Kommentar Neue Brexit-Szenarien: Keine Abkehr vom Austritt
Der Brexit wird kommen. Die EU muss daher ihre Arroganz ablegen und gemeinsam mit den Briten eine mehrheitsfähige Lösung finden.
V ier Wochen vor dem 29. März, an dem nach geltender Gesetzeslage Großbritannien die EU verlassen wird, gerät die britische Politik in Bewegung. Abgeordnete sortieren sich neu, Premierministerin Theresa May stellt eine Parlamentsabstimmung über eine Verschiebung des Austrittsdatums in Aussicht, Oppositionsführer Jeremy Corbyn will ein zweites Referendum unterstützen. Das alles ist keineswegs eine Abkehr vom Brexit, wie manche Kommentatoren es vorschnell darstellen – aber es ist gut, dass die wesentlichen Akteure jetzt jedes denkbare Szenario auf den Tisch legen.
Denn wenn die Dinge so chaotisch weitertreiben wie in den vergangenen Wochen, erleidet Europa in einem Monat Schiffbruch. Großbritannien will mit der EU den bestehenden Brexit-Vertragsentwurf so neuverhandeln, dass er eine parlamentarische Mehrheit in London findet – eine demokratische Selbstverständlichkeit. Die EU sagt, das sei nicht möglich – eine glatte Lüge.
Unterhalb dieser Ebene finden natürlich trotzdem Gespräche statt, aber es wird darüber nicht offen gesprochen – ein politischer Fehler. Ohne eine Ratifizierung des Brexit-Abkommens in London gibt es zwar einen Brexit, aber kein Abkommen – eine vermeidbare Komplikation. Ein No-Deal-Brexit wird als Katastrophe dargestellt, während sich beide Seiten längst darauf eingestellt haben – ein kommunikatives Desaster. Am Ende steht dann ein völlig unnötiges Ausmaß an gegenseitigem Misstrauen, das Europa dauerhaft schwächt.
Drei Szenarien stehen im Raum: eine Einigung, ein Brexit ohne Abkommen – oder eine Verschiebung, um weiterzuverhandeln. Es ist gut, dass May dafür jetzt einen klaren logischen Rahmen setzt. Der Ausgang aller Voten ist völlig offen. Wenn die europäische Seite an einer gütlichen Einigung interessiert ist, muss sie jetzt mit den Briten etwas ausarbeiten, das mehrheitsfähig ist.
Gerade unter bedingungslosen EU-Fans in Deutschland wird immer noch gern die bornierte Haltung gepflegt, wonach der Brexit eigentlich Quatsch sei, und jede Nachricht aus London wird durch das Raster gepresst, ob die Insulaner endlich vernünftig werden und bleiben. Aber das ist nicht nur arrogant, es führt auch komplett in die Irre. Den Brexit einfach zu kippen wäre für die britische Regierung ganz einfach.
Aber es wäre auch politischer Selbstmord, und daher steht das nicht zur Debatte. Es geht jetzt darum, einen schwierigen Prozess mit vielen Unbekannten so in den Griff zu bekommen, dass er nicht einen ganzen Kontinent ins Chaos stürzt. Für diese Weitsicht verdient die britische Politik, für die man in Brüssel derzeit vor allem Herablassung übrig hat, Anerkennung und Unterstützung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte