Le Pens Klientel: Die Wut von Franzosen
Europa hat für die sich öffnende Schere von Arm und Reich keine Lösungen. Statt Wohnungspreise zu regulieren, hält die EU Spekulanten die Tür auf.
E s gibt keine Entwarnung für Europa. Ja, Macron hat Le Pen besiegt. Die Bilder von seinem Sieg erleichterten viele Europäer, seine hohlen Versprechungen lassen viele jubeln. Er verspricht, Präsident aller zu werden. Na dann. Ich verstehe das tiefe Bedürfnis nach Entwarnung. Es gibt zu viele Krisen derzeit. Man wünscht sich Ruhe an irgendeiner Front. Doch die Krise Europas ist mit der Wahl Macrons nicht vorbei. Im Gegenteil: Er könnte sie weiter befördern, wenn sich an seiner Politik nichts ändert.
Noch besser als die Erleichterung über Macron verstehe ich die Wut jener französischen Wählerinnen, die für Le Pen stimmten. Ja, sie ist Rassistin, doch ihre Strategie, den überforderten Bürgerinnen und Bürgern die Welt wieder kleinzuschrumpfen, ist intellektuell leider gut nachzuvollziehen und strategisch klug. Würde die Linke die Flanke, über die Le Pen kommt, schließen, hätte sie kein so leichtes Spiel.
Warum fragen so viele aus ihren Jugendstilwohnungen heraus empört: Wie kann man nur Le Pen wählen, wo man doch Macron wählen kann? Und mit Macron unser heiliges Europa! Sollte man nicht besser umgekehrt fragen: Wie kann man Macrons innenpolitischem Kurs gegenüber so unkritisch sein, wenn man seine Politik beobachtet? Woher die blinde Liebe zur EU? Arbeitnehmer haben es in Macrons Frankreich schwerer als zuvor. Geringverdienern wurde das Wohngeld gekürzt.
Die Mittelschicht darf mehr Steuern bezahlen, während die Vermögensteuer abgeschafft wurde, weil es ja Kapitalflucht gab. Weite Teile der Politik haben vor den Superreichen kapituliert. Die Bürger lassen sich nun im rechten Kümmerermodus einfangen. Das Problem wird sich nicht lösen, solange die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Ohne eine stabile Mittelschicht wird es keine stabilen Demokratien geben. Ohne eine wirklich soziale Marktwirtschaft wird es keinen sozialen Frieden geben.
ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“, erschien 2019.
Perverser Reichtum
Die Spaltung der Gesellschaft entsteht dadurch, dass die Superreichen sich für steuerlich unantastbar halten, während die Normalverdiener die Hauptlast der gesellschaftlichen Infrastruktur der Demokratien tragen. Der perverse Reichtum eines Elon Musk etwa, der mal eben 40 Milliarden Dollar lockermacht, um Twitter zu kaufen. Wie reich dürfen Einzelunternehmer sein? Reich an Geld und reich an Bürgerdaten? Reguliert das noch jemand?
Viele haben den Eindruck, dass den Superreichen und ihren Geldflüssen politisch nicht mehr beizukommen ist. Linke haben früher die Globalisierung kritisiert, heute müssen sie – aus guten Gründen – den offenen Handel verteidigen, weil er zu der Offenheit offener Gesellschaften gehört. Doch die offene Gesellschaft ist für viele zum Synonym für das ungeschützte Individuum geworden. Schützende Regulation fehlt. Viele haben ein Bedürfnis nach der Verzwergung der Welt, um ihrer Probleme wieder Herr zu werden. Le Pen spielte mit diesen Bedürfnissen.
Es braucht mehr politische Verantwortungsträger, die globale Verteilungsfragen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen. Das Autopatriarchat eines Henry Ford war zwar schlecht, aber immerhin noch egoistisch fürsorglich. Das Megalomaniat, das Bezos, Musk und ihresgleichen verkörpern, kennt nicht einmal mehr egoistische Fürsorge. Humankapital ist ja zur Genüge vorhanden, um es abzunutzen.
Marine Le Pen droht mit dem Frexit und erhält trotzdem 42 Prozent, so die Empörung. Statt Wahlvolkbeschimpfung zu betreiben, sollten Analytiker fragen, weshalb jeder zweite Franzose die EU opfern würde? Würde die EU sich anders positionieren, etwa bei der Regulation von Immobilienmärkten, wüssten Europäerinnen, wofür sie gut ist. Stattdessen verlangt die EU etwa von EU-Beitrittsländern Liberalisierung, ohne Rücksicht auf die Kaufkraft der Einheimischen zu nehmen, wie etwa in Kroatien zu beobachten ist.
Wahlvolkbeschimpfung nützt nichts
Kanadas Staatschef Justin Trudeau will den Anstieg der Immobilienpreise stoppen, indem er Ausländern den Kauf von Häusern verbietet. Illiberal? Ich erinnere mich an einen Aufenthalt in Toronto, wo ich bei einer Sekretärin wohnte, die sich einst im Stadtzentrum ein Haus leisten konnte. Unvorstellbar für die heutige Zeit. Reiche Spekulanten aus China, Russland oder den Arabischen Emiraten kaufen den knappen Wohnraum der Städte als Geldinvestition auf.
Kanada zeigt, wie sich die turbokapitalistischen Auswüchse der letzten Jahrzehnte rückgängig machen ließen, damit die Bürgerinnen wieder ein Gefühl von Kontrolle über ihr Leben und ihr Land erhalten. Die EU reguliert in Sachen Immobilienmärkte nicht genug, sie macht es rücksichtslosen Investoren leicht. Auch so entstehen „antieuropäische“ Ressentiments. Auch so entsteht der Eindruck, Nationalismus sei etwas für die Bürger der Nation und nicht gegen andere.
Der Demokratieverdruss wird nicht durch Wahlvolkbeschimpfung verschwinden. Es reicht nicht mehr zu sagen: Ihr bösen Wählerinnen würdet eine antieuropäische Rassistin an die Macht bringen! Es haben doch viele Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ gelesen, weshalb verstehen sie die Wütenden noch immer nicht? Als hätte wirklich kaum jemand Zugang zum Prekariat und als würden viele nur zu gerne die Augen davor verschließen, dass sie selbst prekären Lebensverhältnissen immer näher kommen.
In Frankreich leben 20 Prozent an der Armutsgrenze. Davon über 2 Millionen Kinder. Schon 2018 ermittelte die Hilfsorganisation Secours populaire (Volkshilfe) in einer Umfrage, dass jeder fünfte Franzose nicht genug Geld für Lebensmittel hat. Jeder Vierte gab an, nicht genug Geld für Obst und Gemüse zur Verfügung zu haben. Rund 40 Prozent können sich den Jahresurlaub nicht leisten. Vierzig Prozent!
Wer jetzt die Teuerung der Lebenshaltungskosten der letzten Monate hinzuzählt, bekommt eine realistische Vorstellung davon, wie manche Menschen sich durch ihren Alltag kämpfen. Wie sollen sie da noch rufen: Vive l’Europe?
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