Kritik an Richterentscheid in Hessen: Homofeindlichkeit? Kein Asylgrund
Ein Frankfurter Richter weist die Klage eines schwulen Algeriers auf Asyl ab. Der Mann solle zurückkehren und ein „unauffälliges“ Leben führen.
Der 34-jährige Algerier lebt seit drei Jahren in Frankfurt am Main und absolviert hier eine Ausbildung zum Elektriker. „Homosexualität ist in Algerien lebensgefährlich“, gab Sedjerani vor Gericht zu Protokoll, er sei deshalb „abgehauen“.
In einem ersten Verfahren in diesem Rechtsstreit hatte derselbe Richter ihm bereits im März 2020 empfohlen, sein Leben als Homosexueller in Algerien „unauffällig“ zu organisieren. „Ich werde mich nicht wieder verstecken“, hatte der junge Mann dem Richter widersprochen, der erneut über sein Schicksal zu entscheiden hatte.
Doch der zeigt sich auch in seinem neuen Urteil davon unbeeindruckt. „Der Verzicht auf Umarmungen und Küsse in der Öffentlichkeit (bewegen) sich unterhalb dessen, was flüchtlingsrechtlich relevant ist“, heißt es in dem aktuellen Urteil; schließlich sei in Algerien „die öffentliche Zurschaustellung von Zuneigungen auch unter heterosexuellen Paaren unüblich und verpönt.“
Nebenbei ist der Richter auch Kirchenvorstand
Der Schwulen- und Lesbenverband LSVD äußerte sich über Urteil und Begründung „entsetzt“, Das Frankfurter Gericht ignoriere die höchstrichterliche Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts, sagte LSVB-Sprecher Patrick Dörr der taz. Der Verband fordert jetzt Bundesinnenministerin Nancy Faeser, SPD, auf, umgehend dafür zu sorgen, dass „wie im Koalitionsvertrag vereinbart“, die Verfolgungswahrscheinlichkeit bei queeren Personen erneut überprüft wird. Das Vorgehen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das in diesem Fall auf Überprüfung der Asylgründe abgelehnt hatte, nannte Dörr „unwürdig“.
Verwaltungsrichter Gegenwart – der Mittsechziger amtiert in seinem Privatleben auch als Kirchenvorstand in Offenbach – ist für seine hohe Ablehnungsquote in Asylverfahren bekannt. Die Bedrohung Homosexueller ist für ihn eher kein Asylgrund. Ein „real risk“ für Sedjerani in Algerien will er nicht erkennen, obwohl Homosexualität dort strafbar ist und verfolgt wird. Eine Anklage riskiere man nur dann, wenn „zu dem homosexuellen Verhalten sich ein zusätzliches Merkmal gesellt“, so der Urteilstext.
Mit dieser Begründung tut der Richter auch aktuelle Zeitungsartikel ab, in denen über die Verfolgung und Inhaftierung von Besuchern einer Hochzeitsfeier eines homosexuellen Paares in Algerien berichtet wird. Es handle sich hier um einen „besonders spektakulären Fall“, formuliert der Richter. Das Feiern einer homosexuellen Hochzeit wäre „eine Form des offenen Auslebens seiner Homosexualität, die der Kläger selbst für sich nicht in Anspruch nimmt“, unterstellt Richter Gegenwart, der den Kläger in der mündlichen Verhandlung dazu nicht befragt hatte.
Auch dass Sedjerani sich auf CSD-Bühnen und in zahlreichen TV-Beiträgen offen als homosexuell geoutet und dabei die Verfolgung von queeren Menschen in Algerien kritisiert hatte, lässt der Richter nicht gelten. Algerier verfügten „nur in Ausnahmefällen“ über deutsche Sprachkenntnisse; die Strafverfolgungsbehörden dort interessierten sich nicht „für den bloßen Umstand der Homosexualität“ und dass „homophobe Islamisten“ Lust hätten, „ältere deutsche TV-Sendungen auf der Suche nach algerischen Homosexuellen zu scrollen“, sei unwahrscheinlich, formuliert der Richter.
Eigentlich sei die Sache klar, kritisiert der LSVD, „Abdelkarim lebt in Deutschland vollkommen geoutet und äußert sich sogar im Fernsehen und auf CSD-Bühnen kritisch zur Lage queerer Menschen in seinem Herkunftsland. Dort sind schwule Männer, die offen leben, einem so großen Verfolgungsrisiko ausgesetzt, dass sie in Deutschland einen Schutzstatus erhalten müssen“, so LSVD-Sprecher Dörr zur taz.
Innerhalb eines Monats kann Sedjani nun Berufung gegen das Urteil einlegen. Darüber müsste dann der Hessische Verwaltungsgerichtshof entscheiden. „Das ist eine sehr hohe Hürde“, erklärte der taz Sedjerani's Rechtsanwalt Jonathan Leuschner.
Aktualisiert am 24.08.2022 um 15:20. Der Kläger absolviert inzwischen keine Ausbildung zum Pfleger mehr, wie es im Text fälschlich hieß, sondern erlernt den Beruf des Elektrikers. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen. d. R.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge