Kultusministerien verzweifeln an TikTok: Komplett lost
Ein Aufruf zu einem „Tag der Vergewaltigung“ machte auf TikTok die Runde. Die Berliner Bildungssenatorin warnte Schulen. Gut, dass die EU mehr kann.
E iner der sich wohl wirklich um die psychischen Auswirkungen von Tiktok sorgt, der dem Suchtpotential, das der Social-Media-Plattform nachgesagt wird, entgegenwirkt: Olaf Scholz. Seine Tiktoks sind trocken und langweilig, egal ob er gerade seine Aktentasche zeigt oder in China eine Schraube versenkt (wirklich!). Danke, Olaf! Die Plattform ist schon problematisch genug ohne einen plötzlich charmanten Social-Media-Kanzler. Das hat auch die EU-Kommission erkannt, also die Problematik für die Psyche.
Am Montag hat sie bekanntgegeben, dass sie ein Verfahren gegen Tiktok eingeleitet hat. Nicht wegen möglicher Datenabflüsse Richtung chinesische Regierung, die die USA gerade zu einem Ultimatum für Tiktok veranlasst haben. Sondern um zu klären, ob die App Tiktok Lite gegen EU-Regeln verstößt, indem sie die psychische Gesundheit von Minderjährigen gefährdet.
Das ergibt Sinn, denn in dieser App, die bisher innerhalb der EU nur in Frankreich und Spanien auf dem Markt ist, bekommen User*innen, wenn sie Aufgaben erfüllen, digitale Coins, die sie gegen Gutscheine für echte Geschäfte eintauschen können. Dieser Mechanismus könnte junge Menschen noch mehr an Tiktok binden.
Tiktoks Sogwirkung ist durch seine Schnelligkeit, Emotionalität und ständige Verfügbarkeit groß genug auch ohne ein Coin-System. Seit Jahren schon sprechen Eltern, Politiker*innen, Pädagog*innen immer wieder von Social-Media-Sucht. In manchen Fällen sicherlich zu Recht. Diese Fälle könnten jetzt womöglich steigen.
Gereizt, ängstlich oder antriebslos
Der Jugend geht es nicht gut. Das zeigt die repräsentative Studie Jugend in Deutschland, die diese Woche veröffentlicht wurde. 2.000 Menschen zwischen 14 und 29 Jahre wurden dafür befragt. Mehr als die Hälfte gab an, unter Stress zu stehen. Mehr als ein Drittel berichtet von Erschöpfung und Antriebslosigkeit. 17 Prozent fühlen sich hilflos. Junge Frauen mehr als junge Männer. Nahezu alle nutzen fleißig ihr Smartphone, auch schon ohne den monetären Anreiz von Tiktok Lite.
Diejenigen, die ihr Handy mehr als vier Stunden pro Tag nutzen, geben häufiger an, gereizt, ängstlich oder antriebslos zu sein. Das bedeutet nicht automatisch, dass Social Media sie in diesen psychischen Zustand versetzt. Vielleicht nutzen sie wegen ihres Zustands nur öfter das Smartphone.
Ein momentan besonders problematisches Social-Media-Phänomen ist die abscheuliche Lüge vom „International Rape Day“. Seit mindestens 2021 behaupten einzelne Personen immer wieder, am 24. April würden Männer Frauen vergewaltigen dürfen. Tiktok ist aktiv geworden, hat den Suchbegriff „National Rape Day“ geblockt. Als Ergebnis kommt eine Weiterleitung zu Hilfsangeboten. Aber man kann ja auch „Rap“ statt „Rape“ schreiben. Oder einfach nur „April24“ suchen. Menschen umgehen technologische Hürden. Es braucht also etwas anderes.
Deswegen sind Schulen und Kultusministerien verzweifelt. Am Dienstag warnte die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) in einem Brief an die Schulen vor Falschinformationen. Einige Schulleitungen schrieben wiederum den Eltern.
Mehr psychologische Betreuung und Medienbildung
Die Schulleitung einer weiterführenden Schule in Berlin bat die Eltern sogar, auf ihre „Töchter zu achten“. Nachrichten dieser Art gibt es auch von vielen anderen Schulen. Das Bildungssystem ist überfordert von Desinformation, sexualisierter Gewalt und den digitalen Medien. Schon seit Jahren.
Es ist gut, dass die EU sich den Digital Services Act (DSA) gebaut hat, mit dessen Hilfe sie Tiktok konfrontieren kann. Der DSA verbietet es Konzernen, sogenannte Dark Patterns einzusetzen, die Nutzer*innen manipulieren. Und er verpflichtet sie, Risikomanagements einzurichten.
Deswegen konnte die EU-Kommission am Montag eine Antwort zur neuen App Tiktok Lite von dem Unternehmen verlangen. Und die Plattform hat sie innerhalb der Frist geliefert, weil sie sonst Strafzahlungen leisten müsste. Diese muss Brüssel jetzt überprüfen.
Was es ansonsten noch braucht: mehr psychologische Betreuung für Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene. Mehr Medienbildung für Minderjährige und Erwachsene. Und eine klare Absage an jede sexualisierte Gewalt.
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