierte sich zunehmend auf das therapeutische Setting, das im Gegensatz zur psychoanalytischen Sozialpsychologie auf gesellschaftlichen Rückhalt durch die Krankenkassen vertrauen kann.

Doch das scheint den Geg­ne­r*in­nen der Psychoanalyse nicht zu genügen, die selbst immer wieder Versatzstücke der Psychoanalyse für die eigene Praxis nutzen, während sie die Theorie über Bord werfen. In Frankfurt will man die Emeritierung von Habermas zum nächsten Sommersemester nun offenbar nutzen, um die unliebsame Konkurrenz, die institutionell längst besiegt ist, endgültig loszuwerden.

Seit der Bundestag 2019 beschlossen hat, die Psychotherapieausbildung teilweise ins Studium zu verlagern, ist die Präsenz der Psychoanalyse dabei an den Hochschulen dringlicher geworden, weil Studierende kaum noch eine andere Chance haben, die Vielfalt an Ausbildungsmöglichkeiten kennenzulernen. Der Lehrstuhl in Frankfurt war hier eine der letzten Bastionen. Zahlreiche psychoanalytisch interessierte Studierende zog es aus anderen Städten hierher. Anstatt Diagnosemanuale auswendig zu lernen, wurden hier Gesprächsführungsseminare angeboten, die einen Eindruck vermittelten, was es bedeutet, jemandem zuzuhören, gemeinsam Konflikte herauszuarbeiten, derer man sich vorher nicht bewusst war.

Wer sich mit den gesellschaftlichen Implikationen der Psychoanalyse beschäftigen wollte, musste zwar schon länger in anderen Fachbereichen wildern. Die Möglichkeiten dafür wurden am Institut für Psychologie wegen der Verengung auf die Behandlungspraxis nicht ausgeschöpft. Das bedeutet aber nicht, dass die anstehende Nachbesetzung gesellschaftstheoretische Fragen ausklammern muss.

Denn das Verständnis des Subjekts und das der Gesellschaft gehören in der Psychoanalyse zusammen. Publikationen wie der von Kathrin Henkelmann und Kol­le­g*in­nen herausgegebene Sammelband „Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des Autoritären Charakters“ (2020, Verbrecher Verlag) oder die Leipziger Autoritarismus-Studie von Elmar Brähler und Oliver Decker (2020, Psychosozial-Verlag) belegen, dass psychoanalytisches Vokabular für die heutige Sozialforschung wichtig ist.

Narzisstische Kränkung der „Querdenker*innen“

Auch Freud erkundete die Anwendung psychoanalytischer Einsichten auf gesellschaftliche Konstellationen. 1926 mutmaßte er, die Zukunft werde „wahrscheinlich urteilen, dass die Bedeutung der Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten ihre therapeutische Bedeutung weit übertrifft“.

Eine Haltung, die er 1933 in seinen „Neuen Vorlesungen zur Psychoanalyse“ bekräftigte: „Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt, über das was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen.“

Wie gegenwärtig der Bedarf ist, zeigen die sogenannten Querdenker*innen. Ihr Verschwörungsglaube lässt sich psychoanalytisch als Umgang mit Angst interpretieren. Unaushaltbare Unsicherheiten in der Pandemie werden im Verschwörungsglauben aufgelöst, die Welt vereindeutigt und die Aggression gegen die vermeintlichen Verschwörer pathisch projiziert, sodass die Wut zur Notwehr verklärt werden kann. Die narzisstische Kränkung, der Gesellschaft mit ihren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wie auch der Krankheit ausgeliefert zu sein, wird so bewältigt durch die Errichtung eines fantastischen Größenselbst, das über alles Bescheid weiß.

Statt aber die politische Unfähigkeit zu attackieren, der gesamten Bevölkerung einen hinreichenden Schutz vor dem Virus zu gewähren, rebellieren die „Quer­den­ke­r*in­nen“ konformistisch. Sie schlagen los im Einklang mit den kapitalistischen Verhältnissen, gegen diejenigen, die schwächer sind, bei denen die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Krankheitsverlauf höher ist.

Diese Abgründe zu ergründen könnte Aufgabe eines psychoanalytischen Lehrstuhls innerhalb der Psychologie sein. Größen wie Mitscherlich haben vorgemacht, wie das „Junktim von Heilen und Forschen“ das Verständnis der Gesellschaft bereichern kann, ohne ihr plump zeitdiagnostische Etikette wie „narzisstische Kultur“ zu verpassen. Es bleibt zu hoffen, dass die Studierenden in Frankfurt sich durchsetzen können, eine geeignete Nachfolgerin für den Lehrstuhl zu finden.

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studierte in Frankfurt u. a. Psychologie, ist Mitarbeiter der Bildungsstätte Anne Frank und Mitherausgeber der Zeitschriften „Freie Assoziation“ und „Psychologie & Gesellschaftskritik“.

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